AG Hamburg: Freigegebener Betrieb als insolvenzfähiges Sondervermögen

05.03.2009

InsO §§ 13, 14, 35 Abs. 2; BGB §§ 133, 157

Freigegebener Betrieb als insolvenzfähiges Sondervermögen

AG Hamburg, Beschl. v. 18. 6. 2008 – 67g IN 37/08

Leitsätze des Gerichts:

1. Bei einem in einem (ersten) Insolvenzverfahren gem. § 35 Abs. 2 InsO freigegebenen Geschäftsbetrieb einer Schuldnerin handelt es sich um ein insolvenzfähiges Sondervermögen. Verfahrensvertreterin ist die Schuldnerin des ersten Insolvenzverfahrens als Betriebsinhaberin. § 35 Abs. 2 InsO gilt auch für eine Freigabe in einem Insolvenzverfahren, das vor dem Inkrafttreten der Vorschrift (1.7.2007) eröffnet worden ist.

2. Eine falsche Schuldnerbezeichnung im (Gläubiger-)Antrag steht der Zulässigkeit des Antrags nicht entgegen, wenn sich aus einer Auslegung des Insolvenzantrags (§§ 133, 157 BGB) ergibt, dass ein Insolvenzverfahren über das freigegebene Sondervermögen gewollt ist.

3. Zur Glaubhaftmachung und zum rechtlichen Interesse i.S.d. § 14 InsO bei einem Gläubigerantrag über ein freigegebenes Sondervermögen.

Gründe:

I. Am 22.12.2005 stellte die Antragstellerin Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin. Die Schuldnerin stellte sodann am 8.2.2006 einen Eigenantrag, verbunden mit den Anträgen auf Restschuldbefreiung und Verfahrenskostenstundung. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin wurde daraufhin unter Verbindung des Gläubiger- und des Eigenantragsverfahrens mit Beschluss vom 31.3.2006 eröffnet und P. zum Insolvenzverwalter bestellt.

Die Schuldnerin war vor Verfahrenseröffnung selbstständig tätig. Sie führte ihren Geschäftsbetrieb auch nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fort. Der Insolvenzverwalter gab kurz nach Eröffnung den Betrieb aus der Insolvenzmasse frei. Mit einem Angestellten führte die Schuldnerin ihren Betrieb sodann weiter. Im Zeitraum September 2006 bis November 2007 zahlte sie keine Beiträge zur Gesamtsozialversicherung für ihren bei der Antragstellerin versicherten Arbeitnehmer, sondern bat die Antragstellerin mit Schreiben vom 24.1.2007 um Stundung und Zustimmung zu ratenweiser Begleichung der ca. 1.000 € betragenden Rückstände, und zwar ab Februar 2007 mit monatlichen Raten in Höhe von 100 €. Am 15.11.2007 gab die Schuldnerin die eidesstattliche Versicherung nach § 807 ZPO ab.

Mit Schriftsatz vom 31.1.2008 stellte die Antragstellerin daraufhin erneut Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin. Nach richterlichem Hinweis auf das bereits eröffnete Verfahren bat die Antragstellerin, das zweite Verfahren „fortzuführen“.

II. Der Insolvenzantrag ist zulässig. Der Antrag richtet sich erneut auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin. Der Antrag ist als Prozesshandlung aber der Auslegung nach §§ 133, 157 BGB zugänglich und dahin zu verstehen, dass beantragt ist, ein Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin zu eröffnen, bestehend ZIP 2009, Seite 385aus dem Sondervermögen des von P. im ersten Verfahren freigegebenen Geschäftsbetriebs der Schuldnerin.

1. Antragsberechtigt ist angesichts der Regelung des § 13 InsO jeder potenzielle Insolvenzgläubiger (vgl. HambKomm-InsO/Wehr, § 13 Rz. 24) und damit jeder, der einen Anspruch auf ein Tun oder Unterlassen gegen den Schuldner hat (§ 194 Abs. 1, § 241 BGB). Das setzt eine Schuldner-Gläubiger-Beziehung voraus. Der im Eröffnungsantrag bezeichnete Anspruch auf Zahlung von Beiträgen zur Gesamtsozialversicherung der Antragstellerin für September 2006 bis November 2007 bezieht sich dabei auf die Zeit nach Freigabe des Geschäftsbetriebs durch den Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin, so dass sich die Forderung nicht wie dort bezeichnet gegen die Schuldnerin als solche richten kann. In diesem Verfahren kann die Antragstellerin keine Forderung als Insolvenzgläubigerin geltend machen, denn bei den vorliegend geltend gemachten Forderungen handelt es sich nicht um einen zum Zeitpunkt der Eröffnung des ersten Verfahrens begründeten Vermögensanspruch i.S.d. § 38 InsO, der Voraussetzung der Insolvenzgläubigereigenschaft und damit der Antragsberechtigung wäre.

Haftungsmasse steht der Antragsstellerin nach Freigabe des Betriebs jedoch in Form des dort vorhandenen (Sonder-)Vermögens zur Verfügung. Die Freigabe des Betriebs richtet sich nach § 35 Abs. 2 InsO. Zwar ist die Vorschrift erst am 1.7.2007 in Kraft getreten, sie findet jedoch auch auf Fälle von Freigaben vor Inkrafttreten Anwendung (AG Lemgo ZVI 2007, 183; HambKomm-InsO/Lüdtke, § 35 Rz. 269). Insbesondere ist auch die in § 35 Abs. 3 InsO vorgesehene Veröffentlichung keine Wirksamkeitsvoraussetzung (Kexel, in: Graf-Schlicker, InsO, § 35 Rz. 26) und steht einer Anwendung nicht entgegen. Wird die Freigabe gem. § 35 Abs. 2 InsO erklärt, steht der freigegebene Neuerwerb – mit Ausnahme der Verpflichtung zur Zahlung der Beträge nach § 295 Abs. 2 InsO, die als Absonderungsrecht zu behandeln sind (Zipperer, ZVI 2007, 543) – den Neugläubigern als Haftungsmasse zur Verfügung, und zwar unabhängig davon, wie man die Freigabe ansonsten rechtlich qualifizieren will. Ist jedoch in Form des freigegebenen Betriebs ein als Haftungsmasse abgrenzbares Vermögenskonglomerat vorhanden, ist dieses Vermögen auch insolvenzfähig i.S.d. § 11 InsO (vgl. MünchKomm-Ott/Vuia, InsO, 2. Aufl., 2008, § 11 Rz. 9 ff.). Einen Verfahrensvertreter hat die Vermögensmasse in der Inhaberin des Betriebs, also in der Schuldnerin.

2. Die Forderung ist auch glaubhaft gemacht. Zwar richtet sich der den geltend gemachten Forderungen zugrunde liegende Beitragsbescheid der Antragstellerin gegen die Schuldnerin direkt, ebenso wie die eidesstattliche Versicherung von dieser als Schuldnerin und nicht als „Vertreterin des Sondervermögens“ abgegeben worden ist. Die dem Eröffnungsantrag zugrunde liegende Forderung muss aber nicht notwendigerweise tituliert sein. Die über eine nur schlüssige Darlegung der Forderung hinausgehende Glaubhaftmachung bedeutet, dass es nicht des vollen Beweises des Bestehens der Forderung bedarf, sondern bereits die überwiegende Wahrscheinlichkeit ausreicht (BayObLG ZInsO 2001, 1012; OLG Köln ZInsO 2002, 772; LG Potsdam ZInsO 2005, 499; Kirchhof, in: HK-InsO, § 14 Rz. 11). Zur Glaubhaftmachung kann sich der Gläubiger aller präsenten Beweismittel bedienen (§ 4 InsO, § 294 ZPO). Zulässig ist damit insbesondere die Vorlage von Urkunden wie Verträge, Rechnungen, Lieferscheinen oder Schreiben, mit denen der Schuldner das Bestehen der Forderung anerkennt.

Von der Antragstellerin wurden dem Antrag sowohl Mahnschreiben, das Protokoll einer eidesstattlichen Versicherung gem. § 807 ZPO als auch das Schreiben der Schuldnerin vom 24.1.2007, mit dem diese die Forderung implizit anerkennt, vorgelegt. Die falsche Schuldnerbezeichnung mag einzelzwangsvollstreckungsrechtlich relevant sein. Für die Glaubhaftmachung der Forderung gegen den freigegebenen Geschäftsbetrieb reichen die Unterlagen aus. Sowohl die Antragsstellerin als auch die Schuldnerin gehen von Forderungen aus, die im Zusammenhang mit der Fortführung des Betriebs nach Freigabe und gegen diesen entstanden sind. Dies reicht bei allen sonstigen Mängeln aus, um die überwiegende Wahrscheinlichkeit des Bestehens der Forderung anzunehmen.

3. Auch der Eröffnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Wie bei der Glaubhaftmachung der Forderung bedarf es nicht des vollen Beweises, dass ein Eröffnungsgrund vorliegt, sondern es reicht bereits die überwiegende Wahrscheinlichkeit aus. Ob tatsächlich ein Eröffnungsgrund gegeben ist, ist anschließend von Amts wegen zu ermitteln (§ 5 Abs. 1 InsO) und erst Voraussetzung für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 16 InsO).

Dabei haben die für eine Zahlungsunfähigkeit sprechenden Umstände indizielle Bedeutung und können nur in einer Gesamtbetrachtung Bedeutung bekommen (BGH ZIP 2001, 2097 = ZInsO 2001, 1049, dazu EWiR 2002, 209 (Paulus)). Sie sind jeweils im Einzelfall zu würdigen (Wimmer/Schmerbach, InsO, § 14 Rz. 75). Ausreichend allerdings ist z.B. eine Individualerklärung des Schuldners, der nach ihrem objektiven Aussagegehalt zu entnehmen ist, dass er zahlungsunfähig ist (BGH ZIP 2006, 2222 (m. Bespr. Hölzle, ZIP 2007, 613) = ZVI 2006, 577 = ZInsO 2006, 1210, dazu EWiR 2007, 113 (Wagner)). Eine solche Erklärung hat die Schuldnerin zwar nicht abgegeben. Allerdings ist sie ihrer Ankündigung, Ratenzahlungen aufzunehmen, ebenso wenig nachgekommen. Wie sich aus dem Protokoll über die eidesstattliche Versicherung ergibt, bestand die Forderung nämlich noch im Juni 2006 in voller Höhe. Aufgrund der Strafbewehrtheit der Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen gem. § 266a StGB ist davon auszugehen, dass ein Schuldner sich bemüht, diese Beitragsforderung vorrangig vor den Forderungen aller anderen Gläubiger zu befriedigen. Bleibt er diese Beiträge schuldig, ist dies ein zusätzliches Indiz für seine Zahlungsunfähigkeit. All dies spricht für das Vorliegen einer Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungsgrund gem. § 17 InsO.

4. Schließlich liegt auch das rechtliche Interesse i.S.d. § 14 InsO vor. Hieran fehlt es insbesondere auch nicht deshalb, weil über das Vermögen der Schuldnerin bereits das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Zwar erfasst das eröffnete Insolvenzverfahren das gesamte schuldnerische pfändbare Vermögen einschließlich des neu erworbenen Vermögens, §§ 35, 36 InsO (BGH ZIP 2004, 1160 = ZInsO 2004, 739, ZIP 2009, Seite 386dazu EWiR 2004, 977 (Eckardt); auch während des Zeitraums der Wohlverhaltensperiode – AG Oldenburg ZVI 2005, 44 = ZInsO 2004, 1154). Da sich die dem hiesigen Antrag zugrunde liegende Forderung aber nicht gegen die Haftungsmasse des ersten Insolvenzverfahrens, sondern gegen das insolvenzfähige „Vermögenskonglomerat“ des freigegebenen Geschäftsbetriebs richtet, steht dem rechtlichen Interesse nicht entgegen, dass bereits das erwähnte eröffnete Verfahren läuft. Auch während des laufenden Insolvenzverfahrens kann über das Vermögen von aus der Masse freigegebenen Gegenständen ein Insolvenzverfahren eröffnet werden (MünchKomm-Lwowski, InsO, 2. Aufl., 2008, § 35 Rz. 75; AG Göttingen ZVI 2007, 571, 572). Es genügt folglich, dass der antragstellende Gläubiger das Vorliegen eines Anspruchs und eines Eröffnungsgrunds glaubhaft macht (AG Göttingen ZVI 2007, 573). Dies ist geschehen. Nicht erforderlich ist dabei, dass der Gläubiger darlegt, dass haftendes Vermögen vorhanden ist (AG Göttingen ZVI 2007, 571, 572). Dies zu prüfen ist Aufgabe des Insolvenzgerichts im Rahmen seiner Amtsermittlung gem. § 5 InsO.

Da die Antragstellerin ihre Rechte weder in dem ersten Verfahren als Gläubigerin geltend machen kann noch Sicherheiten oder sonstige Möglichkeiten besitzt, ihre Forderung zu realisieren, sie also mithin keine Möglichkeiten hat, auf einfachere und billigere Art und Weise ihre Forderung zu befriedigen, ist auch unter diesem Gesichtspunkt ein Rechtsschutzinteresse zu bejahen (vgl. HambKomm-InsO/Wehr, a.a.O., § 14 Rz. 50).

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