BVerfG: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen gesetzliche Altersgrenze für Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare
Pressemitteilung Nr. 84/2025 vom 23.09.2025
Urteil vom 23.09.2025
1 BvR 1796/23
Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die gesetzliche Altersgrenze für Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt.
Der Beschwerdeführer – ein Anwaltsnotar aus Nordrhein Westfalen – wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde mittelbar gegen die gesetzlichen Regelungen der § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a Bundesnotarordnung (BNotO), nach denen das Notaramt sowohl der hauptberuflichen als auch der An waltsnotare mit Erreichen der Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres erlischt. Unmittelbar richtet sich die Verfassungsbeschwerde vor allem gegen ein Urteil des Bundes gerichtshofs, mit dem dieser eine Klage des Beschwerdeführers auf Feststellung der Fortdauer des Notaramtes über diese Alters grenze hinaus letztinstanzlich abgewiesen hat. Der Beschwer deführer rügt unter anderem, er werde durch die Altersgrenze in seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ver letzt.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich mit telbar gegen die Regelung der Altersgrenze wendet. Die Alters grenze erreicht die mit ihr verfolgten legitimen Ziele wegen eines nachhaltigen Bewerbermangels im Anwaltsnotariat und nach den heutigen Erkenntnissen zur Bedeutung des Alters für die Berufstüchtigkeit nur noch zu einem geringen Grad. Sie greift unverhältnismäßig in beide Schutzrichtungen der Berufs freiheit – die Sicherung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage und die Persönlichkeitsentfaltung – ein.
Der Senat hat die vorübergehende Fortgeltung der Altersgrenze bis zum 30. Juni 2026 angeordnet. Soweit sich die Verfassungs beschwerde unmittelbar gegen das klageabweisende Urteil des Bundesgerichtshofs wendet, hat sie der Senat zurückgewiesen. Das angegriffene Urteil hat auf Grundlage der getroffenen Fortgeltungsanordnung Bestand.
Sachverhalt:
Notarinnen und Notare sind unabhängige Träger eines öffentli chen Amtes. Sie beurkunden Rechtsvorgänge und erfüllen an dere Aufgaben der vorsorgenden Rechtspflege. Während die notarielle Amtsausübung als solche bundeseinheitlich geregelt ist, unterscheidet sich die äußere Organisation des Notariats kraft Bundesrechts regional. Es bestehen zwei Berufsaus übungsformen: Notare werden entweder zur hauptberuflichen Amtsausübung (sogenannte Nur-Notare) oder als Anwaltsno tare zur gleichzeitigen Amtsausübung neben dem Beruf des Rechtsanwalts bestellt.
Nach § 4 BNotO werden so viele Notare bestellt, wie es den Er fordernissen einer geordneten Rechtspflege entspricht. Zustän dig für die Bedürfnisprüfung und die Bestellung von Notaren sind die Länder, wobei es grundsätzlich in ihrem pflichtgemä ßen Ermessen liegt, wie viele Notarstellen sie einrichten. Die Bewerberlage im Notariat unterscheidet sich nach den Be rufsausübungsformen. Im Bereich des hauptberuflichen Notariats besteht fast flächendeckend ein Bewerberüberhang.
Im Anwaltsnotariat bleibt die Zahl der Bewerbungen seit Jahren erheblich hinter der Zahl der ausgeschriebenen Notarstellen zu rück, von einzelnen örtlichen Ausnahmen abgesehen.
Das Notaramt sowohl der hauptberuflichen als auch der An waltsnotare erlischt nach § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO mit Erreichen der Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebens jahres. Der Notar scheidet damit zwingend aus dem Notarberuf aus.
Der Beschwerdeführer – ein Anwaltsnotar aus Nordrhein Westfalen – rügt unter anderem, durch die Altersgrenze werde er in seiner Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. Die Altersgrenze sei nicht mehr verhältnismäßig. Sie könne ihren ur sprünglichen Zweck, im Interesse funktionstüchtiger Rechts pflege eine geordnete Altersstruktur des Notariats zu erreichen, nicht mehr erfüllen. Denn anders als bei ihrer Einführung in den 1990er Jahren gebe es inzwischen nicht mehr genügend Be werber für Anwaltsnotarstellen.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
A. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie sich mit der Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG unmittelbar ge gen das Urteil des Bundesgerichtshofs und mittelbar gegen die Altersgrenze nach § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO richtet. Im Übrigen ist das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht hinrei chend substantiiert.
B. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich mittelbar gegen die Regelung der Altersgrenze des vollendeten siebzigsten Lebensjahres wendet. Diese ist mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit sie das Anwaltsnotariat betrifft. Die Altersgrenze greift unverhältnismäßig in die Berufsfreiheit der Anwaltsnotarinnen und -notare ein.
I. 1. Art. 12 Abs. 1 GG ist ein einheitliches Grundrecht, das Wahl und Ausübung des Berufs schützt. Die Berufsfreiheit umfasst eine wirtschaftliche und eine auf die Entfaltung der Persönlich keit bezogene Dimension. Sie konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich der individuellen Leistung und Existenzgestaltung und -erhaltung. Die Gewähr leistung zielt auf eine möglichst unreglementierte berufliche Betätigung ab.
2. Die Altersgrenze greift in diesen Schutzbereich ein. Sie be schränkt die Berufswahlfreiheit unmittelbar, indem die be troffenen Berufsträger von der weiteren Tätigkeit als Anwalts notar ausgeschlossen sind. Ihr Beruf ist kraft Gesetzes mit Errei chen der Altersgrenze beendet. Über eine Fortsetzung ihrer Notartätigkeit können sie nicht selbst entscheiden.
3. Dieser Eingriff ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt; er ist unverhältnismäßig, soweit die Regelung auf Anwaltsnotare anwendbar ist.
a) Die Altersgrenze verfolgt allerdings verfassungsrechtlich le gitime Zwecke. Sie soll eine geordnete Altersstruktur innerhalb des Notarberufs erreichen, um die Funktionstüchtigkeit der vor sorgenden Rechtspflege zu gewährleisten. Die Altersgrenze ist zudem ein Mittel, mit dem eine gerechte Verteilung der Berufs chancen zwischen den Generationen bezweckt wird; hierin liegt ein legitimer arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Zweck. Sie verfolgt schließlich den legitimen Zweck, die Rechtspflege vor Gefahren durch die altersbedingt nachlassende Leistungsfähig keit von Notaren zu schützen.
Die Altersgrenze ist trotz veränderter tatsächlicher Rahmenbe dingungen zur Erreichung der Gesetzeszwecke im verfassungs rechtlichen Sinne auch noch geeignet und erforderlich.
b) Die Altersgrenze ist jedoch nicht mehr verhältnismäßig im engeren Sinne, soweit sie das Anwaltsnotariat betrifft. Sie be lastet die Grundrechtsträger unzumutbar.
aa) Die qualitative Intensität des Eingriffs ist erheblich. Die Altersgrenze ist eine Berufswahlregelung. Das Amt des Anwalts notars erlischt mit ihrem Erreichen zwingend. Da das maßgebli che Kriterium des Lebensalters unverfügbar ist, haben die Be rufsträger keine Möglichkeit, den Endpunkt ihrer Berufstätigkeit zu beeinflussen und an ihre Lebensumstände anzupassen. Aus nahmen sind gesetzlich nicht vorgesehen. Der Eingriff betrifft beide Schutzrichtungen der Berufsfreiheit – die Sicherung einer wirtschaftlichen Lebensgrundlage und die Persönlichkeitsent faltung – gleichermaßen.
Gemildert wird der Eingriff durch die Möglichkeit der ausge schiedenen Anwaltsnotare, als Notarvertreter oder Notariats verwalter im gleichen Berufsfeld tätig zu bleiben oder als Rechtsanwalt ihren Hauptberuf fortzuführen. Der Grad der Milderung ist allerdings jeweils als gering einzuschätzen.
Eine Milderung des Eingriffsgewichts lässt sich hingegen nicht allein daraus ableiten, dass die Altersgrenze erst mit dem voll endeten siebzigsten Lebensjahr – und damit deutlich später als die Regelaltersgrenzen für den Renteneintritt beziehungsweise den Eintritt der Beamten in den Ruhestand – einsetzt. Anwalts notare treten verglichen mit anderen akademischen Berufen und mit den höheren Laufbahnen des öffentlichen Dienstes re gelmäßig erst in einem deutlich höheren Alter in den Notarbe ruf ein. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kommt hinzu, dass Berufs- und Erwerbsbiographien flexibler geworden sind und die schematische Abfolge von Ausbildung, Berufstätigkeit und Ruhestand zunehmend durchbrochen wird. Auch hat die Er werbstätigkeit im Alter in den letzten Jahren erheblich zuge nommen.
bb) Demgegenüber stehen zwar Gemeinwohlbelange, die ebenfalls erhebliches Gewicht haben. Die Funktionstüchtigkeit der vorsorgenden Rechtspflege – namentlich die Versorgung mit qualitativ hochwertigen notariellen Dienstleistungen, er bracht durch leistungsfähige, hinreichend erfahrene und ver schiedenen Altersgruppen zugehörige Notare – ist für die Allge meinheit und für Einzelne von großer Bedeutung. Ebenfalls ge wichtig ist das arbeitsmarkt- und sozialpolitische Ziel des Ge setzgebers, die Berufschancen zwischen den Generationen ge recht zu verteilen. Dieser angestrebte Zweck verwirklicht dabei auch das von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Recht potentieller Be rufsträger, den Notarberuf zu ergreifen.
cc) Die Regelung der Altersgrenze kann im Anwaltsnotariat aber nur noch zu einem geringen Grad zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen.
(1) Dies gilt zunächst für die geordnete Altersstruktur im Interesse funktionstüchtiger Rechtspflege und für die gerechte Verteilung der Berufschancen zwischen den Generationen. In soweit ist die ursprünglich bei Einführung der Altersgrenze effektive Zweckverfolgung heute nur noch in einem erheblich geringeren Maße vorhanden.
(a) Die gesetzgeberisch intendierte Wirkungsweise der Alters grenze, durch das Freiwerden von Stellen das Notariat zu ver jüngen und Berufschancen zu eröffnen, läuft in denjenigen Re gionen des Anwaltsnotariats leer, in denen ein Mangel an Be werbern besteht. Hier kann jeder Bewerber, der die gesetzli chen Voraussetzungen für das Anwaltsnotariat erfüllt, zum Zuge kommen. Betroffen ist mittlerweile die Mehrzahl der Oberlandesgerichtsbezirke des Anwaltsnotariats.
(b) Diese geschwundene Wirkung der Altersgrenze wird auch nicht durch einen möglichen alternativen Wirkmechanismus er setzt.
Der Bundesgerichtshof hat im Ausgangsverfahren angenom men, die Funktion der Altersgrenze werde bei nicht ausreichen der Bewerberzahl dadurch erfüllt, dass beim Ausscheiden eines lebensälteren Anwaltsnotars sein Urkunden- und Gebührenauf kommen auf die jüngeren Anwaltsnotare übergehe. Das Hin dernis eines hohen persönlichen und finanziellen Aufwands für das Ablegen der notariellen Fachprüfung und der hohen Kosten für die Einrichtung einer Geschäftsstelle könne durch erhebliche wirtschaftliche Anreize herabgesetzt werden.
Empirische Erkenntnisse dafür, dass das „Freiwerden“ zusätzli chen Urkunden- und Gebührenaufkommens überhaupt ent scheidungsrelevante Anreize setzt, gibt es jedoch nicht. Nach Einschätzung des Instituts für Anwaltsrecht der Universität zu Köln ist der Rückgang der Zahl der Bewerber auf die Anwaltsno tariate vielmehr auf mehrere zusammenwirkende Ursachen zu rückzuführen. So treten jährlich nur etwa 700 bis 900 potentielle Anwaltsnotare neu in den Rechtsanwaltsberuf ein und jüngere Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte haben ge änderte berufliche Präferenzen. Deutlich weniger angestellte Rechtsanwälte sehen ihre berufliche Perspektive in unterneh merischer Tätigkeit, insbesondere das Interesse am Anwaltsnotariat ist gering.
(c) Die damit evident nur noch geringe Zweckerreichung der Altersgrenze hat sich verfestigt und wird prognostisch fortbeste hen.
Die Situation des erheblichen Bewerbermangels lässt sich an hand der vorliegenden Daten bis in das Jahr 2012 zurückverfol gen. Tatsächliche Anhaltspunkte für eine zukünftige Verbesserung bestehen nicht, da die maßgeblichen Faktoren der Demographie und der beruflichen Präferenzen unverändert bleiben oder sich sogar negativ entwickeln.
Eine abweichende Bewertung ist auch nicht im Hinblick auf die Entwicklung des Urkundenaufkommens im Anwaltsnotariat ge rechtfertigt. Für einen dauerhaften Rückgang gibt es keine greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte.
Eine Anhebung der Bedürfniszahlen und die damit einherge hende Verringerung der Zahl der ausgeschriebenen Stellen er höhte die Zweckerreichung der Altersgrenze nicht. Denn den demographisch mitbedingten Rückgang der Bewerberzahlen für das Anwaltsnotariat vermag eine solche Maßnahme nicht zu stoppen.
(2) Der Gesetzeszweck, die Rechtspflege vor Gefahren durch die altersbedingt nachlassende Leistungsfähigkeit von Notarinnen und Notaren zu schützen, wird durch die Altersgrenze ebenfalls nur zu einem geringen Grad erreicht. In den im Verfahren abge gebenen alternswissenschaftlichen Stellungnahmen wird über einstimmend hervorgehoben, dass der kognitive Alterungspro zess stark individuell geprägt ist und im Notarberuf keine verallgemeinerungsfähigen Zusammenhänge zwischen dem Lebensalter und der beruflichen Leistungsfähigkeit bestehen.
Insofern unterscheidet sich der Notarberuf von anderen Beru fen, die auf schnelle kognitive Informationsverarbeitung ange wiesen sind. Diesen Gegebenheiten wird die Altersgrenze nicht gerecht, indem sie sämtliche Amtsträger mit dem siebzigsten Lebensjahr ausschließt, ohne dass deren persönliche Disposi tion berücksichtigt wird. So wird die große Mehrzahl von Amts trägern gezwungen, mit Vollendung des siebzigsten Lebens jahres ihr Amt aufzugeben, obwohl sie weiterhin in der Lage wären, den Notarberuf ordnungsgemäß auszuüben.
Das Maß der Belastung der Grundrechtsträger steht damit nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu den deutlich vermin derten Vorteilen, die dem Gemeinwohl aus der angegriffenen Regelung erwachsen.
II. Die Regelung nach § 47 Nr. 2 Variante 1, § 48a BNotO ist, so weit sie auf Anwaltsnotare anwendbar ist, nur für mit der Ver fassung unvereinbar zu erklären. Zugleich ist die vorüberge hende Fortgeltung der Altersgrenze bis zum 30. Juni 2026 anzu ordnen. Anschließend ist die Regelung nicht mehr anwendbar.
Durch die Unvereinbarerklärung werden mit einer Nichtig erklärung verbundene gravierende Nachteile für die Funktions fähigkeit der vorsorgenden Rechtspflege sowie für die Rechte betroffener Berufsträger vermieden. Auch wird den Landes justizverwaltungen eine Anpassung an die neue Rechtslage er möglicht. Unberührt bleibt das Recht des Beschwerdeführers und anderer Anwaltsnotare, deren Notaramt aufgrund der Al tersgrenze erloschen ist, sich nach Ablauf der Fortgeltungsfrist erneut auf ausgeschriebene Notarstellen zu bewerben.
Der Gesetzgeber ist nicht gehindert, ein obligatorisches Erlöschen des Notaramtes älterer Anwaltsnotarinnen und -notare neu zu regeln. Aus den Erwägungen des Senats folgt, dass erhebliche Spielräume für eine verfassungskonforme Aus gestaltung bestehen.
III. Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs hat trotz der hier festgestellten Unverein barkeit der Regelung der Altersgrenze mit Art. 12 Abs. 1 GG Be stand, weil die Regelung mit den genannten Maßgaben weiter anzuwenden ist.