BGH, Beschluss vom 21. Mai 2019 - VI ZR 54/18

16.07.2019

BUNDESGERICHTSHOF

vom

21. Mai 2019

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO § 285 Abs. 1, § 296a; ZPO § 544 Abs. 7; GG Art. 103 Abs. 1


Zur Verletzung rechtlichen Gehörs durch Übergehen von Parteivortrag in einem zum Zwecke der Beweiswürdigung nach Beweisaufnahme nachgelassenen Schriftsatz.


BGH, Beschluss vom 21. Mai 2019 - VI ZR 54/18 - OLG Frankfurt am Main, LG Frankfurt am Main


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Mai 2019 durch die Richterin am Bundesgerichtshof von Pentz als Vorsitzende, die Richterinnen

Dr. Oehler und Müller, die Richter Dr. Klein und Böhm

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 12. Dezember 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 350.000 €

Gründe:

[1] I. Die Kläger machen gegen die beklagten Ärzte in ursprünglich drei, beim Berufungsgericht verbundenen Verfahren aus eigenem und ererbtem Recht Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit der Behandlung ihres verstorbenen Vaters geltend. Der Beklagte zu 1 ist Leiter des cardiovaskulären Centrums in F. (CVC), die Beklagte zu 2 war dort als Ärztin angestellt. Der Vater der Kläger, der Allgemeinarzt Dr. K., stellte sich wegen Herzrhythmusstörungen und der Besorgnis eines drohenden Herzkranzgefäßverschlusses im CVC vor. Am 14. September 2009 wurden bei ihm eine Herzkatheteruntersuchung mit einer sogenannten PTCA (perkutane transluminale Koronarangioplastie) vorgenommen, die rechte Koronararterie erweitert und mit einem Stent versorgt. Am 29. September 2009 leitete Dr. K. eigenständig wegen zunehmender Schwellung seiner Unterschenkel eine antibiotische und antidiuretische Behandlung ein. Er stellte sich am 8. Oktober 2009 wegen zunehmender Ödeme seiner Beine erneut im CVC vor. Behandelt wurde er durch die Beklagte zu 2, die u.a. folgenden Untersuchungsbefund erhob: "Deutliche trophische Störungen beidseits, Wunden am Digitus 1 links sowie oberflächlich medial rechts, ..., deutliche rötlich-livide Verfärbung, ... Unterschenkelödeme beidseits". Im Arztbrief anlässlich dieser Untersuchung wurde aufgrund der "Dopplerverschlussdrücke hochgradiger Verdacht auf arterielle Verschlusserkrankung" festgehalten. Am 20./21. Oktober 2009 hielt sich der Patient zur Kardioversion erneut im CVC auf. Eine für den 28. Oktober 2009 geplante Behandlung der arteriellen Verschlusskrankheit mittels PTA (perkutaner transluminaler Angioplastie) sagte er aufgrund einer Erkrankung ab. Ab dem 23. Oktober 2009 nahm er selbst Wundabstriche von seinen Beinen ab. In Abhängigkeit von den mikrobiologischen Befunden wechselte er mehrmals das Antibiotikum. Unter anderem wurde mehrfach ein multiresistenter Stenotrophomonas maltophilia nachgewiesen. Im Januar 2010 verstarb Herr Dr. K.

[2] Die Kläger haben behauptet, es sei bereits am Tag der PTCA zu einer zunächst leichteren Schwellung und Überwärmung des rechten Unterschenkels gekommen. Die Schwellung habe zugenommen und ca. nach 10 Tagen hätten sich im Bereich der Wade mehrere mit klarer Flüssigkeit gefüllte Bläschen, ca.

2-5 mm groß, gezeigt, die Anfang Oktober angefangen hätten aufzugehen und zu nässen. Auch sei es zu zwei kleinen Erosionen im Bereich der rechten Ferse und des rechten Außenristes gekommen. Zur Abklärung dieses Befundes habe ihr Vater den Termin am 8. Oktober 2009 im CVC vereinbart. Eine Abklärung sei jedoch nicht erfolgt. Bei seinem nächsten Aufenthalt im CVC am 20. Oktober 2009 habe er auf die seiner Ansicht nach durch die PTCA entstandene Komplikation im Bereich des rechten Fußes und Unterschenkels und eine inzwischen auch im Bereich des linken Fußes entstandene Erosion am linken Außenrist hingewiesen und ohne Erfolg um Abklärung und Behandlung gebeten. Nach einer massiven Verschlechterung seines Allgemeinzustands sei er nach erfolglosem Versuch der arteriellen Rekanalisation und Amputation der Beine verstorben. Der Keim Stenotrophomonas maltophilia könne nur anlässlich der PTCA in die Blutbahn gelangt sein. Die Beklagte zu 2 hätte bereits am 8. Oktober 2009 auf eine mögliche Infektion der Beine hinweisen und hinsichtlich dieser weitere Untersuchungen veranlassen müssen. Es habe sich um eine feuchte Gangrän gehandelt. Es hätte ein Wundabstrich vorgenommen werden müssen; bei einer ordnungsgemäßen Behandlung wäre der Patient nicht verstorben. Das Landgericht hat die Klagen abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Kläger zurückgewiesen. Hiergegen wenden sie sich mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

[3] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

[4] 1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, hinsichtlich des Vorwurfs, die Beklagte zu 2 hätte bereits am 8. Oktober auf eine mögliche Infektion der Beine hinweisen und insoweit weitere Untersuchungen veranlassen müssen, stehe ein Behandlungsfehler nicht fest. Nach den Ausführungen des Sachverständigen wäre ein Behandlungsfehler nur in Betracht gekommen, wenn bei dem Patienten am 8. Oktober 2009 tatsächlich eine feuchte Gangrän vorgelegen hätte. Dieser Beweis sei nicht gelungen. Die Beklagte zu 2 habe bei ihrer informatorischen Anhörung vor dem Senat erklärt, die Wunde sei trocken und nicht feucht gewesen. Sie sei nicht gerötet und auch nicht tief gewesen. Dem entspreche tendenziell auch die Dokumentation der Beklagten. Ausweislich der Ausführungen des Sachverständigen entspreche die Beschreibung in der Dokumentation wohl einer trockenen Gangrän, wenngleich es nicht eindeutig sei. Die Frage, ob eine weitere Abklärung eines Keims bei einer feuchten Gangrän hätte erfolgen sollen, könne aus Sicht des Gutachters bejaht werden, besonders dann, wenn noch keine Antibiotikabehandlung durchgeführt worden sei. Die Zeugin S. habe im Rahmen ihrer Vernehmung keine konkreten Angaben zu dem Zustand der Wunde am 8. Oktober 2009 machen können. Sie sei auch bei der Untersuchung des Patienten im CVC durch die Beklagte zu 2 nicht dabei gewesen. Es bedürfe keiner Entscheidung, ob es jedenfalls am Zurechnungszusammenhang zwischen dem etwaigen Behandlungsfehler und dem Schaden fehle.

[5] 2. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

[6] a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Daraus folgt zwar nicht, dass das Gericht verpflichtet wäre, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. mwN). Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Gründen aber verarbeitet werden (vgl. BVerfGE 47, 182, 189). Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133, 146; BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2012 - 1 BvR 1999/09, juris Rn. 13).

[7] b) Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht beanstandet, genügt das Berufungsurteil diesen Anforderungen nicht.

[8] Das Berufungsgericht hat zwar den Vortrag der Kläger zu bereits am 8. Oktober 2009 nässenden und aufgegangenen Bläschen und Erosionen im Bereich des rechten Fußes zur Kenntnis genommen und zu dieser Behauptung u.a. auch die benannte Zeugin S. vernommen. Nach der Beweisaufnahme mit Anhörung des Sachverständigen ist den Parteien ausweislich des Protokolls aber nachgelassen worden, zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme bis zum 28. November 2017 schriftsätzlich vorzutragen, und es wurde ein Termin zur Verkündung einer Entscheidung bestimmt. Am 12. Dezember 2017 hat das Berufungsgericht sein Urteil verkündet. Innerhalb der eingeräumten Schriftsatzfrist haben die Kläger vorgetragen, dass sich die Zeugin S., die Lebensgefährtin und Praxisangestellte des Dr. K., nicht mehr genau an die Daten und ihre Beobachtungen erinnert habe, es gebe aber ein zeitnahes Gedächtnisprotokoll der Zeugin, auf das sie bereits ihren Klagevortrag gestützt hätten. Darin habe die Zeugin festgehalten, dass nach dem Eingriff am 14. September 2009 die Schwellung im Bereich des rechten Unterschenkels zugenommen habe, sich nach ca. 10 Tagen (25.09.2009) im Bereich der linken Wade mehrere mit klarer Flüssigkeit gefüllte Bläschen gezeigt hätten, die Anfang Oktober angefangen hätten aufzugehen und zu nässen, und es zu zwei kleinen Erosionen im Bereich der rechten Ferse sowie des rechten Außenristes gekommen sei. Diese Bläschen hätten bei der Ultraschalluntersuchung der Gefäße der Beine sowie der Druckmessung auffallen müssen.

[9] Indem das Berufungsgericht danach weder die mündliche Verhandlung wieder eröffnet hat noch auf das Gedächtnisprotokoll und diesen klägerischen Vortrag in seiner Entscheidung eingegangen ist, hat es den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Ob ein Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis (§ 285 ZPO) und danach eine erneute Verhandlung oder die Anordnung des schriftlichen Verfahrens hier geboten waren (vgl. BGH, Beschluss vom 18. September 2006 ­ II ZR 10/05, WM 2006, 2328, juris Rn. 4; Senatsbeschluss vom 12. Januar 1982 ­ VI ZR 41/81, NJW 1982, 1335; Senatsurteil vom 17. April 1984 ­ VI ZR 220/82, NJW 1984, 1823; BGH, Urteil vom 12. März 2004 ­ V ZR 37/03, NJW 2004, 2019, juris Rn. 19; BeckOK ZPO/Bacher, 32. Ed. 1.3.2019, ZPO § 285 Rn. 6, 7; Schäfer, NJW 2013, 654 mwN), muss nicht entschieden werden. Jedenfalls wenn das Gericht im Anschluss an eine Beweisaufnahme einen Schriftsatznachlass zur Stellungnahme zum Beweisergebnis einräumt, bringt es zum Ausdruck, dass es eine Stellungnahme im Termin nicht erwartet und fristgemäß erfolgten Vortrag zum Beweisergebnis berücksichtigen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 ­ IV ZR 230/11, juris Rn. 16 f.). Hieran ist es dann gebunden (vgl. Zöller/Greger, ZPO 32. Aufl., § 285 Rn. 2, § 296a Rn. 4).

[10] c) Auf diesem Verfahrensfehler kann die Entscheidung beruhen, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Berufungsgericht bei Berücksichtigung des nachgelassenen Vorbringens zu einer erneuten Vernehmung der Zeugen S. veranlasst gesehen und dass ein Vorhalt dieser Angaben möglicherweise zu einer veränderten Aussage der Zeugin S. und einer abweichenden Beweiswürdigung des Berufungsgerichts geführt hätte.

von Pentz Oehler Müller

Klein Böhm

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