BGH, Beschluss vom 17. Mai 2018 - V ZB 54/17

26.06.2018

BUNDESGERICHTSHOF

vom

17. Mai 2018

in der Abschiebungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


AufenthG § 62 Abs. 3 Satz 3


Ein Ausländer hat es nicht im Sinne von § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu vertreten, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann, wenn dies allein darauf zurückzuführen ist, dass er seinen Reisepass auf einer Überfahrt über das Meer verloren hat und die Beschaffung eines Ersatzdokuments mehr als drei Monate in Anspruch nimmt. Der Verlust des Passes muss ihm vorzuwerfen sein; dies wäre etwa der Fall, wenn er ihn bei der Überfahrt absichtlich und ohne Not über Bord geworfen oder wenn er ihn so aufbewahrt hat, dass er in keiner Weise gegen einen Verlust gesichert war.


BGH, Beschluss vom 17. Mai 2018 - V ZB 54/17 - LG Traunstein, AG Laufen


Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 17. Mai 2018 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Dr. Kazele, die Richterin Haberkamp und den Richter Dr. Hamdorf

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Traunstein vom 26. Januar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste am 2. Dezember 2015 von Österreich kommend nach Deutschland ein. Die beteiligte Behörde beabsichtigte, den Betroffenen nach dem Rückübernahmeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Algerien dorthin abzuschieben. Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht durch Beschluss vom 3. Dezember 2015 Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 3. Mai 2016 angeordnet. Der Betroffene wurde am 4. Januar 2016 aus der Haft entlassen. Seine Beschwerde mit dem Ziel, die Rechtswidrigkeit der Haft festzustellen, hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.

[2] II. Das Beschwerdegericht bejaht die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung. Der Haftantrag der beteiligten Behörde sei den Vorgaben des § 417 Abs. 2

FamFG entsprechend begründet worden. Es habe u.a. der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5, § 2 Abs. 14 Nr. 4 und 5 AufenthG vorgelegen. Die Haftanordnung sei auch nicht deshalb rechtswidrig, weil die Abschiebung voraussichtlich nicht innerhalb von drei Monaten hätte durchgeführt werden können (§ 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG). Dies habe nämlich der Betroffene zu vertreten, weil er an der Passersatzpapierbeschaffung nicht mitgewirkt habe, obwohl deren Dauer hierdurch erheblich verkürzt worden wäre.

[3] III. Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

[4] 1. Die Feststellungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts sind nicht geeignet, die Anordnung einer über drei Monate hinausgehenden Haft zu tragen.

[5] a) Nach § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Zu vertreten hat der Ausländer nicht nur solche Umstände, die für die Behebung des Abschiebungshindernisses von Bedeutung sein können, sondern auch Gründe, die - von ihm zurechenbar veranlasst - dazu geführt haben, dass ein Hindernis für seine Abschiebung überhaupt erst entstanden ist, etwa indem er seinen Pass weggegeben hat (vgl. Senat, Beschluss vom 25. März 2010 ­ V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 20; Beschluss vom 19. Januar 2017 ­ V ZB 99/16, NVwZ 2017, 632 Rn. 6; Beschluss vom 13. Juli 2017 ­ V ZB 69/17, InfAuslR 2017, 454 Rn. 7).

[6] b) Zu diesen Voraussetzungen hat das Amtsgericht unter Verstoß gegen § 26 FamFG keinerlei Feststellungen getroffen. Solche Feststellungen waren auch nicht etwa deswegen entbehrlich, weil die beteiligte Behörde in ihrem Haftantrag angegeben hatte, der Betroffene habe nach eigenen Angaben seinen Reisepass auf der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland verloren, dies mache eine Passbeschaffung über das algerische Konsulat in Frankfurt erforderlich, die vier bis sechs Monate in Anspruch nehme. Denn auf dieser Grundlage steht nicht fest, dass der Betroffene die Verzögerung seiner Abschiebung um diesen Zeitraum zu vertreten hat. Ein Ausländer hat es nicht im Sinne von § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG zu vertreten, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann, wenn dies allein darauf zurückzuführen ist, dass er seinen Reisepass auf einer Überfahrt über das Meer verloren hat und die Beschaffung eines Ersatzdokuments mehr als drei Monate in Anspruch nimmt. Der Verlust des Passes muss ihm vorzuwerfen sein; dies wäre etwa der Fall, wenn er ihn bei der Überfahrt absichtlich und ohne Not über Bord geworfen oder wenn er ihn so aufbewahrt hat, dass er in keiner Weise gegen einen Verlust gesichert war. Solche Umstände sind hier nicht festgestellt. Das Beschwerdegericht hat offen gelassen, ob der Betroffene seinen Reisepass, wie von ihm in seiner Anhörung durch den ersuchten Richter geschildert, deswegen verloren hat, weil das für die Überfahrt genutzte Schlauchboot zu sinken drohte und alle Passagiere ihre Rucksäcke über Bord werfen mussten, um dies zu verhindern. Ein Verlust des Passes unter diesen Umständen wäre dem Betroffenen aber nicht vorzuwerfen.

[7] Entgegen der von der beteiligten Behörde in der Rechtsbeschwerdeerwiderung vertretenen Auffassung kann ein Vertretenmüssen in einer solchen Situation nicht damit begründet werden, dass es angesichts der gefährlichen Überfahrt in einem überfüllten, hochseeuntüchtigen Schlauchboot über das Mittelmeer für jeden vernünftig denkenden Menschen selbstverständlich sei, das einzige Dokument, mit dem die Herkunft und Identität nachzuweisen ist, so sicher und geschützt aufzubewahren, dass es auch bei einer Havarie nicht verloren gehe. Träfe diese Auffassung zu, hätte der Ausländer den Verlust seines Reisepasses außer in Fällen des Diebstahls stets zu vertreten und könnte bei jedem Ausländer, der ohne Reisedokumente in die Bundesrepublik einreist, eine Haft von mehr als drei Monaten angeordnet werden, wenn die Ersatzbeschaffung eine entsprechende Zeit in Anspruch nimmt. Dies würde dem Charakter von § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG als Ausnahmevorschrift nicht gerecht, nach der im Regelfall die Dauer von drei Monaten Haft nicht überschritten werden soll und eine Haftdauer von sechs Monaten (§ 62 Abs. 4 Satz 1 AufenthG) nicht ohne weiteres als verhältnismäßig angesehen werden darf (vgl. hierzu schon Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1157 Rn. 19).

[8] c) Der Verstoß des Amtsgerichts gegen seine Sachaufklärungspflicht ist auch nicht durch das Beschwerdegericht geheilt worden. Soweit dieses darauf abstellt, der Betroffene habe das Angebot, an der Passersatzpapierbeschaffung mitzuwirken und die Haftdauer hierdurch erheblich zu verkürzen, nicht wahrgenommen, reicht dies für eine Haftanordnung von mehr als drei Monaten ebenfalls nicht aus.

[9] aa) Von einem Unterlassen trotz bestehender Verpflichtung zu einem Tun kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn die Ausländerbehörde den Betroffenen über den Umfang seiner nicht ohne weiteres auf der Hand liegenden Mitwirkungspflichten (vgl. §§ 48, 49 AufenthG, § 15 AsylG) belehrt hat, sie ihn zur Vornahme der im jeweiligen Einzelfall erforderlichen konkreten Mitwirkungshandlung aufgefordert und der Betroffene deren Vornahme verweigert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Januar 2017 - V ZB 99/16, NVwZ 2017, 632 Rn. 6 zu § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).

[10] bb) Hierzu lassen sich der Beschwerdeentscheidung keine ausreichenden Feststellungen entnehmen. Das Beschwerdegericht verweist lediglich darauf, dass dem Betroffenen anlässlich der richterlichen Anhörung am 17. Dezember 2015 mitgeteilt worden sei, dass sich die Dauer der Passbeschaffung bei seiner Mitwirkung, etwa durch Vorlage einer Geburtsurkunde, erheblich verkürzen würde. Hierauf habe er nur geantwortet, dass er nicht zurückkehren wolle. Der Hinweis auf eine freiwillige Mitwirkungsmöglichkeit reicht aber für die Annahme, der Betroffene hätte die Vornahme einer Mitwirkungspflicht verweigert, nicht aus. Zudem wäre dieser Hinweis nicht hinreichend konkret auf eine bestimmte Mitwirkungshandlung bezogen, weil die Vorlage einer Geburtsurkunde - ungeachtet der vom Beschwerdegericht nicht aufgeklärten Frage, ob der Betroffene eine solche aus der Haft heraus hätte beschaffen können - nur beispielhaft genannt wurde.

[11] 2. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

[12] IV. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind. Die Sache ist an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG), damit die erforderlichen Feststellungen zu der Frage getroffen werden können, ob dem Betroffenen der Verlust seines Passes vorzuwerfen ist. Hierzu wird der Betroffene persönlich anzuhören sein (vgl. Senat, Beschluss vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, juris Rn. 10, insoweit nicht abgedruckt in NVwZ 2016, 1112 mwN). Der Senat geht davon aus, dass dies noch möglich ist, da ihm keine Informationen über eine zwischenzeitlich

erfolgte Abschiebung des Betroffenen vorliegen. Sollte die Anhörung nicht möglich sein, wäre zugunsten des Betroffenen davon auszugehen, dass er den Verlust seines Passes nicht zu vertreten hat; die Haft hätte ihn dann - ausgehend davon, dass die Abschiebung nicht innerhalb von drei Monaten durchführbar war, also gar nicht hätte angeordnet werden dürfen - in seinen Rechten verletzt.

Stresemann Schmidt-Räntsch Kazele

Haberkamp Hamdorf

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