BGH, Beschluss vom 17. April 2018 - VI ZR 140/17

12.06.2018

BUNDESGERICHTSHOF

vom

17. April 2018

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


BGB § 280, § 823 I; GG Art. 103 Abs. 1


Zur unterlassenen Berücksichtigung von durch eine Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift belegten Parteivortrag.


BGH, Beschluss vom 17. April 2018 - VI ZR 140/17 - KG Berlin, LG Berlin


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. April 2018 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Wellner, die Richterinnen von Pentz, Dr. Oehler und Dr. Roloff

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 6. März 2017 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihrer Klage wegen Verletzung der Aufklärungspflicht zurückgewiesen worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen.

Streitwert: bis 80.000 €

Gründe:

[1] I. Die Klägerin nimmt den Beklagten, einen niedergelassenen Orthopäden, wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch. Am 1. Oktober 2007 implantierte der Beklagte der damals 64 Jahre alten Klägerin eine Hüftprothese in der Form eines Oberflächenersatzes nach McMinn, bei der der geschädigte Gelenkkopf des Oberschenkelknochens nicht wie bei der konventionellen Totalendoprothese (nachfolgend: TEP) entfernt, sondern überkront, d.h. mit einer Hüftkappe versehen wird. Postoperativ litt die Klägerin weiterhin unter starken Schmerzen. Nachdem mehrfache Punktionen, mit denen Flüssigkeitsansammlungen abgeleitet wurden, und eine Kapseldenervierung im Jahre 2008 nicht zu einer Besserung der Beschwerden geführt hatten, entfernte der Beklagte am 2. März 2009 die Hüftkappe am Oberschenkelknochen und implantierte eine konventionelle Schaftprothese. Die bei der Erstoperation eingebrachte Hüftpfanne verblieb im Körper der Klägerin. Auch im weiteren Verlauf litt die Klägerin unter Schmerzen. Außerdem kam es zu mehrfachen Luxationen, die jeweils revidiert werden mussten. Am 3. Mai 2010 wurde deshalb die Hüftpfanne durch einen anderen Arzt ausgetauscht. Die Beschwerden der Klägerin dauerten an. Es kam zu einer Wanderung der neuen Pfanne und einem Bruch des Hüftknochens sowie zu weiteren Luxationen. Drei weitere Revisionsoperationen schlossen sich an. Die Klägerin wirft dem Beklagten vor, dass er ihr eine in Anbetracht ihres Alters und ihrer Konstitution nicht indizierte Oberflächenersatzprothese nach McMinn implantiert und diese nicht lege artis eingesetzt habe. Auch sei sie über die gleichwertige Behandlungsalternative einer Standard-Hüft-TEP nicht hinreichend aufgeklärt worden.

[2] Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. R. und nach dessen Anhörung abgewiesen. Das Kammergericht hat die Berufung der Klägerin nach Einholung eines ergänzenden Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. N. und dessen Anhörung zurückgewiesen. Es konnte Behandlungsfehler des Beklagten nicht erkennen. Die implantierte Oberflächenersatzprothese sei eine Alternative zur konventionellen Schaftendoprothese und damit zumindest relativ indiziert gewesen. Dem Beklagten sei auch eine Aufklärungspflichtverletzung nicht vorzuwerfen. Da die unterschiedlichen Prothesentypen jedenfalls aus der maßgeblichen ex ante Sicht 2007 keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf Risiken und Chancen aufgewiesen hätten, sei eine Aufklärung über die Behandlungsalternative einer konventionellen Hüft-TEP nicht erforderlich gewesen. Die von der Klägerin in diesem Zusammenhang zitierten Literaturfundstellen seien nicht relevant. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. N. habe es im Jahr 2007 noch keine ernstzunehmenden Stimmen dazu gegeben, dass die Kappenprothese die in sie gesetzten Hoffnungen zur Verlängerung der Standzeit nicht erfüllen würde. Soweit sich die Klägerin auf einen vermeintlich schlechteren Funktionsscore der Kappenprothese beziehe, habe der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass sie seine Äußerung im Gutachten, wonach die körperlichen Funktionsscores bei schlankeren Patienten günstiger gewesen seien, missverstanden habe. Er habe damit nicht ausdrücken wollen, dass die Oberflächenersatzprothese im Falle übergewichtiger Patienten im Vergleich zur konventionellen Hüftendoprothese nach dem Kenntnisstand von 2007 ungünstigere Erfolgschancen bzw. ein höheres Risiko bezüglich eines sog. Impingement-Syndroms gehabt habe. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

[3] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat teilweise Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur teilweisen Aufhebung des angegriffenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe die Klägerin nicht über die Behandlungsalternative einer konventionellen Hüft-TEP aufklären müssen, da die Prothese nach McMinn einerseits und die konventionelle TEP andererseits keine signifikanten Unterschiede in Bezug auf Risiken und Chancen aufwiesen, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

[4] 1. Die Bestimmung in Art. 103 Abs. 1 GG hat den Zweck, einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zu sichern (vgl. BVerfGE 119, 292, 296). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188, 190; 86, 133, 144? ff.). Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 19, 32, 36; 49, 325, 328; 55, 1, 6; 60, 175, 210; 64, 135, 143 f.) sowie Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen (vgl. BVerfGE 6, 19, 20; 15, 303, 307; 36, 85, 87). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, tatsächliche und rechtliche Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 60, 1, 5; 65, 227, 234; 84, 188, 190; 86, 133, 144 ff.; BVerfG, Beschluss vom 1. August 2017 - 2 BvR 3068/14, NJW 2017, 3218 Rn. 47 mwN).

[5] 2. Mit diesen Grundsätzen steht die angefochtene Entscheidung nicht im Einklang. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht den durch eine Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift belegten und durch die Angaben des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. N.

in der mündlichen Verhandlung grundsätzlich bestätigten Vortrag der Klägerin in ihrer Berufungsbegründung nicht berücksichtigt, wonach zum Operationszeitpunkt bekannt gewesen sei, dass die Komplikationsrate beim Oberflächenersatz im Vergleich zum konventionellen Gelenkersatz am Hüftgelenk erhöht gewesen sei; primäre Fehlerursache sei insbesondere das femoroazetabuläre Impingement. Der Vortrag der Klägerin wird durch die von ihr mit der Berufungsbegründung vorgelegten Veröffentlichung von Rudert/Gerdesmeyer/Rechl/

Juhnke/Gradinger in der Fachzeitschrift "Der Orthopäde" von April 2007 gestützt. Der gerichtliche Sachverständige hat diesen Vortrag grundsätzlich bestätigt. Er gab in der mündlichen Verhandlung an, ein Impingement tauche "bei Kappenprothesen häufiger einmal auf", weil man infolge der Kappe einen großen Kopfdurchmesser habe; eine Metall-Metall-Paarung und große Kopfdurchmesser seien fördernd für ein Impingement. Bei der Klägerin habe ein Impingement vorgelegen. Deshalb sei bei ihr auch ein vergleichsweise hoher Metallabrieb aufgetreten. Nach den Angaben des Sachverständigen im schriftlichen Sachverständigengutachten erfolgte die Aufnahme der Klägerin zur Durchführung der Revisionsoperation am 2. März 2009 wegen eines azetabülären Impingements der Oberflächenersatz-Hüftendoprothese mit rezidivierenden Gelenkergüssen. Auch die Kapseldenervierung am 3. November 2008 hatte der Beklagte unter der Diagnose eines Reizzustandes der linken Hüfte mit Impingement durchgeführt. Der Sachverständige bestätigte auch die Relevanz der vom Springer Verlag herausgegebenen Fachzeitschrift "Der Orthopäde". Er gab an, dass diese Zeitschrift "einen gewissen Stellenwert" habe. Hier finde ein wissenschaftlicher Peer Review statt. Die Zeitschrift publiziere auch Übersichtsartikel, die ihrerseits auf internationale Studien zurückgriffen. Dementsprechend legte der Sachverständige seinem Gutachten eine Veröffentlichung in dieser Fachzeitschrift zugrunde.

[6] Bei dieser Sachlage rügt die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach die von der Klägerin zitierten Literaturfundstellen im Rahmen der Aufklärungsverpflichtung nicht relevant seien und die Oberflächenersatzprothese kein höheres Risiko bezüglich eines sog. Impingement-Syndroms aufweise, nur darauf beruhen kann, dass das Berufungsgericht den Akteninhalt unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nur selektiv zur Kenntnis genommen hat.

[7] 3. Das Urteil wird auch nicht durch die Ausführungen des Berufungsgerichts getragen, wonach sich bei der Klägerin lediglich ein übliches Implantationsrisiko verwirklicht habe, das nicht auf der Neuheit der Methode McMinn beruht habe, sondern allen Eingriffen der Hüftendoprothetik immanent sei. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht auch in diesem Zusammenhang den Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung nicht berücksichtigt hat, wonach die Komplikationsrate bei der Verwendung des Oberflächenersatzes nach McMinn im Vergleich zur Einbringung konventionellen Gelenkersatzes am Hüftgelenk erhöht sei und primäre Fehlerursache des Oberflächenersatzes das femoroazetabuläre Impingement sei. Das Berufungsgericht hat übersehen, dass nach diesem Vortrag der Klägerin, der durch eine Veröffentlichung in der Fachzeitschrift "Der Orthopäde" sowie durch die Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung grundsätzlich bestätigt wird, bei der Verwendung einer Prothese nach McMinn nicht nur ein "übliches Implantationsrisiko", sondern ein erhöhtes Impingementrisiko besteht.

[8] 4. Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des durch die Vorlage der Veröffentlichung in der Fachzeitschrift "Der Orthopäde" konkretisierten und durch die Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung grundsätzlich bestätigten Vorbringens der Klägerin zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

[9] III. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist dagegen unbegründet, soweit sie sich gegen die Zurückweisung der Berufung der Klägerin gegen die Abweisung ihrer Klage wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung wendet. Die Nichtzulassungsbeschwerde zeigt insoweit nicht auf, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 S. 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 S. 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.

Galke Wellner von Pentz

Oehler Roloff

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