BGH, Beschluss vom 2. Juni 2021 - XII ZB 126/21

20.07.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

2. Juni 2021

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 68 Abs. 3 Satz 2, 319 Abs. 1


a) Stützt sich das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten auf eine neue Tatsachengrundlage, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, ist eine erneute Anhörung des Betroffenen grundsätzlich geboten (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 7. Dezember 2016 - XII ZB 32/16 - FamRZ 2017, 477).

b) Dies gilt allerdings nicht, wenn der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme nur seine bereits in dem ursprünglichen Gutachten niedergelegten Ausführungen wiederholt oder bestätigt.


BGH, Beschluss vom 2. Juni 2021 - XII ZB 126/21 - LG Nürnberg-Fürth, AG Nürnberg


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. Juni 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Guhling

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss der 13. Zivilkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 24. Februar 2021 wird zurückgewiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Der Antrag, für die Durchführung dieses Rechtsmittels Verfahrenskostenhilfe zu gewähren, wird zurückgewiesen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg hat (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 ZPO).

Gründe:

[1] I. Die Betroffene wendet sich gegen die Genehmigung ihrer Unterbringung.

[2] Das Amtsgericht hatte unter anderem mit Beschlüssen vom 24. November 2020 und 2. Dezember 2020 die vorläufige Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bzw. in einer beschützenden Heimeinrichtung genehmigt. Mit einem weiteren Beschluss vom 30. Dezember 2020 genehmigte es die vorläufige Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bzw. einer geschlossenen soziotherapeutischen Einrichtung bis längstens 9. Februar 2021.

[3] Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 19. Januar 2021 die Unterbringung der Betroffenen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bzw. einer soziotherapeutischen Einrichtung oder der beschützenden Abteilung einer Pflegeeinrichtung bis längstens 28. Juni 2022 genehmigt. Gegen diese Entscheidung hat die Betroffene Beschwerde eingelegt, mit der sie zugleich beantragt hat, die Rechtswidrigkeit der amtsgerichtlichen Beschlüsse vom 24. November 2020, 2. Dezember 2020 und 30. Dezember 2020 festzustellen. Das Beschwerdegericht hat nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen und ohne die Betroffene erneut persönlich anzuhören deren Beschwerde mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Unterbringung bis längstens 28. Dezember 2021 genehmigt wird. Zudem hat es die Feststellungsanträge zurückgewiesen.

[4] Mit ihrer Rechtsbeschwerde wendet sich die Betroffene gegen diese Entscheidung, soweit darin ihre Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 19. Januar 2021 zurückgewiesen worden ist.

[5] II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

[6] 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung Folgendes ausgeführt:

[7] Nach den Feststellungen des Sachverständigen leide die Betroffene an einer submanischen Episode bei bekannter bipolarer Störung bzw. an einer hirnorganisch bedingten Wesensänderung durch massiven Alkoholabusus im Rahmen einer

Alkoholabhängigkeitserkrankung (hirnorganisches Psychosyndrom) mit deutlichen Hirnleistungsstörungen und erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. Aufgrund des mit dieser Krankheit einhergehenden ImpulskontrollverIusts und Vermeidungsverhaltens, der Bagatellisierungsneigung und Realitätsverleugnung bestehe bei ihr die Gefahr, dass sie sich erheblichen gesundheitlich-seelischen Schaden zufüge, indem sie lebensbedrohlich häuslich verwahrlose und sich insbesondere nicht ausreichend mit Nahrungsmitteln versorge. Außerdem bestehe die Gefahr eines schweren lebensbedrohlichen Entzugsdelirs mit Bewusstlosigkeit und Tod bei Alkoholmangel und gravierender sozialer Anpassungs- und Impulskontrollstörungen. Die Betroffene habe bereits einen Tag nach ihrer letzten stationären Entlassung erneut in stark alkoholisiertem Zustand stationär eingeliefert werden müssen. Eine Krankheits- und Behandlungseinsicht sei nicht gegeben, was auch durch ihre Äußerungen im Rahmen der gerichtlichen Anhörungen belegt werde. Sie sei derzeit zu einer freien Willensbestimmung nicht in der Lage. Anders als vom Sachverständigen empfohlen, sei jedoch die Unterbringungsdauer auf ein Jahr zu verkürzen. Der Sachverständige habe in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11. Februar 2021 insoweit lediglich ausgeführt, die Betroffene benötige aufgrund der Schwere und der erheblichen Chronifizierung ihres Krankheitsbildes eine lang dauernde strukturierende soziotherapeutische Maßnahme mit stabilisierender Alkoholentwöhnungsbehandlung, wofür eine Dauer von zwölf Monaten nicht ausreichend erscheine. Diese Ausführungen des Sachverständigen könnten vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Unterbringungsdauer von über einem Jahr nicht begründen.

[8] 2. Die angefochtene Entscheidung hält einer rechtlichen Nachprüfung stand. Insbesondere greift die von der Rechtsbeschwerde erhobene Rüge, die Betroffene sei verfahrensfehlerhaft im Beschwerdeverfahren nicht erneut persönlich angehört worden, obwohl das Beschwerdegericht mit der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen vom 11. Februar 2021 eine neue Tatsachengrundlage für seine Entscheidung herangezogen habe, nicht durch.

[9] a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich von diesem einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Diese Vorschrift sichert im Unterbringungsverfahren nicht nur den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Durch sie soll auch sichergestellt werden, dass sich das Gericht vor der Entscheidung über den mit einer Unterbringung verbundenen erheblichen Grundrechtseingriff einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen verschafft, durch den es in die Lage versetzt wird, namentlich ein eingeholtes Sachverständigengutachten zu würdigen. Die Pflichten aus § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG gelten gemäß § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren (Senatsbeschluss vom 7. Dezember 2016 - XII ZB 32/16 - FamRZ 2017, 477 Rn. 5 mwN).

[10] Allerdings räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind. Daher ist eine erneute Anhörung des Betroffenen grundsätzlich geboten, wenn sich das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten auf eine neue Tatsachengrundlage stützt, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Dezember 2016 - XII ZB 32/16 - FamRZ 2017, 477 Rn. 6 mwN). Dies gilt allerdings nicht, wenn der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme nur seine bereits in dem ursprünglichen Gutachten niedergelegten Ausführungen wiederholt oder bestätigt.

[11] b) Im vorliegenden Fall hat das Beschwerdegericht zwar eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen eingeholt und diese auch zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat es damit jedoch keine neue oder geänderte Tatsachengrundlage herangezogen, die eine erneute Anhörung der Betroffenen erforderlich gemacht hätte. Der Sachverständige hat bereits in seinem Gutachten vom 29. Dezember 2020 zur Unterbringungsdauer ausgeführt, dass die freiheitsentziehende Unterbringung 18 Monate dauern sollte, um eine nachhaltige Stabilisierung der Betroffenen zu erreichen. Auf die Frage des Beschwerdegerichts, warum hier eine Unterbringungsdauer von einem Jahr nicht ausreichend sei, wiederholte der Sachverständige in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11. Februar 2021 die bereits in seinem Gutachten niedergelegte Auffassung, dass die Betroffene aufgrund der Schwere und der erheblichen Chronifizierung ihres Krankheitsbildes eine langdauernde strukturierende sozialtherapeutische Maßnahme mit einer stabilisierenden Alkoholentwöhnung benötige, wofür eine Dauer von zwölf Monaten nicht ausreichend sei. Durch die ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen wurden dem Beschwerdegericht folglich keine neuen entscheidungserheblichen Erkenntnisse vermittelt. Der Sachverständige hat in der Stellungnahme lediglich seine bereits in dem ursprünglichen Gutachten geäußerte Auffassung zur notwendigen Dauer der Unterbringung bestätigt, ohne hierfür eine zusätzliche Begründung zu geben. Unter diesen Umständen ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung der Betroffenen in der Beschwerdeinstanz abgesehen hat.

[12] 3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose Schilling Günter

Nedden-Boeger Guhling

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