Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer staatlichen Hochschule des Landes Berlin gegen Regelung des Berliner Hochschulgesetzes
Pressemitteilung Nr. 58/2025 vom 10.07.2025
Beschluss vom 25.06.2025
1 BvR 368/22
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 110 Abs. 6 Sätze 2 und 3 des Gesetzes über die Hochschulen im Land Berlin (Berliner Hochschulgesetz – BerlHG) mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 und Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 1 des Grund gesetzes (GG) unvereinbar und nichtig ist.
Die Beschwerdeführerin ist eine staatliche Hochschule des Landes Berlin. Sie wendet sich gegen die Verpflichtung der Hochschulen des Landes Berlin, allen befristet auf einer Qualifi kationsstelle beschäftigten promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Abschluss des Arbeitsver trages eine unbefristete Beschäftigung bei Erreichen des Quali fikationsziels zuzusagen (Anschlusszusage).
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg. § 110 Abs. 6 Satz 2 BerlHG greift in das Grundrecht auf Freiheit der Wissenschaft ge mäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ein. Die Regelung ist mangels Gesetz gebungskompetenz des Landes formell verfassungswidrig.
Sachverhalt:
Die angegriffene landesrechtliche Regelung des § 110 Abs. 6 Satz 2 BerlHG verpflichtet die Hochschulen des Landes Berlin dazu, allen befristet auf einer Qualifikationsstelle beschäftigten promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitar beitern mit Abschluss des Arbeitsvertrages eine unbefristete Be schäftigung bei Erreichen des Qualifikationsziels zuzusagen. Die Regelung findet auf Einstellungen von promovierten wissen schaftlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen Anwendung, die ab 1. Januar 2026 erfolgen.
Demgegenüber können nach dem bundesgesetzlichen Wissen schaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) die Hochschulen die Arbeitsverträge des zur Qualifizierung eingestellten wissenschaftlichen Personals mit einer Promotion befristen, ohne dass die Befristung Verpflichtungen der Hochschulen ge genüber diesem wissenschaftlichen Personal auslöst. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG geschützten Wissenschaftsfreiheit.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
1. § 110 Abs. 6 Satz 2 BerlHG greift in das Grundrecht der Be schwerdeführerin auf Freiheit der Wissenschaft gemäß Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ein. Dieses schützt als Abwehrrecht die freie wis senschaftliche Betätigung gegen staatliche Eingriffe. Dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit unterfallen auch Personalent scheidungen in Angelegenheiten der für den Prozess der Ge winnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse ver antwortlichen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer und ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so wie die Aufgabe der Hochschulen, den akademischen Nach wuchs zu fördern.
Die angegriffene Regelung nimmt den Hochschulen die Mög lichkeit, eigenverantwortlich zu entscheiden, ob und welche promovierten wissenschaftlichen Mitarbeiter sie nach erfolgrei chem Abschluss der Qualifikationsphase weiter beschäftigen. Dies verkürzt unmittelbar die Freiheit der Hochschulen zur Aus wahl des wissenschaftlichen Personals mit nachteiligen Folgen etwa für die Förderung des akademischen Nachwuchses, wel che die Möglichkeit zur generellen Befristung der Beschäfti gungsverhältnisse des wissenschaftlichen Personals auf Qualifi kationsstellen erfordert.
2. Der Eingriff in das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit ist ver fassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. § 110 Abs. 6 Satz 2 BerlHG ist formell verfassungswidrig. Die Regelung ist nicht von einer Gesetzgebungskompetenz des Landes gedeckt.
a) Die angegriffene Regelung ist dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG für den Sachbereich „Arbeitsrecht“ zuzu ordnen, der Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung ist. Dieser Kompetenztitel begründet eine umfassende Gesetzge bungskompetenz für die Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die sich jedenfalls insoweit auch auf die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienst Be schäftigten erstreckt, als es um Bestimmungen über die Dauer und Beendigung von Arbeitsverhältnissen geht.
Die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG be darf der Abgrenzung von den anderweitigen Gesetzgebungs kompetenzen des Bundes und der Länder für die Rechtsverhält nisse der im öffentlichen Dienst Beschäftigten. Welcher Gehalt dem Recht des öffentlichen Dienstes danach in Abgrenzung zum Arbeitsrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zukommt, ist verfassungsgerichtlich bisher nur punktuell geklärt. Zu einer ab schließenden Klärung besteht auch hier kein Anlass. Das Bun desverfassungsgericht hat bereits in einem Fall, in dem es um die Anwendung einer ausschließlich die Arbeitnehmer des öf fentlichen Dienstes betreffenden Regelung des Kündigungs schutzes ging, entschieden, dass sich der Bundesgesetzgeber hierfür auf seine Kompetenz für das Arbeitsrecht berufen kann.
Danach unterfällt auch die hier in Rede stehende Pflicht der Hochschulen, den befristet eingestellten promovierten wissen schaftlichen Mitarbeitern den Abschluss eines unbefristeten Be schäftigungsverhältnisses bei erfolgreicher Qualifizierung zu zusichern, dem Arbeitsrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG. Diese Regelung trifft ebenso wie die Vorschriften zum Kündi gungsschutz Bestimmungen über die Dauer und Beendigung von Arbeitsverhältnissen.
b) Das Land Berlin kann sich insoweit nicht auf eine Gesetzge bungsbefugnis berufen, weil der Bundesgesetzgeber seine Ge setzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht genutzt hat und im WissZeitVG abschließende Bestimmungen zur Dauer und Been digung der Arbeitsverhältnisse der zur Qualifizierung einge stellten wissenschaftlichen Mitarbeiter mit einer Promotion ge troffen hat. Damit steht die Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG einer landesgesetzlichen Regelung dieses Bereichs, wie sie hier durch § 110 Abs. 6 Satz 2 BerlHG erfolgt ist, entgegen. Dass die bundesrechtlichen Befristungsregelungen abschließend sind, ergibt sich aus Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Regelungszweck. Nicht zuletzt ist von einer Sperrwirkung aus zugehen, weil den Gesetzgebungsmaterialien zu entnehmen ist, dass der Bundesgesetzgeber bewusst darauf verzichtet hat, mit dem angegriffenen Landesrecht vergleichbare Regelungen zu treffen.