Bundesgerichtshof entscheidet über Ersetzung unwirksamer Klauseln in den Allgemeinen Bedingungen der kapitalbildenden Lebensversicherung im Treuhänderverfahren nach § 172 VVG
Bundesgerichtshof
Der Bundesgerichtshof (BGH) erklärte durch zwei Urteile vom 9. Mai 2001
(BGHZ 147, 354 und 373) auf eine Verbandsklage des Bundes der Versicherten
Klauseln in Allgemeinen Bedingungen für die kapitalbildende
Lebensversicherung wegen Ver-stoßes gegen das Transparenzgebot für
unwirksam. Es handelte sich um Klauseln über die Berechnung der
beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufs-werts, die Verrechnung
von Abschlusskosten und einen Stornoabzug. Der BGH sah die im
Transparenzmangel liegende unangemessene Benachteiligung darin, dass den
Versicherungsnehmern die mit der Beitragsfreistellung und der Kündigung
ins-besondere in den ersten Jahren verbundenen erheblichen wirtschaftlichen
Nachteile nicht deutlich gemacht werden. Sie liegen darin, dass wegen der
zunächst vollen Verrechnung der Sparanteile der Prämien mit den im
Wesentlichen aus der Vermitt-lungsprovision bestehenden einmaligen
Abschlusskosten ("Zillmerung") in den ers-ten Jahren keine oder allenfalls
geringe Beträge zur Bildung einer beitragsfreien Ver-sicherungssumme oder
eines Rückkaufswerts vorhanden sind.
Die von den Urteilen unmittelbar betroffenen Lebensversicherer ersetzten die
für unwirksam erklärten Klauseln mit Zustimmung eines Treuhänders nach § 172
Abs. 2 i.V. mit Abs. 1 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) durch
inhaltsgleiche, ihrer Meinung nach nunmehr transparent formulierte Klauseln.
§ 172 VVG wurde im Zuge der europarechtlich gebotenen Deregulierung des
Versicherungsmarkts im Jahre 1994 in das Versicherungsvertragsgesetz
eingefügt. Andere Lebensversicherungs-unternehmen, deren Allgemeine
Bedingungen gleichartige Klauseln enthielten, gin-gen ebenso vor. Insgesamt
dürften davon 10 bis 15 Millionen Verträge betroffen sein, die zwischen Ende
Juli 1994 und Mitte 2001 abgeschlossen worden sind.
Zahlreiche Versicherungsnehmer haben die Urteile vom 9. Mai 2001 zum Anlass
genommen, ihre Lebensversicherung zu kündigen und im Wege der Stufenklage
den Rückkaufswert ohne Verrechnung mit Abschlusskosten und ohne Stornoabzug
gel-tend zu machen. Sie sind unter anderem der Ansicht, das Verfahren der
Klauseler-setzung nach § 172 VVG sei nur auf reine Risikoversicherungen
gemäß § 172 Abs. 1 VVG anwendbar, nicht jedoch auf die kapitalbildende
Lebensversicherung. Jedenfalls komme eine Klauselersetzung bei bereits
gekündigten Verträgen nicht mehr in Betracht. Keinesfalls sei es zulässig,
eine wegen Intransparenz für unwirk-sam erklärte Klausel durch eine
inhaltsgleiche zu ersetzen. Diese Fragen sind in Li-teratur und
Rechtsprechung umstritten.
Der Bundesgerichtshof hat über die Revision gegen drei landgerichtliche
Berufungs-urteile entschieden. Das Landgericht Hannover (VersR 2003, 1289)
hat den beklag-ten Versicherer verurteilt, dem Versicherungsnehmer über die
Höhe des Rückkaufs-werts ohne Berücksichtigung von Abschlusskosten und ohne
Stornoabzug Auskunft zu erteilen. Das Landgericht Aachen (VersR 2003, 1022)
hat die Klage der Versiche-rungsnehmerin abgewiesen. Das Landgericht
Hildesheim hat den beklagten Versi-cherer verurteilt, der
Versicherungsnehmerin Auskunft über die Höhe des Rück-kaufswerts ohne
Berücksichtigung von Abschlusskosten zu erteilen. Seiner Ansicht nach ist es
interessengerecht, die Abschlusskosten wie bei der "Riester-Rente" auf einen
längeren Zeitraum zu verteilen (nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AltZertG in der
bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung mindestens 10 Jahre; so schon
diesel-be Kammer des Landgerichts Hildesheim in einem anderen Urteil, VersR
2003, 1290). Die Landgerichte haben die Revision zugelassen.
Der Bundesgerichtshof hat die Urteile der Landgerichte aufgehoben und wie
folgt entschieden:
1.
§ 172 Abs. 2 VVG ist auch auf die kapitalbildende Lebensversicherung
anwendbar und nicht nur auf die Risikoversicherungen im Sinne von § 172 Abs.
1 VVG. Das Gesetz gibt den Lebensversicherungsunternehmen das Recht, bei
allen Arten der Lebensversicherung ohne Zustimmung der Versicherungsnehmer
unwirksame Be-stimmungen in den Versicherungsbedingungen mit Zustimmung
eines unabhängigen Treuhänders durch neue Bestimmungen zu ersetzen, wenn zur
Fortführung des Ver-trages dessen Ergänzung notwendig ist. Die damit
verbundene Einschränkung der durch das Grundgesetz gewährleisteten
Vertragsfreiheit der Versicherungsnehmer ist nicht verfassungswidrig. Sie
ist im Interesse der Rechtssicherheit und der nach § 11 Abs. 2 des
Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) gebotenen Gleichbehand-lung aller
Versicherungsnehmer sachlich notwendig.
2.
Die verfassungsrechtlich geschützten Interessen derjenigen, die von der
gesetzli-chen Einschränkung der Vertragsfreiheit betroffen sind, müssen
jedoch hinreichend gewahrt werden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist
dies dadurch sichergestellt, dass die neuen Klauseln sowohl im
Individualprozess als auch im Verbandsprozess der uneingeschränkten
richterlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Materiell ist dem
Schutzbedürfnis der Versicherungsnehmer durch eine die Voraussetzungen und
Wirkungen des § 172 Abs. 2 VVG präzisierende und einschränkende Auslegung
Rechnung zu tragen.
Die Ergänzung ist im Sinne von § 172 Abs. 2 VVG zur Fortführung des
Vertrages notwendig, wenn durch die Unwirksamkeit der Bestimmung in den
Versicherungsbe-dingungen eine Regelungslücke im Vertrag entsteht. Das ist
der Fall, wenn die Un-wirksamkeit die Leistungspflichten der Parteien
betrifft. Da die Unwirksamkeit einer Klausel dazu führt, dass der Vertrag
von Anfang an lückenhaft war, wirkt die lücken-füllende Vertragsergänzung
auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zurück. § 172 Abs. 2 VVG erfasst
deshalb auch gekündigte und beitragsfrei gestellte Verträ-ge.
3.
Die von den beklagten Versicherungsunternehmen mit Zustimmung eines
Treuhän-ders vorgenommene Ersetzung der unwirksamen Klauseln durch (ihrer
Meinung nach) transparent formulierte inhaltsgleiche Bestimmungen ist
unwirksam.
a)
Für die unwirksame Vereinbarung von Abzügen bei Beitragsfreistellung und
Kündi-gung (Stornoabzug) gibt es eine Regelung im Gesetz. Nach §§ 174 Abs.
4, 176 Abs. 4 VVG ist der Versicherer zu einem Abzug nur berechtigt, wenn er
vereinbart ist. Ist die Vereinbarung wie hier unwirksam, besteht kein
Anspruch auf einen Abzug.
b)
Die inhaltsgleiche Ersetzung der unwirksamen Klauseln über die Berechnung
der beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswerts bei Kündigung
und über die Verrechnung der Abschlusskosten unterläuft die gesetzliche
Sanktion der Unwirksamkeit nach § 9 Abs. 1 AGBG, jetzt § 307 Abs. 1 BGB und
ist schon deshalb mit den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung
nicht zu vereinbaren. Bei inhaltsgleicher Ersetzung blieben der Verstoß
gegen das Transparenzgebot folgen-los und die wegen Intransparenz
unwirksamen Klauseln mit den verdeckten Nachtei-len bei Kündigung und
Beitragsfreistellung für den Versicherungsnehmer letztlich doch verbindlich.
4.
Da die Vertragsergänzung nach § 172 Abs. 2 VVG gescheitert ist, hatte der
Senat im Wege der richterlichen ergänzenden Vertragsauslegung zu
entscheiden, ob und auf welche Art die einmaligen Abschlusskosten mit den
Beiträgen zu verrechnen sind. Die danach vorzunehmende Interessenabwägung
führt zu folgendem Ergebnis: Bei vorzeitiger Beendigung der Beitragszahlung
bleibt jedenfalls die versprochene Leis-tung geschuldet; der vereinbarte
Betrag der beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswerts darf
aber einen Mindestbetrag nicht unterschreiten. Dieser Min-destbetrag wird
bestimmt durch die Hälfte des mit den Rechnungsgrundlagen der
Prämienkalkulation berechneten ungezillmerten Deckungskapitals. Bereits
erworbe-ne Ansprüche aus einer vereinbarten Überschussbeteiligung werden
dadurch nicht erhöht.
Urteile vom 12. Oktober 2005
IV ZR 162/03 - Amtsgericht Hannover Entscheidung vom 12.11.2002 - 525 C
5344/02 ./. Landgericht Hannover Entscheidung vom 12.6.2003 - 19 S 108/02
IV ZR 177/03 - Amtsgericht Düren Entscheidung vom 30.10.2002 - 45 C 214/02
./. Landgericht Aachen Entscheidung vom 10.7.2003 - 2 S 367/02
IV ZR 245/03 -Amtsgericht Hildesheim Entscheidung vom 28.4.2003 - 49 C
123/02 ./. Landgericht Hildesheim Entscheidung vom 16.10.2003 - 1 S 54/03
Karlsruhe, den 12. Oktober 2005
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