BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2022 - IV ZB 1/22

24.01.2023

BUNDESGERICHTSHOF

vom

14. Dezember 2022

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO § 322 Abs. 2; BGB 387


Eine der Rechtskraft fähige Entscheidung gemäß § 322 Abs. 2 ZPO liegt auch dann vor, wenn eine hilfsweise zur Aufrechnung gestellte Forderung unberücksichtigt bleibt, weil es an der Gegenseitigkeit im Sinne von § 387 BGB fehlt.


BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2022 - IV ZB 1/22 - LG Osnabrück, AG Osnabrück


Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Karczewski, die Richterin Harsdorf-Gebhardt, die Richter Dr. Götz, Dr. Bommel und Rust

am 14. Dezember 2022

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des Landgerichts Osnabrück - 9. Zivilkammer - vom 5. Januar 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 847,50 € festgesetzt.

Gründe:

[1] I. Das Amtsgericht hat den Beklagten zur Zahlung von 512,75 € verurteilt. Zu einer Hilfsaufrechnung des Beklagten mit einer Gegenforderung in Höhe von 334,75 € hat es ausgeführt, der Beklagte könne gegen den Anspruch der Klägerin nicht aufrechnen, da es an der Gegenseitigkeit der Forderungen fehle.

[2] Das Landgericht hat die Berufung des Beklagten, mit der er seinen Antrag auf Klageabweisung unter Aufrechterhaltung der Hilfsaufrechnung weiter verfolgt, als unzulässig verworfen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde.

[3] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

[4] 1. Die gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt den Beklagten in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip), das es den Gerichten verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. Senatsbeschlüsse vom 15. Dezember 2021 - IV ZB 11/21, NJW-RR 2022, 426 Rn. 6; vom 6. Juni 2018 ­ IV ZB 10/17, NJW-RR 2018, 957 Rn. 6; vom 8. März 2017 ­ IV ZB 18/16, ZEV 2017, 278 Rn. 5).

[5] 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

[6] a) Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist die Berufung unzulässig, weil die Beschwer des Beklagten die Berufungssumme von 600 € nicht übersteige und das Amtsgericht die Berufung auch nicht zugelassen habe. Hinsichtlich des hilfsweise zur Aufrechnung gestellten Anspruchs in Höhe von 334,75 € sei keine der Rechtskraft fähige Entscheidung ergangen. Bei der Bestimmung der Beschwer des Beklagten sei die Eventualaufrechnung nur dann zu berücksichtigen, wenn über beide Forderungen - aus der Klage und der Hilfsaufrechnung - rechtskräftig im Sinne der Regelung zu § 322 Abs. 1 und 2 ZPO entschieden werde. Die Gegenforderung bleibe bei der Bemessung der Beschwer unberücksichtigt, sofern sie aus materiell- oder prozessrechtlichen Gründen - zu Recht oder zu Unrecht - als unzulässig angesehen werde. Dies sei hier der Fall, indem das Amtsgericht lediglich zutreffend festgestellt habe, der Beklagte sei jedenfalls nicht Inhaber dieser Forderung. Zum Bestehen der Forderung selbst habe das Amtsgericht gerade keine Feststellungen getroffen.

[7] b) Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

[8] aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die beklagte Partei zusätzlich zur Klageforderung in Höhe des Betrages ihrer vorsorglich zur Aufrechnung gestellten Gegenforderung dann beschwert, wenn das Gericht das Bestehen der Gegenforderung verneint hat und im Falle der Rechtskraft des Urteils das Nichtbestehen der Gegenforderung nach § 322 Abs. 2 ZPO rechtskräftig festgestellt wäre (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2010 - IX ZR 2/09, juris Rn. 5; vom 24. Februar 1994 - VII ZR 209/93, VersR 1994, 1003 unter 1a [juris Rn. 4].

[9] bb) Ob eine der Rechtskraft fähige Entscheidung im Sinne von § 322 Abs. 2 ZPO vorliegt, wenn eine hilfsweise zur Aufrechnung gestellte Forderung unberücksichtigt bleibt, weil es nach Auffassung des Gerichts an der Gegenseitigkeit im Sinne von § 387 BGB fehlt, ist umstritten.

[10] (1) Ein Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung sowie eine Auffassung im Schrifttum gehen davon aus, dass in diesem Fall keine der Rechtskraft fähige Entscheidung im Sinne von § 322 Abs. 2 ZPO getroffen wird (OLG Frankfurt, JurBüro 1991, 1387 f.; Junglas, Forderungsmehrheiten in der Prozessaufrechnung, 2012, S. 245; Noltze, Aufrechnung und Prozess, 2000, S. 283; Stein/Jonas/Althammer, ZPO 23. Aufl. § 322 Rn. 157).

[11] Demgegenüber wird von der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung sowie von der herrschenden Auffassung im Schrifttum für den Fall der Nichtberücksichtigung einer Eventualaufrechnung mangels Gegenseitigkeit eine der Rechtskraft fähige Entscheidung nach § 322 Abs. 2 ZPO bejaht (OLG Celle AnwBl 1984, 311; OLG Düsseldorf MDR 1996, 1299; Zöller/G. Vollkommer, ZPO 34. Aufl. § 322 Rn. 18; MünchKomm-ZPO/Gottwald, 6. Aufl. § 322 Rn. 197; Wieczorek/Schütze/

Büscher, ZPO 4. Aufl. § 322 Rn. 264; Musielak/Voit/Musielak, ZPO 19. Aufl. § 322 Rn. 85; Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO 14. Aufl. § 322 Rn. 72; Anders/Gehle/Gehle, ZPO 80. Aufl. § 322 Rn. 132).

[12] (2) Die zuletzt genannte Auffassung trifft zu. Die Annahme des Gerichts, die Klageforderung sei mangels Gegenseitigkeitsverhältnisses nicht nach §§ 387, 389 BGB durch die Eventualaufrechnung des Beklagten erloschen, ist eine Entscheidung in der Sache (vgl. zur Bedeutung dieses Umstandes für die Reichweite der Rechtskraft BGH, Beschluss vom 24. Februar 1994 - VII ZR 209/93, VersR 1994, 1003 unter 1b [juris Rn. 5]) und deshalb der Rechtskraft fähig im Sinne von § 322 Abs. 2 ZPO. Denn die Entscheidung umfasst in diesem Fall im Verhältnis der Prozessparteien die - für den Fall der Rechtskraft des Urteils endgültige - Klärung der Frage, ob dem Beklagten jedenfalls gegen den Kläger die Gegenforderung nicht zusteht (vgl. OLG Düsseldorf MDR 1996, 1299; Musielak/Voit/

Musielak, ZPO 19. Aufl. § 322 Rn. 85; Anders/Gehle/Gehle, ZPO 80. Aufl. § 322 Rn. 132). Dass der Beklagte hierdurch nicht gehindert wird, die Forderung in einem anderen Prozess geltend zu machen, steht diesem Ergebnis nicht entgegen (vgl. Wieczorek/Schütze/Büscher, ZPO 4. Aufl. § 322 Rn. 264; Prütting/Gehrlein/Völzmann-Stickelbrock, ZPO 14. Aufl. § 322 Rn. 72). Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung ergibt sich etwas anderes auch nicht daraus, dass in der Rechtsprechung das Bestehen eines Gegenseitigkeitsverhältnisses als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Aufrechnung bezeichnet wird (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2008 - XII ZR 58/04, BGHZ 175, 297 Rn. 21; Versäumnisurteil vom 6. Oktober 2004 - XII ZR 323/01, NJW-RR 2005, 375 [juris Rn. 11 und 14]; Urteile vom 22. Juni 1961 - VII ZR 166/60 BGHZ 35, 248 unter I 3 [juris Rn. 27 ff.]; vom 22. Oktober 1957 - VIII ZR 67/56, BGHZ 25, 360 unter III 1 [juris Rn. 29]), denn dies ändert nichts daran, dass eine Entscheidung in der Sache ergeht.

[13] Anders als das Berufungsgericht meint, ist die Verneinung einer Aufrechnungslage wegen des Fehlens der Gegenseitigkeit im Sinne von § 387 BGB nicht vergleichbar mit dem Ausschluss der Aufrechnung nach § 390 Satz 1 und 2 BGB a.F. wegen des Bestehens einer Einrede (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 31. Juli 2001 - XI ZR 217/01, NJW 2001, 3616 Rn. 5), denn im letztgenannten Fall erfolgt keine Entscheidung in einer Weise, die das Bestehen oder Nichtbestehen der Forderung zumindest im Verhältnis der Prozessparteien klärt. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung kommt es für die Bemessung der Beschwer schließlich auch nicht darauf an, ob der Vortrag des Beklagten, die hilfsweise zur Aufrechnung gestellte Forderung stehe ihm zu, unschlüssig ist. Dies betrifft allein die inhaltliche Richtigkeit der mit der Berufung angegriffenen Entscheidung des Amtsgerichts; für die Bemessung der Höhe der Beschwer des Beklagten ist dies ohne Relevanz.

[14] c) Der Wert der Beschwer des Beklagten beträgt demnach 847,50 €. Dem ausgeurteilten Zahlbetrag von 512,75 € ist der Wert der vom Beklagten im Wege der Hilfsaufrechnung geltend gemachten Gegenforderung in Höhe von 334,75 € hinzuzurechnen. Die Beschwer übersteigt demnach die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, so dass die Verwerfung der Berufung auf der Grundlage von § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO hier nicht in Betracht kam.

[15] III. Hinsichtlich der Berechtigung der Klägerin, den Klageanspruch gerichtlich geltend zu machen, wird auf das Senatsurteil vom 30. November 2022 (IV ZR 143/21) hingewiesen.

Prof. Dr. Karczewski Harsdorf-Gebhardt Dr. Götz

Dr. Bommel Rust

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