BGH, Beschluss vom 16. April 2025 - XII ZB 290/24
BUNDESGERICHTSHOF
vom
16. April 2025
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
FamFG §§ 26, 294 Abs. 1, 278 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1
Im Verfahren über die Aufhebung einer Betreuung ist eine persönliche Anhörung des Betroffenen grundsätzlich unverzichtbar, wenn sich das Gericht zur Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens entschließt und dieses Gutachten als Tatsachengrundlage für seine Entscheidung heranziehen will (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 12. Januar 2022 XII ZB 442/21 FamRZ 2022, 982).
BGH, Beschluss vom 16. April 2025 - XII ZB 290/24 - LG Zweibrücken, AG Pirmasens
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. April 2025 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Pernice
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 1 wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Zweibrücken vom 3. Juni 2024 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Eine Wertfestsetzung (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe:
[1] I. Für die 87-jährige Betroffene, die beidseitig an extremer Hypakusis (Taubheit) leidet, wurden in Unkenntnis dieser Erkrankung eine Betreuung eingerichtet und ein Einwilligungsvorbehalt in Vermögensangelegenheiten angeordnet.
[2] Nachdem das Amtsgericht ein weiteres Gutachten und ein Obergutachten eingeholt hatte, die beide zu dem Ergebnis kamen, dass die medizinischen Voraussetzungen für die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung oder für die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts nicht vorliegen, weil bei der Betroffenen keine klinischen Symptome einer Demenz oder einer Alzheimererkrankung festzustellen seien und ihre freie Willensbildung nicht eingeschränkt sei, hat das Amtsgericht die Betreuung (einschließlich des Einwilligungsvorbehalts) ohne Anhörung der Betroffenen aufgehoben. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Sohnes der Betroffenen (Beteiligter zu 1) hat das Landgericht ohne Anhörung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Sohn der Betroffenen mit seiner Rechtsbeschwerde.
[3] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache.
[4] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht die Betroffene nicht angehört hat.
[5] a) Zwar verweist § 294 Abs. 1 FamFG für die Aufhebung einer Betreuung oder eines Einwilligungsvorbehalts nicht auf § 278 Abs. 1 FamFG, der eine persönliche Anhörung des Betroffenen vorschreibt. Dies ändert aber nichts daran, dass auch im Aufhebungsverfahren die allgemeinen Verfahrensregeln, insbesondere die Grundsätze des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und der Amtsermittlung (§ 26 FamFG), zu beachten sind. Nach § 26 FamFG hat das Gericht von Amts wegen die zur Feststellung der Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die geeignet erscheinenden Beweise zu erheben. Nach den Maßstäben des § 26 FamFG bestimmt sich, ob im Einzelfall auch im Aufhebungsverfahren eine persönliche Anhörung des Betroffenen durchzuführen ist, um dem Gericht dadurch einen unmittelbaren Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen. Im Einzelfall mag es dabei rechtlich unbedenklich sein, von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen im Aufhebungsverfahren abzusehen, wenn sich sein Begehren nach Aufhebung der Betreuung von vornherein als eine offenkundig aussichtslose oder querulatorisch erscheinende Eingabe darstellt. Eine Anhörung des Betroffenen ist demgegenüber auch im Aufhebungsverfahren generell unverzichtbar, wenn sich das Gericht wie hier zur Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens entschließt und dieses Gutachten als Tatsachengrundlage für seine Entscheidung heranziehen will (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Januar 2022 XII ZB 442/21 FamRZ 2022, 982 Rn. 12 mwN).
[6] b) Gemessen daran konnte auf eine Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren nicht verzichtet werden. Denn das Beschwerdegericht war gemäß § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nicht von der Verpflichtung entbunden, die Betroffene selbst anzuhören, weil das Amtsgericht nach der Einholung der Sachverständigengutachten keine Anhörung durchgeführt hatte.
[7] 2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen, weil diese noch nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass jedenfalls bei Zugrundelegung der zuletzt eingeholten Sachverständigengutachten die medizinischen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung und die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts nicht vorliegen dürften.
[8] Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen
grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Guhling Günter Nedden-Boeger
Krüger Pernice

