BAG: Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten bei Überstundenzuschlägen

06.12.2024

Eine tarifvertragliche Regelung, die unabhängig von der individuellen Arbeitszeit für Über stundenzuschläge das Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftig ten voraussetzt, behandelt teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer wegen der Teilzeit schlechter als vergleichbare Vollzeitbeschäftigte. Sie verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter (§ 4 Abs. 1 TzBfG), wenn die in ihr liegende Ungleichbehandlung nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist. Fehlen solche sachlichen Gründe, liegt regelmäßig zugleich eine gegen Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 7 Abs. 1 AGG) verstoßende mittelbare Benachteiligung wegen des (weiblichen) Geschlechts vor, wenn innerhalb der betroffenen Gruppe der Teilzeitbeschäftigten erheblich mehr Frauen als Männer vertreten sind.

Der Beklagte ist ein ambulanter Dialyseanbieter mit mehr als 5.000 Arbeitnehmern. Die Klä gerin ist bei ihm als Pflegekraft in Teilzeit im Umfang von 40 vH eines Vollzeitbeschäftigten tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme der zwi schen dem Beklagten und der Gewerkschaft ver.di geschlossene Manteltarifvertrag (MTV) Anwendung. Nach § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV sind mit einem Zuschlag von 30 vH zuschlagspflich tig Überstunden, die über die monatliche Arbeitszeit eines vollzeitbeschäftigten Arbeitneh mers hinaus geleistet werden und im jeweiligen Kalendermonat nicht durch Freizeitgewäh rung ausgeglichen werden können. Alternativ zu einer Auszahlung des Zuschlags ist eine ent sprechende Zeitgutschrift im Arbeitszeitkonto vorgesehen. Das Arbeitszeitkonto der Kläge rin wies Ende März 2018 ein Arbeitszeitguthaben von 129 Stunden und 24 Minuten aus. Der Beklagte hat der Klägerin für diese Zeiten in Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV weder Überstundenzuschläge gezahlt, noch im Arbeitszeitkonto eine Zeitgutschrift vorgenommen.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin verlangt, ihrem Arbeitszeitkonto als Überstundenzuschläge weitere 38 Stunden und 39 Minuten gutzuschreiben und die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG in Höhe eines Vierteljahresverdienstes begehrt. Die Anwendung von § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV benachteilige sie wegen ihrer Teilzeit unzulässig gegenüber vergleich baren Vollzeitbeschäftigten. Zugleich werde sie wegen ihres Geschlechts mittelbar benach teiligt, denn der Beklagte beschäftige überwiegend Frauen in Teilzeit.

Das Arbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift zuerkannt und hinsichtlich der begehrten Entschädi gung die Klageabweisung bestätigt. Mit Beschluss vom 28. Oktober 2021 (- 8 AZR 370/20 (A) - BAGE 176, 117) hatte der Senat das Revisionsverfahren ausgesetzt und den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um die Beantwortung von Rechtsfragen betreffend die Ausle gung des Unionsrechts ersucht. Dies hat der EuGH mit Urteil vom 29. Juli 2024 (- C-184/22 und C-185/22 [KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation eV]) getan.

Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Der Senat hat der Klägerin die verlangte Zeitgutschrift - in Übereinstimmung mit dem Landesarbeitsgericht - zugesprochen und ihr darüber hinaus eine Entschädigung iHv. 250,00 Euro zuerkannt. Auf der Grundlage der Vorgaben des EuGH hatte der Senat davon auszugehen, dass § 10 Ziff. 7 Satz 2 MTV insoweit wegen Verstoßes gegen das Verbot der Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten unwirksam ist, als er bei Teilzeitbeschäftigung keine der Teilzeitquote entsprechende anteilige Absenkung der Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags vorsieht. Einen sachlichen Grund für diese Ungleichbehandlung konnte der Senat nicht erkennen. Die sich aus dem Verstoß gegen § 4 Abs. 1 TzBfG ergebende Unwirksamkeit der tarifvertraglichen Überstundenzuschlagsregelung führt zu einem An spruch der Klägerin auf die eingeklagte weitere Zeitgutschrift. Daneben war ihr eine Entschä digung nach § 15 Abs. 2 AGG zuzuerkennen. Durch die Anwendung der tarifvertraglichen Re gelung hat die Klägerin auch eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts erfah ren. In der Gruppe der beim Beklagten in Teilzeit Beschäftigten, die dem persönlichen An wendungsbereich des MTV unterfallen, sind zu mehr als 90 vH Frauen vertreten. Als Entschä digung war ein Betrag iHv. 250,00 Euro festzusetzen. Dieser ist erforderlich, aber auch ausrei chend, um einerseits den der Klägerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung ent standenen immateriellen Schaden auszugleichen und andererseits gegenüber dem Beklag ten die gebotene abschreckende Wirkung zu entfalten.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 5. Dezember 2024 - 8 AZR 370/20 - Vorinstanz: Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2019 - 5 Sa 436/19

-Hinweis: Der Achte Senat hat am heutigen Tag auch die weitgehend parallel gelagerte Rechtssache - 8 AZR 372/20 - entschieden und der dortigen Klägerin ebenfalls die verlangte Zeitgutschrift und eine Entschädigung iHv. 250,00 Euro zugesprochen.

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