Zur Erstattungsfähigkeit der Kosten einer auf die Geburt eines zweiten Kindes abzielenden künstlichen Befruchtung in der privaten Krankenversicherung
Bundesgerichtshof
Die Parteien haben darüber gestritten, ob der beklagte private
Krankenversi-cherer dem Kläger und Versicherungsnehmer, welcher auf
natürlichem Wege keine Kinder zeugen kann, jedoch zusammen mit seiner
Ehefrau mit Hilfe künstlicher Befruchtung bereits einen Sohn gezeugt hat,
die Kosten für weite-re Behandlungszyklen einer homologen
In-vitro-Fertilisation (IVF) mit intracy-toplasmatischer Spermieninjektion
(ICSI) zu ersetzen hat.
Die Eheleute wünschen sich ein zweites Kind. Zu diesem Zweck unterzogen sie
sich im Oktober/November 2000 und im Juni 2002 zwei weiteren
Behand-lungszyklen, welche nicht zu einer Schwangerschaft führten.
Der Kläger hat von der Beklagten die Erstattung der Kosten für diese
erneu-ten Behandlungen gefordert und darüber hinaus die Feststellung
begehrt, dass die Beklagte auch die Kosten für weitere acht noch in Aussicht
genom-mene IVF/ICSI-Behandlungszyklen zu erstatten habe.
Nachdem sie bereits die Kosten für die Behandlungszyklen getragen hatte, die
schließlich zur Geburt des ersten Kindes geführt hatten, hat die Beklagte
die Auffassung vertreten, die weiteren Kosten für die künstliche Zeugung
ei-nes zweiten Kindes nicht mehr tragen zu müssen. Die Krankheit des Klägers
sei bereits mit Geburt seines Sohnes gelindert; im Übrigen seien die
Er-folgsaussichten weiterer Behandlungsversuche in Anbetracht des Alters der
1960 geborenen Ehefrau des Klägers zu gering.
Das Oberlandesgericht hatte im Berufungsverfahren der Klage insgesamt den
Erfolg versagt. Bei schon erfülltem Kinderwunsch und der damit
einhergehen-den Linderung der Zeugungsunfähigkeit könne dem
Selbstbestimmungsrecht von Ehegatten gegenüber den gleichfalls zu
berücksichtigenden Interessen des Versicherers und der
Versichertengemeinschaft angesichts der teuren, vital aber nicht notwendigen
Behandlung nicht eine Bedeutung zukommen, die es erlaubte, es der alleinigen
Entscheidungsgewalt des Versicherten zu überlassen, wann eine endgültige
Linderung eingetreten sei. Dass Kinder er-wünscht seien, führe zu keiner
anderen Beurteilung.
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Beklagte dazu verurteilt,
die Kos-ten für die beiden im Oktober/November 2000 und Juni 2002
durchgeführten Be-handlungszyklen zu erstatten. Die weitergehende Klage hat
er abgewiesen.
Versicherungsfall in der hier in Rede stehenden Krankenversicherung ist
ge-mäß § 1 (2) Satz 1 MB/KK 94 die medizinisch notwendige Heilbehandlung
ei-ner versicherten Person wegen Krankheit oder Unfallfolgen. Was den
Versi-cherungsfall ausmacht, wird zum einen durch die Bezeichnung eines die
Be-handlung auslösenden Ereignisses oder Zustandes (Krankheit oder
Unfallfol-gen) ausgefüllt, zum anderen dadurch festgelegt, dass es sich bei
der Be-handlung um eine medizinisch notwendige Heilbehandlung handeln muss.
Wie schon in früheren Entscheidungen hat der Senat hervorgehoben, dass die
Krankheit eines zeugungsunfähigen Versicherungsnehmers allein seine auf
körperlichen Ursachen beruhende Unfähigkeit ist, auf natürlichem Wege Kinder
zu zeugen. Demgegenüber stellt seine Kinderlosigkeit keine Krankheit und
auch keine die Erkrankung derart kennzeichnende Krankheitsfolge dar, dass
davon gesprochen werden könnte, mit dem Ende der Kinderlosigkeit sei auch
eine endgültige Linderung der Krankheit eingetreten. Der Wunsch von
Ehe-leuten nach einem zweiten Kind, der als solcher jeder rechtlichen
Nachprü-fung entzogen ist, kann daher erneut den Bedarf auslösen, die
gestörte Kör-perfunktion durch medizinische Maßnahmen zu ersetzen. Soll
dabei die Un-fruchtbarkeit des Mannes gelindert werden, so ist die
IVF/ICSI-Behandlung insgesamt eine auf dieses Krankheitsbild abgestimmte
Heilbehandlung.
Die Erstattungsfähigkeit der Behandlungskosten hängt deshalb vorwiegend von
der medizinischen Notwendigkeit der Behandlung ab. Sie ist gegeben, wenn die
medizinischen Befunde und Erkenntnisse es im Zeitpunkt der Be-handlung
vertretbar erscheinen lassen, die Behandlung als notwendig anzu-sehen. Dass
die IVF/ICSI-Behandlung allgemein eine medizinisch anerkannte Methode zur
Überwindung von Sterilität darstellt, besagt aber noch nicht, dass die
Maßnahme auch in jedem Einzelfall ausreichend Erfolg verspre-chend ist, um
ihre bedingungsgemäße Notwendigkeit zu bejahen. Dazu hat der Senat die
folgenden Maßstäbe aufgestellt:
Auszugehen ist von der durch das Deutsche IVF-Register seit 1982 umfas-send
dokumentierten Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlungen in Abhän-gigkeit
vom Lebensalter der Frau. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, in-wieweit
individuelle Faktoren ihre Einordnung in die ihrem Lebensalter
ent-sprechende Altersgruppe rechtfertigen, ob also ihre persönlichen
Erfolgsaus-sichten höher oder niedriger einzuschätzen sind, als die im
IVF-Register für ihre Altersgruppe ermittelten Durchschnittswerte es
ausweisen.
Bedeutsam für diese Beurteilung kann unter anderem sein, ob eine
IVF/ICSI-Behandlung bei denselben beteiligten Personen bereits früher einmal
erfolg-reich war, ob dafür viele oder nur wenige Behandlungszyklen benötigt
wurden, ferner die Zahl und Qualität der beim zuletzt vorgenommenen
Behandlungs-versuch gefundenen Spermien, Eizellen und übertragenen
Embryonen. Eine Vielzahl vergeblicher Behandlungsversuche in der
Vergangenheit kann die individuelle Erfolgsaussicht verringern. Für die
Prognose von Bedeutung ist weiter die Stimulationssituation beim letzten
Behandlungszyklus (Stimulati-onsprotokoll und Gonadotropinart), schließlich
auch die Frage, inwieweit der allgemeine Gesundheitszustand der beteiligten
Frau vom Durchschnitt ihrer Altersgruppe abweicht.
Von einer nicht mehr ausreichenden Erfolgsaussicht und damit von einer
nicht mehr gegebenen bedingungsgemäßen medizinischen Notwendigkeit der
IVF/ICSI-Behandlung - ist dann auszugehen, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass
ein Embryotransfer (Punktion) zur gewünschten Schwangerschaft führt,
signifikant absinkt und eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 15 % nicht mehr
erreicht wird. Das ist im Durchschnitt bei Frauen nach Vollendung des 40.
Le-bensjahrs der Fall, kann aber aufgrund der vorgenannten individuellen
Fakto-ren im Einzelfall früher oder später eintreten.
Im entschiedenen Fall war die geforderte Erfolgswahrscheinlichkeit nur für
die beiden bereits in den Jahren 2000 und 2002 durchgeführten
Behandlungszyk-len gegeben.
Urteil vom 21. September 2005 IV ZR 113/04
Landgericht München I 25 O 7593/02 ./. Oberlandesgericht München 25 U
4788/03
Karlsruhe, den 21. September 2005
Bundesgerichtshof
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