BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2020 - XII ZR 114/19

01.12.2020

BUNDESGERICHTSHOF

vom

21. Oktober 2020

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 398 Abs. 1, 529 Abs. 1 Nr. 1


Das Berufungsgericht ist zur erneuten Vernehmung von Zeugen verpflichtet, wenn es deren Aussagen anders verstehen will als die Vorinstanz. Unterlässt es dies, verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 21. März 2012 ­ XII ZR 18/11 ­ NJW­RR 2012, 704).


BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2020 - XII ZR 114/19 - OLG Dresden, LG Chemnitz


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Guhling

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 9. Oktober 2019 zugelassen, soweit darin zum Nachteil der Beklagten entschieden worden ist.

Auf die Revision der Beklagten wird das vorgenannte Urteil im Kostenpunkt und im Umfang der zugelassenen Revision aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Wert: 30.855 €

Gründe:

[1] I. Zwischen dem Kläger und den Beklagten bestand ein bis Ende September 2017 befristetes Mietverhältnis über in einer Halle gelegene gewerblich genutzte Flächen und Räume. Einer im Juli 2015 erklärten außerordentlichen Kündigung des Klägers wegen Zahlungsverzugs traten die Beklagten zunächst entgegen. Im März 2016 akzeptierten sie die außerordentliche Kündigung, kündigten selbst außerordentlich, räumten das Objekt zum 31. März 2016 und teilten dies dem Kläger mit. Der Kläger macht die Miete bzw. einen Mietausfallschaden unter anderem für die Zeit von April 2016 bis zum vereinbarten Ende des Mietverhältnisses am 30. September 2017 in Höhe von 30.855 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten geltend. Streitig ist, ob das Mietverhältnis aufgrund einer mündlichen Vereinbarung, künftig andere als die vertraglich vereinbarten Flächen zu nutzen, ordentlich kündbar war.

[2] Das Landgericht hat eine solche Vereinbarung nach Einvernahme mehrerer Zeugen festgestellt und die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat der Klage teilweise stattgegeben, ohne sämtliche Zeugen erneut zu hören. Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

[3] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO im Umfang der Anfechtung zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und insoweit zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

[4] 1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Der Kläger habe einen Anspruch auf die vertraglich vereinbarte Miete aus § 535 Abs. 2 BGB, weil die Kündigung der Beklagten unwirksam sei. Der Mietvertrag aus dem Jahr 2007 nebst Nachtrag aus dem Jahr 2012 entspreche dem Formerfordernis des § 550 BGB. Die Beklagten hätten eine spätere verbindliche Vereinbarung über eine Änderung der Vertragsflächen nicht bewiesen. Hierfür hätten übereinstimmende Willenserklärungen zur Abänderung des Vertrags abgegeben werden müssen, was die vom Landgericht vernommenen Zeugen so nicht bestätigt hätten und auch nicht aus ihren Aussagen abgeleitet werden könne. Die Zeugen hätten sich lediglich an ein Einverständnis mit dem Flächentausch und an die tatsächliche Nutzung, nicht aber an konkrete vertragliche Vereinbarungen erinnern können.

[5] 2. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass dem angefochtenen Urteil ein entscheidungserheblicher Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG zugrunde liegt, weil es die Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen abweichend gewürdigt hat, ohne sie erneut zu vernehmen.

[6] a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszugs gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten. Das gilt insbesondere für die erneute Vernehmung von Zeugen, die grundsätzlich gemäß § 398 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Berufungsgerichts steht. Das Berufungsgericht ist deshalb verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will. Unterlässt es dies, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (Senatsbeschluss vom 21. März 2012 ­ XII ZR 18/11 ­ NJW­RR 2012, 704 Rn. 6 mwN). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (d. h. seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit (d. h. die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen (Senatsbeschluss vom 21. März 2012 ­ XII ZR 18/11 ­ NJW­RR 2012, 704 Rn. 7 mwN; BVerfG NJW 2017, 3218 Rn. 57 mwN). Hat das erstinstanzliche Gericht dagegen über streitige Äußerungen und die Umstände, unter denen sie gemacht worden sind, Zeugen vernommen und ist es aufgrund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen, so darf das Berufungsgericht diese Aussagen nicht verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen selbst vernommen zu haben (BGH Urteil vom 18. Oktober 2006 ­ IV ZR 130/05 ­ NJW 2007, 372 Rn. 23 mwN).

[7] b) Nach diesen Maßstäben hätte das Berufungsgericht die vom Landgericht vernommenen Zeugen unabhängig von entsprechenden Hinweisen der Beklagten erneut vernehmen müssen, weil es deren Aussagen anders als der Richter der Vorinstanz verstanden hat. Dieser hat den von ihm als glaubhaft eingestuften Zeugenaussagen eine vertragliche Einigung über einen Flächentausch entnommen und daher festgestellt, dass der schriftliche Mietvertrag eine andere als die tatsächlich zuletzt vermietete Fläche betraf.

[8] Hierbei handelt es sich nicht lediglich um eine andere rechtliche Würdigung des vom Landgericht festgestellten Erklärungsgehalts der Abreden, die keinen Bezug zur Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit der Aussagen aufweist. Denn das Berufungsgericht hat nur einzelne Passagen der Zeugenaussagen herangezogen und sie in Bezug auf den Abschluss einer Vereinbarung für unergiebig erachtet, ohne zu berücksichtigen, dass die Zeugen zur Überzeugung des Landgerichts eine Einigung bekundet hatten. Die landgerichtliche Feststellung deckt sich zudem mit der Niederschrift der Vernehmung, wonach der Flächentausch "so vereinbart" bzw. "fest vereinbart" worden war und man sich "im Ergebnis einig" gewesen sei. Daher wäre das Berufungsgericht nur durch eine Wiederholung der Vernehmung in der Lage gewesen, durch Nachfragen zu ergründen, welche Tatsachen die Zeugen zu ihren Bekundungen veranlasst haben (vgl. BGH Urteile vom 12. Dezember 1984 ­ IVa ZR 216/82 ­ NJW­RR 1986, 284; vom 22. Mai 2002 ­ VIII ZR 337/00 ­ NJW­RR 2002, 1500 und vom 14. Juli 2009 ­ VIII ZR 3/09 ­ NJW­RR 2009, 1291 Rn. 4 ff. mwN).

[9] c) Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich und das angefochtene Urteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, wenn es die Zeugen erneut vernommen hätte, eine zur Kündbarkeit gemäß § 550 BGB führende wesentliche Vertragsänderung, künftig eine andere Fläche zu vermieten, festgestellt hätte (vgl. Senatsurteil vom 25. November 2015 ­ XII ZR 114/14 ­ NJW 2016, 311 Rn. 12 mwN; BGH Beschluss vom 24. Januar 2012 ­ VIII ZR 235/11 ­ NZM 2012, 502 Rn. 3 zu einer Auswechslung des Mietgegenstandes). Die sich aus einer solchen formunwirksamen Vereinbarung ergebende vorzeitige Kündigungsmöglichkeit würde den vom Kläger geltend gemachten Ansprüchen entgegenstehen (vgl. Senatsbeschluss vom 17. März 2004 - XII ZR 254/00 ­ GuT 2004, 120, 121 zu einem Schadensersatzanspruch des Mieters). Weil auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen jedenfalls eine Beendigung des Mietverhältnisses durch die im Juli 2015 ausgesprochene Kündigung des Klägers bereits vor dem 1. April 2016 nicht ausgeschlossen werden kann, ist die angefochtene Entscheidung insgesamt aufzuheben, soweit zum Nachteil der Beklagten entschieden wurde. Dabei steht eine fehlende Mitwirkung des Klägers entgegen der Auffassung der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung einer Vertragsänderung nicht entgegen, weil er gemäß § 566 Abs. 1 BGB erst mit dem mehrere Monate nach der behaupteten Abrede erfolgten dinglichen Eigentumserwerb in die Vermieterstellung eingetreten ist.

[10] 3. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, soweit die Beklagten verurteilt worden sind, und die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

[11] Die Zurückverweisung gibt dem Berufungsgericht Gelegenheit, sich mit dem weiteren Vorbringen im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren zu § 546 a Abs. 1 BGB wegen der vom Kläger behaupteten unzureichenden Rückgabe der Schlüssel und den weiteren von den Beklagten behaupteten formlosen Abreden (vgl. Senatsurteile vom 19. September 2007 ­ XII ZR 198/05 ­ NJW 2008, 365 Rn. 11 ff. und vom 13. November 2013 ­ XII ZR 142/12 ­ NZM 2014, 34 Rn. 22) zu befassen haben. Bei Bejahung eines Mietausfallschadens wäre zudem die Senatsrechtsprechung zur sekundären Darlegungslast des Klägers zu beachten (vgl. Senatsurteile vom 16. Februar 2005 ­ XII ZR 162/01 ­ NZM 2005, 340, 341 und vom 24. Januar 2018 ­ XII ZR 120/16 ­ NJW­RR 2018, 714 Rn. 28 f.).

[12] Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird nach § 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO abgesehen.

Dose Schilling Günter

Nedden-Boeger Guhling

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