BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2022 - XII ZB 417/22

24.01.2023

BUNDESGERICHTSHOF

vom

14. Dezember 2022

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; FamFG §§ 62 Abs. 1, 68 Abs. 3 Satz 2, 319 Abs. 1 Satz 1


a) Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462).

b) Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462).


BGH, Beschluss vom 14. Dezember 2022 - XII ZB 417/22 - LG Paderborn, AG Lippstadt


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Dezember 2022 durch die Richter Guhling, Prof. Dr. Klinkhammer, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger und die Richterin Dr. Pernice

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Lippstadt vom 15. August 2022 und der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn vom 5. September 2022 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

[1] I. Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte Genehmigung ärztlicher Zwangsmaßnahmen.

[2] Der Betroffene befindet sich aufgrund eines Strafurteils im Maßregelvollzug. Auf Antrag der ärztlichen Leitung der Unterbringungseinrichtung hat das Amtsgericht die medikamentöse Zwangsbehandlung des Betroffenen bis längstens 8. Dezember 2022 genehmigt. Hierbei hat es sich auf ein Gutachten gestützt, das dem Betroffenen erst bei seiner Anhörung ausgehändigt worden ist.

[3] Ohne den Betroffenen erneut anzuhören, hat das Landgericht dessen Beschwerde mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Behandlung bereits vor Ablauf von vier Monaten zu beenden ist, wenn das Behandlungsziel erreicht ist oder die erwartete Besserung nicht eintritt, oder unverzüglich, wenn schwerwiegende Nebenwirkungen einen Abbruch der Behandlung erforderlich machen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Feststellung erstrebt, dass die genannten Beschlüsse ihn in seinen Rechten verletzt haben.

[4] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts.

[5] 1. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der ­ hier vorliegenden ­ Erledigung der Unterbringungsmaßnahme aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 5 mwN).

[6] 2. Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 6 mwN) iVm § 32 Abs. 3 Satz 4 StrUG NRW, §§ 121 a, 121 b Abs. 1 StVollzG festzustellen ist.

[7] a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen verfahrensfehlerhaft war, weil ihm vor der Anhörung das Sachverständigengutachten vom 8. August 2022 nicht überlassen worden ist.

[8] aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 316 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht diesen Maßgaben entsprechend ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 8 mwN).

[9] bb) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.

[10] Den Gerichtsakten lässt sich entnehmen, dass dem Betroffenen das Sachverständigengutachten erst zu Beginn seiner Anhörung am 15. August 2022 ausgehändigt worden ist. Vor dem Anhörungstermin ist das Gutachten lediglich dem Verfahrenspfleger übersandt worden. Dies genügt jedoch nicht. Die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger ersetzt eine Bekanntgabe an den Betroffenen nicht, denn der Verfahrenspfleger ist ­ anders als ein Verfahrensbevollmächtigter ­ nicht Vertreter des Betroffenen im Verfahren (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 12 mwN).

[11] Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG, um von einer Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen absehen zu können, hat die Sachverständige in ihrem Gutachten verneint.

[12] b) Ebenfalls mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abgesehen hat.

[13] aa) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 15 mwN).

[14] bb) Nach diesen Maßgaben durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihm das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte diesen Mangel durch eine erneute Anhörung des Betroffenen beheben müssen.

[15] c) Der Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

[16] aa) Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 18 mwN).

[17] bb) Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen ­ wie hier ­ nicht rechtzeitig bekannt gegeben, ist von einer Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör auszugehen. Schon allein dieser Verfahrensfehler ist so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil er einer Verwertung des gemäß § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 19 mwN).

[18] Auch das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 20 mwN).

[19] cc) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der ­ hier durch Zeitablauf erledigten ­ Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 - FamRZ 2021, 462 Rn. 21 mwN).

[20] 3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Guhling Klinkhammer Günter

Nedden-Boeger Pernice

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