BGH, Beschluss vom 16. November 2022 - XII ZB 184/22

10.01.2023

BUNDESGERICHTSHOF

vom

16. November 2022

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


BGB § 1906 Abs. 1 Nr. 1


a) Auch bei einer bereits länger andauernden Unterbringung setzt die gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB erfolgende (weitere) zivilrechtliche Unterbringung eine ­ nach wie vor bestehende ­ ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen voraus (im Anschluss an Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950).

b) Besonderheiten können sich bei einer bereits mehrere Jahre währenden Unterbringung allerdings mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben (im Anschluss an Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950).


BGH, Beschluss vom 16. November 2022 - XII ZB 184/22 - LG Paderborn, AG Lippstadt


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. November 2022 durch die Richter Guhling, Prof. Dr. Klinkhammer, Schilling, Dr. Günter und Dr. Botur

beschlossen:

Dem Betroffenen wird als Beschwerdeführer für das Verfahren der Rechtsbeschwerde ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt beigeordnet (§§ 76 Abs. 1, 78 Abs. 1 FamFG iVm § 114 ZPO).

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Paderborn vom 7. April 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Rechtsbeschwerdeverfahren ist gerichtskostenfrei.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene wendet sich gegen die Genehmigung seiner weiteren Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung.

[2] Der Betroffene leidet an einem Abhängigkeitssyndrom, psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkohol, einem mittelschwer ausgeprägten amnestischen Syndrom sowie an einer organisch alkoholtoxisch bedingten Persönlichkeitsstörung. Seit dem Jahr 2008 ist er durchgehend in einer psychiatrischen Fachklinik geschlossen untergebracht, zuletzt aufgrund einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung vom 7. April 2021 bis längstens zum 1. März 2022.

[3] Mit Schreiben vom 22. November 2021 hat der Betreuer beantragt, die Unterbringung des Betroffenen für ein weiteres Jahr über den 1. März 2022 hinaus betreuungsgerichtlich zu genehmigen. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung des Betroffenen hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 14. Februar 2022 die weitere Unterbringung des Betroffenen bis längstens 5. Januar 2023 genehmigt und die Beteiligte zu 2 zur Verfahrenspflegerin bestellt.

[4] Die gegen diese Entscheidung gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen, wogegen er sich mit der Rechtsbeschwerde wendet.

[5] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

[6] 1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung Folgendes ausgeführt: Die Voraussetzungen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB seien gegeben. Der Betroffene leide nach den gutachterlichen Feststellungen an einer psychischen Krankheit im Sinne dieser Vorschrift. Aufgrund dieser Erkrankung bestehe bei dem Betroffenen die Gefahr, dass er sich selbst erheblichen gesundheitlichen Schaden zufüge. Die Selbstgefährdung des Betroffenen bestehe darin, dass er ohne geschlossene Rahmenbedingungen nicht nur schnell und erheblich wieder dem Alkohol zuspreche und sich so erheblich selbst gefährde. Auch könne er aufgrund des amnestischen Syndroms entsprechend gefährliche Umgebungsfaktoren nicht richtig für sich einschätzen. Der Rahmen der geschlossenen Unterbringung sei weiter erforderlich, um diesen Alkoholkonsum zu vermeiden. Im geschlossenen Rahmen könne zudem einer Verstärkung des hirnorganischen Psychosyndroms und der Impulsivität mit deutlicher Realitätskontrollstörung entgegengewirkt werden. Dies bestätigten auch aktuelle Rückfälle des Betroffenen am 19. Januar 2022, 22. Februar 2022 und 4. März 2022, die sich aus der Pflegedokumentation ergäben. Im Rahmen der geschlossenen Unterbringung könnten die Alkoholrückfälle vermieden oder zumindest reduziert und im Falle eines Rückfalls entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.

[7] Eine Alternative zur geschlossenen Unterbringung für die Abwendung der drohenden Gefahren sei ­ jedenfalls derzeit ­ nicht ersichtlich. Vielmehr bedürfe es zum eigenen Schutz des Betroffenen der klar strukturierten Umgebungsbedingungen im Rahmen der geschlossenen Unterbringung, der auch kein freier Wille des Betroffenen entgegenstehe.

[8] Trotz der langjährigen Unterbringung könne der Betroffene krankheitsbedingt weiterhin nicht die Ernsthaftigkeit und die Bedrohlichkeit seiner Krankheit erkennen. Eine Stabilisierung seines Zustands habe bisher noch nicht stattgefunden, wie die Rückfälle in der nahen und fernen Vergangenheit zeigten. Auch ließen die Äußerungen des Betroffenen im Rahmen der Anhörung sowie in seinem Schreiben vom 1. April 2022 erkennen, dass er seine medizinische Situation bagatellisiere und verneine. Seine Vorstellung, außerhalb des geschlossenen Settings allein und ohne Hilfe leben und arbeiten zu können, zeige, dass er seine Krankheit und die möglichen Folgen verharmlose. Auch die Sachverständige halte eine geschlossene Unterbringung des Betroffenen bei dieser selbstgefährdenden Tendenz für weiter erforderlich. Der Betroffene sehe durch das Zusammenspiel von amnestischem Syndrom und organischer Persönlichkeitsstörung durch Alkohol die Notwendigkeit einer Alkoholabstinenz nicht ein. Die beabsichtigte weitere Unterbringung des Betroffenen jedenfalls bis zum 5. Januar 2023 sei daher verhältnismäßig. Hinsichtlich der festgesetzten Frist folge das Gericht den Ausführungen der Sachverständigen. Es bestünden keine Anhaltspunkte, die Unterbringungszeit zu verkürzen.

[9] 2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

[10] a) Gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.

[11] aa) Zu Recht und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet hat das Landgericht das Vorliegen einer psychischen Erkrankung des Betroffenen bejaht. Zwar ist Alkoholismus für sich gesehen keine psychische Krankheit bzw. geistige oder seelische Behinderung in diesem Sinne, so dass allein darauf die Genehmigung der Unterbringung nicht gestützt werden kann. Etwas anderes gilt, wenn der Alkoholismus entweder im ursächlichen Zusammenhang mit einem geistigen Gebrechen steht, insbesondere einer psychischen Erkrankung, oder ein auf den Alkoholmissbrauch zurückzuführender Zustand eingetreten ist, der das Ausmaß eines geistigen Gebrechens erreicht hat (Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 10 mwN).

[12] bb) Diesen rechtlichen Vorgaben entsprechend hat das Landgericht die psychische Krankheit des Betroffenen nicht (allein) aus der von der Sachverständigen gestellten Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms vom Alkoholtyp abgeleitet, sondern vor allem auf das daneben bestehende mittelschwer ausgeprägte amnestische Syndrom sowie die beim Betroffenen von der Sachverständigen diagnostizierte alkoholtoxisch bedingte organische Persönlichkeitsstörung abgestellt. Hiergegen ist aus Rechtsgründen nichts zu erinnern.

[13] b) Die Annahme des Landgerichts, bei dem Betroffenen liege eine die zivilrechtliche Unterbringung rechtfertigende Selbstgefährdung im Sinne des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vor, ist auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen hingegen rechtsfehlerhaft.

[14] aa) Zwar verlangt die nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB mögliche zivilrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer wegen Selbstgefährdung des Betroffenen keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr. Notwendig, aber auch ausreichend ist vielmehr eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten des Betroffenen, so dass etwa auch eine völlige Verwahrlosung ausreichen kann, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist. Das setzt allerdings objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus. Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Suizidgefahr oder einer Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist im Wesentlichen Sache des Tatrichters (Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 14 mwN).

[15] Ist ein Betroffener ­ wie im vorliegenden Fall ­ schon mehrere Jahre untergebracht, gelten für die zivilrechtliche Unterbringungsgenehmigung zur Verhinderung der Selbstgefährdung keine anderen materiell-rechtlichen Anforderungen. Der Gefährdungsbegriff des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB bleibt unverändert, so dass die (weitere) Unterbringung eine ­ ohne die Freiheitsentziehung nach wie vor bestehende ­ ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betroffenen voraussetzt (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 15 mwN).

[16] In diesem Fall können sich allerdings Besonderheiten mit Blick auf die Feststellung der von § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB vorausgesetzten Gefährdung von Leib oder Leben des Betroffenen und die hierfür gebotene Begründungstiefe der gerichtlichen Entscheidung sowie für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung ergeben. Denn der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 3 iVm Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf persönliche Freiheit gewinnt mit Fortdauer der zivilrechtlichen Unterbringung an Gewicht, weil die Intensität des Grundrechtseingriffs zunimmt. Die Dauer der zivilrechtlichen Unterbringung beeinflusst mithin ebenfalls die Anforderungen an die Begründung der gerichtlichen Entscheidung. Für die im Rahmen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zu treffende Prognose, welcher Gefährdung von Leib oder Leben der Betroffene ohne eine freiheitsentziehende Unterbringung ausgesetzt wäre, muss die bereits verstrichene Unterbringungszeit berücksichtigt und geprüft werden, ob angesichts des Zeitablaufs die Selbstgefährdung in der für eine Unterbringung erforderlichen Intensität fortbesteht. Die die Gefährdungsprognose ursprünglich tragenden tatsächlichen Umstände werden mit wachsendem zeitlichen Abstand nicht selten an Gewicht verlieren, während die Entwicklung des Betroffenen in der Unterbringung Anhaltspunkte für eine geringere Wahrscheinlichkeit des Eintritts erheblicher Gesundheitsschäden oder gar einer Lebensgefahr außerhalb der Unterbringung liefern kann. Dies kann letztlich dazu führen, dass allein wegen des Zeitraums, in dem der Betroffene untergebracht war, eine hinreichend sichere Gefährdungsprognose nicht mehr möglich und daher die Beendigung der Unterbringung geboten ist. Zugleich wird sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei der Prüfung des Vorliegens milderer Mittel in Fällen einer lang andauernden Unterbringung die Frage aufdrängen, inwieweit es inzwischen vertretbar und praktisch durchführbar ist, dass der Betroffene ­ etwa in einer betreuten, aber offenen Wohnform mit entsprechend engmaschiger Begleitung ­ wieder ein Leben außerhalb der Unterbringung führt. Die tatrichterliche Entscheidung muss im Einzelnen offenlegen, dass der erkennende Richter diese Einflussmöglichkeiten der bereits verstrichenen Unterbringungsdauer auf die Frage des Fortbestehens der Unterbringungsvoraussetzungen erkannt und wie er sie in deren Prüfung hat einfließen lassen (Senatsbeschlüsse BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 17 ff. mwN und vom 10. Juni 2020 ­ XII ZB 215/20 ­ FamRZ 2020, 1406 Rn. 11).

[17] bb) Diesen rechtlichen Anforderungen wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

[18] (1) Zu der Frage, inwiefern die zum Zeitpunkt der landgerichtlichen Beschlussfassung mehr als 13 Jahre währende Unterbringung die für den Betroffenen zu treffende Gefährdungsprognose und die Verhältnismäßigkeit seiner weiteren Unterbringung beeinflusst, finden sich in dem angegriffenen Beschluss keine fallbezogenen Ausführungen.

[19] (2) Davon unabhängig sind die vom Landgericht angeführten Umstände jedenfalls auf der Grundlage der bislang hierzu getroffenen Feststellungen nicht geeignet, die weitere Unterbringung des Betroffenen nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB zu rechtfertigen.

[20] Das Landgericht begründet die mögliche Selbstgefährdung des Betroffenen im Wesentlichen damit, dass dieser außerhalb einer geschlossenen Einrichtung schnell und in erheblichem Umfang Alkohol zu sich nehmen werde und sich dadurch selbst gefährde. Die bloße Rückfallgefahr vermag allerdings eine Anordnung der zivilrechtlichen Unterbringung nicht zu rechtfertigen (Senatsbeschlüsse BGHZ 218, 111 = FamRZ 2018, 950 Rn. 10 und vom 30. März 2022 ­ XII ZB 35/22 ­ FamRZ 2022, 1134 Rn. 10). Ausführungen zu der zu befürchtenden Intensität und zu den konkret zu erwartenden, damit verbundenen gesundheitlichen Folgen für den Betroffenen finden sich in den Gründen der angefochtenen Entscheidung nicht. Ebenso wenig genügt zur Rechtfertigung einer weiteren Unterbringung des Betroffenen, dass dieser nach wie vor über keine Krankheitseinsicht verfügt und dazu neigt, seine Erkrankung zu verharmlosen.

[21] (3) Schließlich ist aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung nicht ersichtlich, dass das Landgericht geprüft hat, ob den für den Betroffenen bestehenden Gefährdungen nicht jedenfalls inzwischen etwa in einer offenen Wohnform bei engmaschiger Betreuung und Überwachung in vertretbarer Weise begegnet werden kann. Das Landgericht führt insoweit unter Bezugnahme auf das eingeholte Sachverständigengutachten lediglich aus, dass eine geschlossene Unterbringung des Betroffenen bei der selbstgefährdenden Tendenz seines Verhaltens weiter erforderlich sei. Tragfähige Feststellungen, warum dieser möglichen Selbstgefährdung nicht auch außerhalb einer geschlossenen Einrichtung begegnet werden kann, trifft das Landgericht nicht. Sie ergeben sich auch nicht aus dem in Bezug genommenen Sachverständigengutachten. Dass der Betroffene in der Vergangenheit bei unbegleiteten Einkaufsgängen rückfällig geworden ist, ist ebenfalls kein ausreichender Grund, der für sich genommen die weitere Unterbringung des Betroffenen erforderlich macht und die Möglichkeit anderer betreuter Wohnformen ausschließt.

[22] 3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben, und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist.

Guhling Klinkhammer Schilling

Günter Botur

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