Bundesgerichtshof entscheidet über Ersetzung unwirksamer Klauseln in den Allgemeinen Bedingungen der kapitalbildenden Lebensversicherung im Treuhänderverfahren nach § 172 VVG

17.10.2005

Bundesgerichtshof

Der Bundesgerichtshof (BGH) erklärte durch zwei Urteile vom 9. Mai 2001

(BGHZ 147, 354 und 373) auf eine Verbandsklage des Bundes der Versicherten

Klauseln in Allgemeinen Bedingungen für die kapitalbildende

Lebensversicherung wegen Ver-stoßes gegen das Transparenzgebot für

unwirksam. Es handelte sich um Klauseln über die Berechnung der

beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufs-werts, die Verrechnung

von Abschlusskosten und einen Stornoabzug. Der BGH sah die im

Transparenzmangel liegende unangemessene Benachteiligung darin, dass den

Versicherungsnehmern die mit der Beitragsfreistellung und der Kündigung

ins-besondere in den ersten Jahren verbundenen erheblichen wirtschaftlichen

Nachteile nicht deutlich gemacht werden. Sie liegen darin, dass wegen der

zunächst vollen Verrechnung der Sparanteile der Prämien mit den im

Wesentlichen aus der Vermitt-lungsprovision bestehenden einmaligen

Abschlusskosten ("Zillmerung") in den ers-ten Jahren keine oder allenfalls

geringe Beträge zur Bildung einer beitragsfreien Ver-sicherungssumme oder

eines Rückkaufswerts vorhanden sind.

Die von den Urteilen unmittelbar betroffenen Lebensversicherer ersetzten die

für unwirksam erklärten Klauseln mit Zustimmung eines Treuhänders nach § 172

Abs. 2 i.V. mit Abs. 1 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) durch

inhaltsgleiche, ihrer Meinung nach nunmehr transparent formulierte Klauseln.

§ 172 VVG wurde im Zuge der europarechtlich gebotenen Deregulierung des

Versicherungsmarkts im Jahre 1994 in das Versicherungsvertragsgesetz

eingefügt. Andere Lebensversicherungs-unternehmen, deren Allgemeine

Bedingungen gleichartige Klauseln enthielten, gin-gen ebenso vor. Insgesamt

dürften davon 10 bis 15 Millionen Verträge betroffen sein, die zwischen Ende

Juli 1994 und Mitte 2001 abgeschlossen worden sind.

Zahlreiche Versicherungsnehmer haben die Urteile vom 9. Mai 2001 zum Anlass

genommen, ihre Lebensversicherung zu kündigen und im Wege der Stufenklage

den Rückkaufswert ohne Verrechnung mit Abschlusskosten und ohne Stornoabzug

gel-tend zu machen. Sie sind unter anderem der Ansicht, das Verfahren der

Klauseler-setzung nach § 172 VVG sei nur auf reine Risikoversicherungen

gemäß § 172 Abs. 1 VVG anwendbar, nicht jedoch auf die kapitalbildende

Lebensversicherung. Jedenfalls komme eine Klauselersetzung bei bereits

gekündigten Verträgen nicht mehr in Betracht. Keinesfalls sei es zulässig,

eine wegen Intransparenz für unwirk-sam erklärte Klausel durch eine

inhaltsgleiche zu ersetzen. Diese Fragen sind in Li-teratur und

Rechtsprechung umstritten.

Der Bundesgerichtshof hat über die Revision gegen drei landgerichtliche

Berufungs-urteile entschieden. Das Landgericht Hannover (VersR 2003, 1289)

hat den beklag-ten Versicherer verurteilt, dem Versicherungsnehmer über die

Höhe des Rückkaufs-werts ohne Berücksichtigung von Abschlusskosten und ohne

Stornoabzug Auskunft zu erteilen. Das Landgericht Aachen (VersR 2003, 1022)

hat die Klage der Versiche-rungsnehmerin abgewiesen. Das Landgericht

Hildesheim hat den beklagten Versi-cherer verurteilt, der

Versicherungsnehmerin Auskunft über die Höhe des Rück-kaufswerts ohne

Berücksichtigung von Abschlusskosten zu erteilen. Seiner Ansicht nach ist es

interessengerecht, die Abschlusskosten wie bei der "Riester-Rente" auf einen

längeren Zeitraum zu verteilen (nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 AltZertG in der

bis zum 31. Dezember 2004 geltenden Fassung mindestens 10 Jahre; so schon

diesel-be Kammer des Landgerichts Hildesheim in einem anderen Urteil, VersR

2003, 1290). Die Landgerichte haben die Revision zugelassen.

Der Bundesgerichtshof hat die Urteile der Landgerichte aufgehoben und wie

folgt entschieden:

1.

§ 172 Abs. 2 VVG ist auch auf die kapitalbildende Lebensversicherung

anwendbar und nicht nur auf die Risikoversicherungen im Sinne von § 172 Abs.

1 VVG. Das Gesetz gibt den Lebensversicherungsunternehmen das Recht, bei

allen Arten der Lebensversicherung ohne Zustimmung der Versicherungsnehmer

unwirksame Be-stimmungen in den Versicherungsbedingungen mit Zustimmung

eines unabhängigen Treuhänders durch neue Bestimmungen zu ersetzen, wenn zur

Fortführung des Ver-trages dessen Ergänzung notwendig ist. Die damit

verbundene Einschränkung der durch das Grundgesetz gewährleisteten

Vertragsfreiheit der Versicherungsnehmer ist nicht verfassungswidrig. Sie

ist im Interesse der Rechtssicherheit und der nach § 11 Abs. 2 des

Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) gebotenen Gleichbehand-lung aller

Versicherungsnehmer sachlich notwendig.

2.

Die verfassungsrechtlich geschützten Interessen derjenigen, die von der

gesetzli-chen Einschränkung der Vertragsfreiheit betroffen sind, müssen

jedoch hinreichend gewahrt werden. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist

dies dadurch sichergestellt, dass die neuen Klauseln sowohl im

Individualprozess als auch im Verbandsprozess der uneingeschränkten

richterlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Materiell ist dem

Schutzbedürfnis der Versicherungsnehmer durch eine die Voraussetzungen und

Wirkungen des § 172 Abs. 2 VVG präzisierende und einschränkende Auslegung

Rechnung zu tragen.

Die Ergänzung ist im Sinne von § 172 Abs. 2 VVG zur Fortführung des

Vertrages notwendig, wenn durch die Unwirksamkeit der Bestimmung in den

Versicherungsbe-dingungen eine Regelungslücke im Vertrag entsteht. Das ist

der Fall, wenn die Un-wirksamkeit die Leistungspflichten der Parteien

betrifft. Da die Unwirksamkeit einer Klausel dazu führt, dass der Vertrag

von Anfang an lückenhaft war, wirkt die lücken-füllende Vertragsergänzung

auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zurück. § 172 Abs. 2 VVG erfasst

deshalb auch gekündigte und beitragsfrei gestellte Verträ-ge.

3.

Die von den beklagten Versicherungsunternehmen mit Zustimmung eines

Treuhän-ders vorgenommene Ersetzung der unwirksamen Klauseln durch (ihrer

Meinung nach) transparent formulierte inhaltsgleiche Bestimmungen ist

unwirksam.

a)

Für die unwirksame Vereinbarung von Abzügen bei Beitragsfreistellung und

Kündi-gung (Stornoabzug) gibt es eine Regelung im Gesetz. Nach §§ 174 Abs.

4, 176 Abs. 4 VVG ist der Versicherer zu einem Abzug nur berechtigt, wenn er

vereinbart ist. Ist die Vereinbarung wie hier unwirksam, besteht kein

Anspruch auf einen Abzug.

b)

Die inhaltsgleiche Ersetzung der unwirksamen Klauseln über die Berechnung

der beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswerts bei Kündigung

und über die Verrechnung der Abschlusskosten unterläuft die gesetzliche

Sanktion der Unwirksamkeit nach § 9 Abs. 1 AGBG, jetzt § 307 Abs. 1 BGB und

ist schon deshalb mit den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung

nicht zu vereinbaren. Bei inhaltsgleicher Ersetzung blieben der Verstoß

gegen das Transparenzgebot folgen-los und die wegen Intransparenz

unwirksamen Klauseln mit den verdeckten Nachtei-len bei Kündigung und

Beitragsfreistellung für den Versicherungsnehmer letztlich doch verbindlich.

4.

Da die Vertragsergänzung nach § 172 Abs. 2 VVG gescheitert ist, hatte der

Senat im Wege der richterlichen ergänzenden Vertragsauslegung zu

entscheiden, ob und auf welche Art die einmaligen Abschlusskosten mit den

Beiträgen zu verrechnen sind. Die danach vorzunehmende Interessenabwägung

führt zu folgendem Ergebnis: Bei vorzeitiger Beendigung der Beitragszahlung

bleibt jedenfalls die versprochene Leis-tung geschuldet; der vereinbarte

Betrag der beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswerts darf

aber einen Mindestbetrag nicht unterschreiten. Dieser Min-destbetrag wird

bestimmt durch die Hälfte des mit den Rechnungsgrundlagen der

Prämienkalkulation berechneten ungezillmerten Deckungskapitals. Bereits

erworbe-ne Ansprüche aus einer vereinbarten Überschussbeteiligung werden

dadurch nicht erhöht.

Urteile vom 12. Oktober 2005

 

IV ZR 162/03 - Amtsgericht Hannover – Entscheidung vom 12.11.2002 - 525 C

5344/02 ./. Landgericht Hannover – Entscheidung vom 12.6.2003 - 19 S 108/02

IV ZR 177/03 - Amtsgericht Düren – Entscheidung vom 30.10.2002 - 45 C 214/02

./. Landgericht Aachen – Entscheidung vom 10.7.2003 - 2 S 367/02

IV ZR 245/03 -Amtsgericht Hildesheim – Entscheidung vom 28.4.2003 - 49 C

123/02 ./. Landgericht Hildesheim – Entscheidung vom 16.10.2003 - 1 S 54/03

 

Karlsruhe, den 12. Oktober 2005

 

 

Bundesgerichtshof

 

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