Bundesverfassungsgericht: Regelungen des Risikostrukturausgleichs verfassungsgemäß

01.09.2005

Bundesverfassungsgericht

Die Regelungen des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung sind mit dem

Grundgesetz vereinbar. Der Risikostrukturausgleich verwirklicht den sozialen Ausgleich in der gesetzlichen

Krankenversicherung im Einklang mit dem allgemeinen Gleichheitssatz kassenübergreifend und

bundesweit. Auch die Einbeziehung der ostdeutschen Versicherten in den gesamtdeutschen Solidarverband

der gesetzlichen Krankenversicherung dient der Verwirklichung des für die Krankenversicherung

charakteristischen sozialen Ausgleichs. Dies entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Damit war der Normenkontrollantrag der Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen ohne Erfolg.

Rechtlicher Hintergrund:

In der Bundesrepublik Deutschland ist der überwiegende Teil der Bevölkerung in der gesetzlichen Krankenversicherung

versichert. Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung sah bis 1994 nur sehr

stark eingeschränkte Möglichkeiten der Wahl einer gesetzlichen Krankenkasse für die Versicherten vor.

Im Regelfall war die Mitgliedschaft bei einer bestimmten Krankenkasse durch äußere Umstände, zum

Beispiel den Sitz des Arbeitgebers, vorherbestimmt. Eine Folge dieser starren Mitgliederzuweisung waren

Verwerfungen in der Mitgliederstruktur der einzelnen Krankenkassen: So hatten die Ersatz- und

Betriebskrankenkassen vielfach einen hohen Anteil von jungen Menschen mit hohen Beitragsleistungen

bei gleichzeitig geringer Leistungsinanspruchnahme unter ihren Versicherten, während vor allem die

Ortskrankenkassen einen hohen Anteil von Menschen mit geringer Beitragsleistung bei gleichzeitig hoher

Leistungsinanspruchnahme unter ihren Versicherten hatten. Diese unterschiedliche Risikoverteilung führte

zu erheblichen Unterschieden im Beitragssatz der Krankenkassen von bis 7,5% bei einem nahezu gleichen

Leistungsangebot.

Zur Förderung des Wettbewerbs zwischen den gesetzlichen Krankenkassen mit dem Ziel einer verbesserten

Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung entschloss sich der Gesetzgeber, ab 1994 Wahlmöglichkeiten

der Versicherten zu schaffen bzw. zu steigern. Zugleich trug er den unterschiedlichen Risi-

 

koverteilungen unter den einzelnen Krankenkassen durch die Schaffung des so genannten Risikostrukturausgleichs

Rechnung. Hierbei handelt es sich um ein komplexes Ausgleichsverfahren, an dem alle gesetzlichen

Krankenkassen beteiligt sind. Nach Ermittlung der jeweiligen Mitgliederstruktur der einzelnen

Krankenkasse wird dadurch unter Berücksichtigung von zuvor ermittelten Durchschnittswerten ein ausgleichender

Finanztransfer unter den Krankenkassen bewirkt.

Ursprünglich war die Durchführung des Risikostrukturausgleichs nach Ost- und Westdeutschland getrennt.

Mit der Abschottung der Ausgleichssysteme kam es zu einer gegenläufigen finanziellen Entwicklung

in Ost und West. Die Krankenkassen in den neuen Ländern wurden auf der Einnahmenseite insbesondere

durch die hohe Arbeitslosigkeit und einen hohen Rentenanteil belastet, während in einigen Leistungsbereichen

die Ausgaben je Versichertem deutlich über dem Westniveau lagen. Defizitäre Entwicklungen

und Beitragssatzerhöhungen im Osten waren die Konsequenz. Der Gesetzgeber reagierte hierauf

mit der stufenweisen Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs. Dieser führte zu einem

finanziellen West-Ost-Transfer. Der Finanzkraftausgleich erreichte im Jahr 2001 ein Volumen von rund

1,5 Mrd. Euro, was zu einer durchschnittlichen Entlastung der ostdeutschen Krankenkassen von rund

einem Beitragssatzpunkt führte. Die korrespondierende Belastung der Kassen im Westen belief sich auf

0, 19 Beitragssatzpunkte.

Der Risikostrukturausgleich wurde durch das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der

gesetzlichen Krankenversicherung vom 10. Dezember 2001 (Reformgesetz) fortentwickelt, um Fehlentwicklungen

des bisherigen Risikostrukturausgleichs zu korrigieren. Es hatte sich gezeigt, dass für die

Kassen weiterhin Anreize bestanden, ihre Geschäftspolitik an unterschiedlichen Risiken zu orientieren.

Die Ursache lag im Wesentlichen darin, dass der Risikostrukturausgleich verschiedene Krankheitszustände

(Morbiditätsunterschiede), die einen unterschiedlichen Versorgungsbedarf mit sich bringen, nur

indirekt über grobe Raster wie Alter und Geschlecht berücksichtigte. Eine Kasse konnte daher Beitragssatzvorteile

erzielen, wenn sie viele gesunde und wenige – chronisch – kranke Versicherte hatte. Dieser

Entwicklung begegnete der Gesetzgeber mit der Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs

ab dem 1. Januar 2007. Durch eine bessere Abbildung der Risikostrukturen einer Krankenkasse

in einem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich soll für die Kasse der Nutzen einer Risikoselektion

verringert werden.

Die Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen haben sich im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle

sowohl gegen die gesamte Regelung des Risikostrukturausgleichs mit länderübergreifender

Wirkung durch zwingendes Bundesgesetz als auch gegen seine Ausgestaltung, die gezielt Transfers von

den Krankenkassen des alten Bundesgebiets zu denen des Beitrittsgebiets hervorrufe, gewandt. Zudem

haben sie beantragt, das Reformgesetz vom 10. Dezember 2001 für nichtig zu erklären.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

A.

Die gesetzlichen Grundlagen des Risikostrukturausgleichs sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

I. Der Bund hat das Gesetzgebungsrecht für den Risikostrukturausgleich.

Die Einführung des Risikostrukturausgleichs ist als Maßnahme der Sozialversicherung Gegenstand

der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG). Eine bundesgesetzliche

Regelung war zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und zur Wahrung der Rechts-

und Wirtschaftseinheit erforderlich (Art. 72 Abs. 2 GG). Eine in allen Landesteilen gleich funktionsfähige

Sozialversicherung ist auf der Basis unterschiedlicher Ländergesetze praktisch kaum

denkbar. Insbesondere die gleichheitsrechtlich gebotene bundesweite Angleichung der Beitragssätze

der gesetzlichen Krankenversicherungen lässt sich mit unterschiedlichen landesrechtlichen

Regelungen nicht erreichen. Der Risikostrukturausgleich ist ein integraler Bestandteil der vom

Bundesgesetzgeber im SGB V einheitlich normierten und aufeinander abgestimmten Regelungen

der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Tragfähigkeit der Gesamtkonstruktion wäre durch

abweichende landesgesetzliche Regelungen gefährdet.

II. Die Bestimmungen der bundesstaatlichen Finanzverfassung (Art. 104a ff. GG) stehen dem Risikostrukturausgleich

in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht entgegen.

Dies ergibt sich insbesondere aus der Zusammenschau des besonderen rechtlichen Charakters

des Sozialversicherungsbeitrags mit den von den Normen über das Finanzwesen verfolgten Zielen.

Sozialversicherungsbeiträge zeichnen sich durch eine strenge grundrechtlich und kompetenzrechtlich

begründete Zweckbindung aus. Die unter Eingriff in das Grundrecht auf allgemeine

Handlungsfreiheit zustande gekommene Zwangsmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung

vermag die Auferlegung nur solcher Geldleistungspflichten zu rechtfertigen, die ihren

Grund und ihre Grenze in den Aufgaben der Sozialversicherung finden. Die erhobenen Geldmittel

dürfen daher allein zur Finanzierung der Aufgaben der Sozialversicherung eingesetzt werden.

Demgegenüber tragen die Regelungen der Finanzverfassung Sorge dafür, dass Bund und Länder

durch eine sachgerechte Verteilung des Finanzaufkommens im Bundesstaat finanziell in die Lage

versetzt werden, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben eigenständig wahrzunehmen.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Sozialversicherungsbeiträge wegen ihrer strengen

Zweckbindung weder den Bund oder die Länder noch sonstige staatliche Aufgabenträger zu eigenverantwortlichen

finanziellen Entscheidungen befähigen sollen. Für Bund und Länder handelt

es sich um Fremdgelder, die der eigenen Haushaltsgewalt entzogen sind. Der grundrechtlich gebundene

Sozialversicherungsbeitrag ist damit als indisponible Finanzmasse generell kein tauglicher

Gegenstand finanzverfassungsrechtlicher Verteilungsmechanismen.

III. Auch Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG steht dem Risikostrukturausgleich nicht entgegen.

Nach Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG trägt der Bund die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung.

Art. 120 GG ist eine reine Zuständigkeitsvorschrift, die das finanzwirtschaftliche Verhältnis

zwischen Bund und Ländern regelt. Mit der Zuweisung der alleinigen Finanzierungsverantwortung

an den Bund will das Grundgesetz lediglich sicherstellen, dass die Länder vor Sozialversicherungslasten

verschont werden. Die rechtlichen Beziehungen zu anderen Rechtsträgern

werden von der Vorschrift nicht berührt. Art. 120 Abs. 1 GG ist insbesondere keine Anspruchsnorm

zu Gunsten der Sozialversicherungsträger. Die ausgleichsverpflichteten Krankenkassen haben

keinen verfassungsrechtlichen Anspruch gegen den Bund, sie durch Gewährung von Bundeszuschüssen zu Gunsten finanzschwacher Krankenkassen von eigenen Ausgleichspflichten freizustellen.

Die sich aus Art. 120 Abs. 1 Satz 4 GG ergebende Stellung der Länder hat der Bund mit der

Einführung des Risikostrukturausgleichs nicht verletzt. Die gesetzlichen Regelungen des Risikostrukturausgleichs

begründen nämlich weder direkt noch indirekt eine Pflicht der Länder, Zuschüsse

zu den Lasten der Sozialversicherung zu leisten. Auch wenn einzelne landesunmittelbare

Krankenkassen auf Grund von Ausgleichspflichten in finanzielle Schwierigkeiten geraten sollten,

wird davon der finanzverfassungsrechtliche Status eines Landes nicht berührt, weil das Krankenkassenrecht

eine finanzielle Einstandspflicht des Landes für eine „Not leidende“ Krankenkasse

nicht vorsieht.

IV. Im Verhältnis zur Gruppe der nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Steuerpflichtigen

werden Gleichheitsrechte der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung nicht

verletzt.

Die wesentlichen Ungleichbehandlungen werden nicht durch die Regelungen des Risikostrukturausgleichs

herbeigeführt, sondern durch die – auf der Grundentscheidung des Sozialgesetzgebers

beruhenden – Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung sowie

durch die Regelungen über die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung durch Erhebung

einkommensbezogener, dem sozialen Ausgleich und der Umverteilung dienender Beiträge.

Danach haben insbesondere Beitragspflichtige mit hohen beitragspflichtigen Einnahmen und

niedrigem Krankheitsrisiko (gute Risiken) Solidarlasten zu tragen, gleich leistungsfähige Steuerpflichtige,

die nicht Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung sind, aber nicht.

Der Risikostrukturausgleich knüpft an die – nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Grundentscheidung des Sozialgesetzgebers

zur Abgrenzung des Mitgliederkreises und zur Beitragsfinanzierung der gesetzlichen

Krankenversicherung an. Er gestaltet nur die mit diesen Grundentscheidungen einhergehenden

Ungleichbehandlungen dadurch gleichmäßiger aus, dass der sich zunächst innerhalb der einzelnen

Kasse vollziehende Solidarausgleich kassenübergreifend bundesweit durchgeführt wird.

Soweit der kassenübergreifende und bundesweit wirkende Risikostrukturausgleich die Ungleichbehandlungen

zwischen Beitragspflichtigen und Steuerpflichtigen fortführt, ist dies von sachlichen

Gründen getragen und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Grundgesetz gebietet dem

Gesetzgeber nicht, den verfassungsrechtlich legitim sozialen Ausgleich jeweils an den Grenzen

der einzelnen Krankenkassen enden zu lassen.

Auch die Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs ist verfassungsrechtlich nicht

zu beanstanden. Dieser verwirklicht den Solidargedanken länderübergreifend. Für das vom

Grundgesetz gebilligte System der gesetzlichen Krankenversicherung ist typisch, dass sich leistungsstärkere

Mitglieder an den Kosten des Krankenversicherungsschutzes von leistungsschwächeren

Mitgliedern ihrer größeren Leistungsfähigkeit entsprechend beteiligen. Derartige „Umverteilungen“,

wie sie der Risikostrukturausgleich im Verhältnis zu den Ostkassen vornimmt, sind

daher keine Fremdlasten, die als Staatsaufgabe von Verfassungs wegen zwingend aus dem Steueraufkommen

finanziert werden müssten. Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb geboten,

weil die Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung Ost mit der Deutschen Einheit

zusammen hängen. Mit der Verwirklichung eines in Ost und West gleich hohen Versicherungsniveaus

zu Beiträgen, die für alle Mitglieder tragbar sind, verwirklicht der Gesetzgeber den für die

Krankenversicherung charakteristischen Gedanken des sozialen Ausgleichs im Einklang mit dem

allgemeinen Gleichheitssatz.

V. Im Verhältnis der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung untereinander liegt eine Verletzung

des Gleichheitssatzes nicht vor.

Zwar bewirkt der Risikostrukturausgleich zwischen den einzelnen Versichertengruppen innerhalb

der gesetzlichen Krankenversicherung vielfältige Ungleichbehandlungen. Insbesondere haben die

Mitglieder ausgleichsverpflichteter Krankenkassen höhere, die Mitglieder ausgleichsberechtigter

Krankenkassen niedrigere Beiträge zu zahlen, als sie ohne Risikostrukturausgleich zu entrichten

hätten. Die vom Risikostrukturausgleich ausgelösten Ungleichbehandlungen sind jedoch verfassungsrechtlich

gerechtfertigt, da der Gesetzgeber sein Ziel der Solidaritätssicherung durch einen

 

kassenübergreifenden sozialen Ausgleich bei gleichzeitigem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen

mit verhältnismäßigen Mitteln verfolgte:

1. Die vom Risikostrukturausgleich eingesetzten Mittel sind zur Erreichung des gesetzgeberischen

Ziels geeignet. Der Gesetzgeber durfte sich bei der Wahl der zu berücksichtigenden

Ausgleichsfaktoren auf solche beschränken, von denen er annehmen konnte, dass

sie die beabsichtigten Auswirkungen auf den Beitragssatz haben:

Mit den Ausgleichsfaktoren Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, Alter

und Zahl der Familienversicherten wird der klassische Solidarausgleich zwischen Einkommensstarken

und Einkommensschwachen, Jungen und Alten, Alleinstehenden und

Unterhaltspflichtigen kassenübergreifend umgesetzt. Ob die Ausgleichsfaktoren Alter,

Geschlecht und Rentenbezug wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit geeignet sind, das

Erkrankungsrisiko ausreichend abzubilden und so einen Solidarausgleich zwischen Gesunden

und Kranken sicher zu stellen, erscheint zwar fraglich. Dies kann jedoch dahin

stehen, weil bei der Schaffung des Risikostrukturausgleichs negative Erkenntnisse nicht

vorhanden waren. Der Gesetzgeber durfte die Entwicklung des neuartigen Ausgleichsinstruments

zunächst abwarten und beobachten. Schließlich hat er durch den direkt morbiditätsorientierten

Risikostrukturausgleich ab 2007 auf die Entwicklungen reagiert.

Dass sich der Ausgleich nicht an der tatsächlichen Ausgabenlast einer Krankenkasse,

sondern an standardisierten Ausgaben orientiert, ist ebenfalls legitim, da anderenfalls

Wirtschaftlichkeitsanreize bei den Krankenkassen gemindert würden.

Die Nichtberücksichtigung unterschiedlicher regionaler Kostenstrukturen ist ebenfalls

verfassungsrechtlich zulässig. Nicht zuletzt aus Praktikabilitätsgründen durfte der Gesetzgeber

auf eine entsprechende Differenzierung verzichten. Die Berücksichtigung regionaler

Besonderheiten setzt nicht nur eine komplizierte Datenerhebung voraus, sondern verlangt

die Beantwortung sehr schwieriger Fragen, auf die auch die gesundheitsökonomische

Wissenschaft noch keine befriedigenden Antworten gefunden hat.

Der West-Ost-Transfer stellt sich letztlich nur als Sonderfall der fehlenden Berücksichtigung

regionaler Differenzierung dar. Die durch größere Arbeitslosigkeit und geringere

Durchschnittsverdienste im Osten bedingten Finanzkraftunterschiede zwischen den Kassen

werden bundesweit durch den Finanzkraftausgleich beseitigt. Verfassungsrechtlich ist

ein solcher Ausgleich unproblematisch, denn er dient dem Solidarausgleich zwischen einkommensstarken

und einkommensschwachen Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung.

Soweit der Risikostrukturausgleich ostdeutschen Krankenkassen Vorteile belässt, die auf

geringeren Leistungsausgaben beruhen, ist dies nicht zu beanstanden. Ursache für die geringeren

Leistungsausgaben ist vor allem die geringere Vergütung der im Gesundheitsbereich

tätigen Personen. Da sich aber die Vergütung der im öffentlichen Dienst beschäftigten

Personen zunehmend dem Westniveau annähert und insgesamt eine zunehmende Angleichung

der Leistungsausgaben festgestellt werden kann, folgt aus der fehlenden Differenzierung

nicht die Sachwidrigkeit des Risikostrukturausgleichs. Hinzukommt, dass sich

die entsprechende Belastung der westdeutschen Krankenkassen nur im Rahmen von bis

zu 0,15 Beitragssatzpunkten bewegt.

2. Zum Risikostrukturausgleich existieren keine gleich wirksamen Mittel.

Insbesondere könnte ein völliger Verzicht auf einen Risikostrukturausgleich oder dessen

Befristung den beabsichtigten Kassenwettbewerb nicht gewährleisten. In einem System

ohne Risikostrukturausgleich ist es für eine Krankenkasse unter finanziellen Gesichtspunkten

sehr viel attraktiver, die Zusammensetzung der Versicherten durch Risikoselektion

(Anwerben von Menschen mit niedrigem Krankheitsrisiko) günstig zu gestalten, als

positive Kosteneffekte durch Effizienzverbesserung zu generieren. Der Gesetzgeber wollte

aber nicht einen Wettbewerb um die besten Risikoselektionsstrategien initiieren; die

Kassen sollten vielmehr ermuntert werden, über Möglichkeiten der Effizienzverbesserung

nachzudenken.

Auch die übrigen als Alternativen zum Risikostrukturausgleich diskutierten Maßnahmen

stellen keine gleich wirksamen Mittel dar: Bei einer Festlegung von Belastungsobergrenzen,

über die hinaus kein Transfer zwischen den Krankenkassen stattfinden soll, blieben

Unterschiede in der Risikostruktur der Krankenkassen (verbunden mit unterschiedlichen

Beitragssätzen) erhalten. Mit der Schaffung einer Einheitskrankenkasse wäre der Wettbewerbsgedanke

nicht zu realisieren. Die Zahlung von Bundeszuschüssen würde lediglich

zu einer Belastungsverlagerung auf die Allgemeinheit führen. Bei einem regionalisierten

Risikostrukturausgleich blieben vor allem länderübergreifende Unterschiede bestehen.

3. Mit dem Risikostrukturausgleich hat der Gesetzgeber auch eine angemessene Maßnahme

ergriffen. Er führt nicht zu übermäßigen und damit unzumutbaren Belastungen der

Mitglieder ausgleichspflichtiger Krankenkassen. Insbesondere steht die Belastung nicht

außer Verhältnis zu dem vom Risikostrukturausgleich verfolgten Zweck, jedem Versicherten,

gleich wo er versichert ist, die gleiche medizinische Versorgung zu Preisen, die

der jeweiligen individuellen Leistungsfähigkeit entsprechen, zukommen zu lassen.

B.

Auch das Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom

10. Dezember 2001 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

I. Die mit dem Reformgesetz bewirkte Einführung des direkt morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs

begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber verfolgt legitime

Ziele, weil er hierdurch den Solidarausgleich zwischen Gesunden und Kranken verbessern

und insbesondere Risikoselektion zulasten von – chronisch – Kranken vermeiden will.

II. Auch die Einführung eines Risikopools ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Hierbei handelt es

sich um einen den Risikostrukturausgleich ergänzenden Finanzausgleich zur Verteilung der Lasten

besonders aufwändiger Leistungsfälle. Er ist zulässig, da er bis zur Einführung des direkt morbiditätsorientierten

Risikostrukturausgleichs den Solidarausgleich ergänzend sicherstellt.

III. An der Einführung strukturierter Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen war

der Gesetzgeber ebenfalls verfassungsrechtlich nicht gehindert. Mit der Zuweisung eines speziellen

Beitragsbedarfs zur Durchführung der strukturierten Behandlungsprogramme haben die Kassen

einen finanziellen Anreiz, entsprechende Programme aufzulegen und so die Qualität der Versorgung

chronisch kranker Menschen zu verbessern.

IV. Die Ermächtigung zur Regelung der Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs durch

Rechtsverordnung hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Ziele und Zwecke der Ermächtigung

hat der Gesetzgeber im Reformgesetz deutlich vorgegeben. Auch die inhaltlichen

Modalitäten der Verordnung sind im Gesetz hinreichend bestimmt.

Beschluss vom 18. Juli 2005 – 2 BvF 2/01 –

 

Karlsruhe, den 31. August 2005

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