AG Göttingen: Keine Abweisung eines Eröffnungsantrags mangels Masse bei zu erwartender Erwirtschaftung der Verfahrenskosten während des Verfahrens
InsO §§ 26, 114
Keine Abweisung eines Eröffnungsantrags mangels Masse bei zu erwartender Erwirtschaftung der Verfahrenskosten während des Verfahrens
AG Göttingen, Beschl. v. 11. 12. 2008 – 71 IN 85/08 NOM
Leitsätze des Gerichts:
1. Für die Bestimmung der Frist, innerhalb derer eine voraussichtliche Deckung der Verfahrenskosten i.S.d. § 26 Abs. 1 Satz 1 InsO erzielt wird, ist ein großzügiger Maßstab anzulegen und dem Gedanken der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung und dem Ziel der vermehrten Verfahrenseröffnungen Rechnung zu tragen.
2. Sind Bezüge aus einem Dienstverhältnis abgetreten, ist im Hinblick auf die Insolvenzfestigkeit einer Abtretungserklärung gem. § 114 Abs. 1 InsO auch ein Zeitraum von mehr als zwei Jahren unschädlich.
Gründe:
A. Aufgrund von Abgaberückständen i.H. v. ca. 152.000 € hat das zuständige Finanzamt im Juli 2008 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners beantragt unter Hinweis darauf, dass Bereitschaft zur Leistung eines Kostenvorschusses nicht besteht. Aus dem Gutachten des vom Gericht eingesetzten Sachverständigen vom 21.10.2008 ergibt sich, dass der 1967 geborene, nicht unterhaltsverpflichtete Schuldner in den Jahren 1991 bis 2007 selbstständig als Dozent tätig war. Seit dem 1.5.2007 erzielt er aus abhängiger Stellung ein Nettogehalt von 1.662,04 €, das mehrfach zediert ist und an dem diverse Gläubiger Pfändungen ausgebracht haben. Vorhandenes Grundvermögen ist wertausschöpfend belastet, von den vorhandenen Gesamtverbindlichkeiten von ca. 250.000 € sind Beträge i.H. v. 170.000 € dinglich abgesichert. Der Sachverständige hat die voraussichtlichen Verfahrenskosten auf ca. 2.500 € beziffert und weiter ausgeführt, dass mit Massezuflüssen bei Verfahrenseröffnung nicht vor Ablauf der Zwei-Jahres-Frist des § 114 InsO zu rechnen ist. Im Hinblick darauf hat er angeregt, den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zurückzuweisen. Der darauf hingewiesene Schuldner hat einen Antrag auf Restschuldbefreiung und Stundung der Verfahrenskosten nicht gestellt.
In der vom Gericht erbetenen ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2008 führt der Sachverständige aus, dass insgesamt 20 Gläubiger vorhanden sind, von denen fünf Pfändungen ausgebracht haben und ein Gläubiger eine Abtretungserklärung des Schuldners gegenüber der Drittschuldnerin aufgedeckt hat. Bei einem zu erwartenden pfändbaren Betrag von ca. 400 € monatlich wären im Falle der Eröffnung die Kosten zwischen dem 25. und 36. Monat nach Eröffnung gedeckt.
B. Das Insolvenzverfahren ist zu eröffnen. Der Schuldner ist zahlungsunfähig (§ 17 InsO). Eine Abweisung mangels Masse gem. § 26 InsO kommt nicht in Betracht.
Zwar hat weder die antragstellende Gläubigerin einen Kostenvorschuss geleistet noch der Schuldner einen Stundungsantrag gestellt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Verfahrenskosten voraussichtlich gedeckt sind. Der pfändbare Anteil des Schuldnereinkommens beläuft sich auf ca. 400 € monatlich. Gemäß § 114 Abs. 3 InsO werden bei Eröffnung des Verfahrens Pfändungen spätestens mit Ablauf des nachfolgenden Monats unwirksam. Abtretungen sind allerdings gem. § 114 Abs. 1 InsO für den Zeitraum von zwei Jahren insolvenzfest. Eine derartige Abtretung ist hier an die Kreissparkasse erfolgt.
Die Tatsache, dass erst nach Ablauf von zwei Jahren mit Massezuflüssen zu rechnen ist, hindert aber nicht die Eröffnung des Verfahrens. Vielmehr ist ein – zeitlich – großzügiger Maßstab anzulegen (AG Hamburg ZIP 2006, 1784 = ZVI 2006, 244 = ZInsO 2006, 51, 52; MünchKomm-Haarmeyer, InsO, § 26 Rz. 23). Hinsichtlich des tolerablen Zeitraumes existieren allerdings unterschiedliche Ansichten. Das OLG Köln (ZIP 2000, 548 = Rpfleger 2000, 288 = ZInsO 2000, 239 (LS), dazu EWiR 2000, 501 (Wenzel)) stellt – für den Sonderfall einer monatlichen Ratenzahlung – auf einen Zeitraum von sechs Monaten ab (ähnlich Kirchhof, in: HK-InsO, § 26 Rz. 9). ZIP 2009, Seite 880Der BGH (ZIP 2003, 2171 = ZVI 2004, 28 = NZI 2004, 30) hat einen Zeitraum bis etwa einem Jahr zugrunde gelegt (ähnlich Haarmeyer, ZInsO 2001, 103, 106). In der Kommentarliteratur wird teilweise eine Einzelfall bezogene Angemessenheitsprüfung vorgeschlagen (HambKomm-InsO/Schröder, § 26 Rz. 29) bzw. auf den Einzelfall und die Zumutbarkeit abgestellt (Uhlenbruck, InsO, § 26 Rz. 14).
Mit der letztgenannten Kommentarliteratur ist davon auszugehen, dass sich feste Grenzen nicht ziehen lassen, vielmehr auch der Einzelfall zu berücksichtigen ist. Sind Bezüge aus einem Dienstverhältnis abgetreten, können diese aufgrund der gesetzlichen Regelung des § 114 Abs. 1 InsO zwei Jahre zunächst nicht zur Masse gezogen werden. Diese gesetzliche Regelung ist bei der Bemessung des zeitlichen Maßstabes zu berücksichtigen. Stellt man auf einen kürzeren Zeitraum als zwei Jahre ab, käme man aufgrund der gesetzlichen Regelung des § 114 Abs. 1 InsO dazu, dass eine Verfahrenseröffnung nicht erfolgen kann. Im konkreten Fall würde dies bedeuten, dass zunächst die Forderung der Zessionarin (Kreissparkasse) über ca. 161.000 € befriedigt würde, die zudem in voller Höhe grundbuchrechtlich abgesichert ist. Diese Gläubigerin ist im Übrigen nicht einmal befugt, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu beantragen. Nach der neuesten Rechtsprechung des BGH (BGH ZIP 2008, 281 = ZVI 2008, 13 = ZInsO 2008, 103 = NZI 2008, 182, dazu EWiR 2008, 407 (Hölzle)) ist für einen Absonderungsberechtigten, der wegen seiner Forderungen im Zweifelsfall vollständig gesichert ist, ein Insolvenzantrag mangels rechtlichen Interesses i.S.d. § 14 Abs. 1 InsO sogar unzulässig.
Die antragstellende Gläubigerin hätte bei Abweisung mangels Masse über Jahre bzw. Jahrzehnte hinaus keine Möglichkeit, dass ihre Forderung anteilig befriedigt wird.
Daher ist davon auszugehen, dass ein Verfahren auch dann zu eröffnen ist, wenn eine Verfahrenskosten deckende Masse erst in mehr als zwei Jahren zu erwarten ist (AG Hamburg NZI 2000, 140; LG Leipzig ZInsO 2002, 576, 577). Es genügt daher, dass die Kosten innerhalb der voraussichtlichen Verfahrensdauer erwirtschaftet werden können (Kübler/Prütting/Pape, InsO, § 26 Rz. 7a; Wimmer/Schmerbach, InsO, § 26 Rz. 15b; Frege/Keller/Riedel, Insolvenzrecht, Rz. 723).
Nur so wird das von der InsO angestrebte Ziel einer gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung und vermehrter Verfahrenseröffnungen erreicht. Der Insolvenzverwalter erhält zwar für zwei Jahre zunächst keine Vergütung für seine Tätigkeit. Dies ist ihm jedoch zumutbar. Eine vergleichbare Sachlage besteht beispielsweise dann, wenn eine Verfahrenseröffnung nur im Hinblick darauf erfolgt, dass Anfechtungsansprüche gem. §§ 129 ff. BGB voraussichtlich durchgesetzt werden können.
Zwar besteht die Gefahr, dass der Schuldner arbeitslos wird oder sein Nettoeinkommen in den unpfändbaren Bereich absinkt. Allein diese Möglichkeit rechtfertigt jedoch nicht, auf eine Verfahrenseröffnung zu verzichten. Auch bei anderen Konstellationen ist es denkbar, dass die Realisierung von Vermögenswerten nicht in dem erwarteten Umfang oder gar nicht erfolgt, z.B. weil sich Anfechtungsansprüche (nicht vollständig) nicht durchsetzen lassen.
Im vorliegenden Fall ist schließlich zu bedenken, dass die vom Sachverständigen auf ca. 2.500 € bezifferten Verfahrenskosten sechs Monate nach Ablauf der Zweijahresfrist des § 114 Abs. 1 InsO gedeckt sein werden.
Schließlich kann es nach Auffassung des Insolvenzgerichtes nicht von der gesetzlichen Regelung in § 114 Abs. 1 InsO abhängen, ob eine Verfahrenseröffnung erfolgt oder nicht. Dabei ist zu bedenken, dass die Frist in der Ursprungsfassung drei Jahre betrug, mit Wirkung vom 1.12.2001 auf zwei Jahre verkürzt wurde und nach dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Entschuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen vom 22.8.2007 auf ein Jahr verkürzt werden soll (Beilage zu Heft 10/2007 der NZI, 2*).