BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 244/20

01.12.2020

BUNDESGERICHTSHOF

vom

14. Oktober 2020

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 37, 68 Abs. 3 Satz 2, 276, 278


a) Ist dem Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 12. August 2020 ­ XII ZB 150/20 ­ juris).

b) Ist in erster Instanz die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben, hat das Beschwerdegericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 276 Abs. 1 FamFG erneut zu prüfen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 9. Mai 2018 ­ XII ZB 577/17 ­ FamRZ 2018, 1193).


BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 244/20 - LG Hanau, AG Hanau


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter Dose, die Richter Schilling, Dr. Günter und Guhling und die Richterin Dr. Krüger

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hanau vom 8. Mai 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Beschwerdewert: 5.000 €

Gründe:

[1] I. Die Betroffene wendet sich gegen die Bestellung eines Betreuers und die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts für den Bereich der Vermögenssorge.

[2] Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen eine berufsmäßige Betreuerin für den Aufgabenkreis "Sorge für die Gesundheit, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über die Unterbringung, Vermögenssorge, Vertretung in postalischen Angelegenheiten, soweit es sich nicht erkennbar um Privatpost handelt, Vertretung gegenüber Heim- und Klinikleitung, Behörden, Versicherungen und sonstigen Institutionen, Haus- und Grundstücksangelegenheiten" bestellt. Zudem hat es einen Einwilligungsvorbehalt für den Bereich der Vermögenssorge angeordnet.

[3] Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht ohne erneute Anhörung und ohne Bestellung eines Verfahrenspflegers zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Landgericht lediglich auf die Ausführungen des Amtsgerichts in dem angefochtenen Formularbeschluss Bezug genommen. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

[4] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Landgerichts. Die angefochtene Entscheidung ist in mehrfacher Hinsicht verfahrensfehlerhaft ergangen und hält deshalb einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

[5] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Landgericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über ihre Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss vom 3. März 2020 entschieden hat.

[6] a) Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 4. Dezember 2019 ­ XII ZB 392/19 ­ NJW 2020, 852 Rn. 5 mwN).

[7] b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über deren Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 3. März 2020 entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es die Betroffene angehört hat, ohne ihr zuvor das Sachverständigengutachten in ausreichender Weise bekanntzugeben.

[8] aa) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Entscheidungsgrundlage erfordert nach § 37 Abs. 2 FamFG, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Das setzt nach der ständigen Rechtsprechung des Senats voraus, dass der Betroffene vor der Entscheidung nicht nur im Besitz des schriftlichen Sachverständigengutachtens ist, sondern auch ausreichend Zeit hatte, von dessen Inhalt Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Wenn dem Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden ist, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel (vgl. Senatsbeschlüsse vom 12. August 2020 ­ XII ZB 150/20 ­ juris Rn. 10 mwN und vom 21. November 2018 ­ XII ZB 57/18 ­ FamRZ 2019, 387 Rn. 6 mwN).

[9] bb) Dem wird es nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht gerecht, wenn das Sachverständigengutachten ­ wie ausweislich des amtsgerichtlichen Anhörungsprotokolls auch im vorliegenden Fall geschehen ­ dem Betroffenen erst bei der persönlichen Anhörung ausgehändigt wird (vgl. Senatsbeschluss vom 12. August 2020 ­ XII ZB 150/20 ­ juris Rn. 11 mwN). Denn dadurch wird dem Betroffenen jede Möglichkeit genommen, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 12. Februar 2020 ­ XII ZB 179/19 ­ FamRZ 2020, 786 Rn. 12 mwN).

[10] 2. Weiter rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers verfahrensfehlerhaft unterblieben ist.

[11] a) Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschluss vom 12. Juni 2019 ­ XII ZB 51/19 ­ FamRZ 2019, 1647 Rn. 13 mwN).

[12] Nach diesen Maßgaben ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht, dass die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschluss vom 11. September 2019 ­ XII ZB 537/18 ­ FamRZ 2020, 50 Rn. 5 mwN). Zudem ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers in der Regel erforderlich, wenn ­ wie im vorliegenden Fall ­ die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts für das gesamte Vermögen in Betracht kommt. Denn hierbei handelt es sich um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Mai 2018 ­ XII ZB 577/17 ­ FamRZ 2018, 1193 Rn. 12).

[13] Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gemäß § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 ­ XII ZB 214/17 ­ NJW­RR 2018, 1030 Rn. 9 mwN).

[14] Ist in erster Instanz die Bestellung eines Verfahrenspflegers unterblieben, hat das Beschwerdegericht für die Beschwerdeinstanz das Vorliegen der Voraussetzungen des § 276 Abs. 1 FamFG erneut zu prüfen (Senatsbeschluss vom 9. Mai 2018 ­ XII ZB 577/17 ­ FamRZ 2018, 1193 Rn. 10 mwN).

[15] b) Nach den genannten Grundsätzen war im vorliegenden Fall die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG erforderlich. Das Amtsgericht hat in der ersten Instanz keinen Verfahrenspfleger bestellt, obwohl im vorliegenden Fall schon wegen des ­ einen Einwilligungsvorbehalt umfassenden ­ Verfahrensgegenstands evident geboten war, der Betroffenen einen Verfahrenspfleger zur Seite zu stellen. Zudem verdeutlicht der von der Betreuung erfasste umfangreiche Aufgabenkreis, dass die Betreuerin in allen wesentlichen Lebensbereichen maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgestaltung der Betroffenen hat. Da die Interessen der Betroffenen im Betreuungsverfahren nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 276 Abs. 4 FamFG vertreten worden sind, hätte nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers abgesehen werden können.

[16] Indessen enthält weder der angefochtene Beschluss des Landgerichts noch die Entscheidung des Amtsgerichts eine tragfähige Begründung für die unterbliebene Bestellung eines Verfahrenspflegers. Weil das Landgericht entgegen § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG nicht begründet hat, warum es keinen Verfahrenspfleger bestellt hat, kann der Senat weder prüfen, ob es von seinem Ermessen überhaupt Gebrauch gemacht hat, noch ob die Entscheidung ermessensfehlerfrei ergangen ist. Dass die vor dem Landgericht anwaltlich nicht vertretene Betroffene ihre Interessen selbst hätte wahrnehmen können, erscheint schon angesichts des für beinahe alle Angelegenheiten angenommenen Betreuungsbedarfs fernliegend. Dass ein Betreuungsbedarf für das erkennende Gericht offensichtlich ist, steht als solches der Notwendigkeit der Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht entgegen (Senatsbeschluss vom 11. September 2019 ­ XII ZB 537/18 ­ FamRZ 2020, 50 Rn. 7).

[17] 3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, wobei der Senat von der Möglichkeit des § 74 Abs. 6 Satz 3 FamFG Gebrauch macht.

[18] 4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose Schilling Günter

Guhling Krüger

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