BMJ: Überlange Prozesse - Mehr Rechtsschutz mit Entschädigungslösung
Zu dem heute vom Bundeskabinett beschlossenen Gesetzentwurf über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren erklärt Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:
Der heute beschlossene Gesetzentwurf bietet mehr Rechtsschutz bei überlangen Prozessen. Immer wieder dauern einzelne Gerichtsverfahren zu lange, auch wenn Deutschland bei der Prozessdauer insgesamt gut dasteht. Jeder überlange Prozess belastet die Betroffenen, persönlich und finanziell.
Jeder hat Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz in angemessener Zeit. Seit vielen Jahren verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) von Deutschland bessere Rechtsbehelfe bei überlangen Verfahren. Bei vier von fünf Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR geht es um überlange Verfahren. Endlich werden die Versprechen des Grundgesetzes und der Menschenrechtskonvention eingelöst. Die Entschädigungslösung gibt den Betroffenen ein wirksames Mittel, um sich gegen unangemessen lange Prozesse zu wehren.
Die Reaktionen der Länder und Verbände haben gezeigt: An der Notwendigkeit der gesetzlichen Regelung wird nicht gezweifelt. Die Entschädigungslösung bietet effektiven Rechtsschutz und vermeidet unnötige Mehrbelastungen für die Justiz. Betroffene müssen immer erst im Ausgangsverfahren auf die Verzögerung hinweisen und so Abhilfe ermöglichen. Besonders freut mich, dass auch die Richterschaft den eingeschlagenen Weg begrüßt und die Initiative nicht mehr als Ausdruck generellen Misstrauens empfindet.
Zum Hintergrund:
Bei überlangen Gerichtsverfahren gibt es bisher im deutschen Recht keine speziellen Rechtsschutzmöglichkeiten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangt seit langem die Beseitigung dieser Rechtsschutzlücke. Insgesamt betreffen seit 2007 über 80 % aller Verurteilungen Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überlange Gerichtsverfahren. Aber auch das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte haben mehrfach den Stellenwert des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer bekräftigt.
Der Entwurf sieht einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat vor, wenn Verfahren unangemessen lange dauern. Ein betroffener Bürger kann künftig eine Entschädigungsklage gegen den Staat erheben und Ersatz für die Nachteile verlangen, die durch die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer entstanden sind. Zuvor muss er aber das Gericht, das nach seiner Ansicht zu langsam arbeitet, mit einer Rüge auf die Verzögerung hingewiesen haben. Dies gibt den Richtern die Möglichkeit, bei berechtigter Kritik Abhilfe zu schaffen.
Damit kombiniert der Entwurf den neuartigen Entschädigungsanspruch mit dem präventiven Element der Verzögerungsrüge, die bereits das Entstehen von überlangen Verfahren verhindern soll. Die Regelung ist so ausgestaltet, dass für die Justiz in Deutschland keine unnötigen Mehrbelastungen entstehen, weil man sonst bei einer Gesamtbetrachtung dem Rechtsschutz der Bürger mehr schaden als nützen würde. So kann eine Verzögerungsrüge erst nach einer Wartefrist von sechs Monaten wiederholt werden, damit Gerichte nicht durch "Kettenrügen" belastet werden und ein Richter ausreichend Zeit hat, auf die Rüge wirksam zu reagieren. Aus dem gleichen Grund kann im Anschluss an eine Verzögerungsrüge auch frühestens nach sechs Monaten Klage beim Entschädigungsgericht eingelegt werden.
Über den neuen Anspruch soll jeweils in der Gerichtsbarkeit entschieden werden, in der das verzögerte Verfahren geführt wurde. Geht es beispielsweise um eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer vor dem Sozialgericht, entscheidet das Landessozialgericht über die Entschädigung. So wird sichergestellt, dass die Vertrautheit der unterschiedlichen Gerichtsbarkeiten mit den jeweils besonderen Verfahrensabläufen und Beteiligten auch bei der Entscheidung über eine Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer zur Geltung kommt.
Der heute vom Bundeskabinett beschlossene Regierungsentwurf wird jetzt dem Deutschen Bundestag zur Beratung zugeleitet.
Pressestelle
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