BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 88/20

16.11.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

22. Juni 2021

in der Ausreisegewahrsamssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; FamFG § 28 Abs. 1 Satz 2, § 37 Abs. 2


Ein wegen Ablaufs der Haft- oder Gewahrsamszeit oder des Datums der geplanten Abschiebung oder Überstellung unmittelbar bevorstehendes Haftende rechtfertigt es nicht, zulasten eines Beteiligten auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu verzichten. Kann das Haftaufhebungs-, Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdeverfahren vor der Abschiebung oder Überstellung nicht verfahrensordnungsgemäß abgeschlossen werden, kann es der Betroffene im Hinblick auf sein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme mit einem Antrag entsprechend § 62 FamFG fortsetzen.


BGH, Beschluss vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 88/20 - LG Freiburg im Breisgau, AG Freiburg im Breisgau


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Juni 2021 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richterinnen Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt und die Richterin Dr. Rombach

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde wird der Beschluss des Landgerichts Freiburg im Breisgau - 4. Zivilkammer - vom 4. Dezember 2020 im Kostenpunkt aufgehoben.

Die Beteiligten tragen ihre außergerichtlichen Kosten in allen Instanzen selbst. Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein russischer Staatsangehöriger, reiste 2013 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Dieser wurde mit seit dem 4. November 2017 bestandskräftigem Bescheid vom 18. Oktober 2017 unter Gewährung einer Ausreisefrist von 30 Tagen abgelehnt. Für den Fall der Nichteinhaltung der Frist wurde dem Betroffenen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Eine freiwillige Ausreise erfolgte nicht.

[2] Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 30. November 2020 Ausreisegewahrsam gegen den Betroffenen bis zum 7. Dezember 2020 angeordnet. Mit Beschluss vom 4. Dezember 2020 hat das Landgericht auf Beschwerde des Betroffenen diese Anordnung aufgehoben und den Antrag auf Gewahrsamsanordnung abgelehnt. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der beteiligten Behörde.

[3] II. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

[4] 1. Das Beschwerdegericht meint, das Amtsgericht habe die Tatbestandsvoraussetzungen des § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. d AufenthG zwar zu Recht bejaht. Allerdings ergebe eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an einer zügigen Durchführung der Abschiebung, dass der Antrag auf Anordnung von Ausreisegewahrsam abzulehnen sei. Ausreisegewahrsam könne im Fall des Betroffenen nicht allein wegen der erheblichen Überschreitung der Ausreisefrist angeordnet werden. Aus der Ausländerakte ergäben sich Anhaltspunkte für eine psychiatrische Erkrankung des Betroffenen. Nach Aktenlage stehe der Betroffene unter Betreuung, woraus folge, dass er seine Angelegenheiten offenbar ganz oder teilweise nicht besorgen könne. Etwaige Versäumnisse im Zusammenhang mit der Ausreisepflicht seien daher möglicherweise krankheitsbedingt. Ein nicht datierter Aktenvermerk in der Ausländerakte lege zudem nahe, dass alleiniger Grund für die Beantragung des Ausreisegewahrsams die kontrollierte Durchführung eines Coronavirus-Tests gewesen sei, dessen negatives Ergebnis dem Zielstaat habe nachgewiesen werden müssen. Dieses Erfordernis könne aber nicht zulasten des Betroffenen gehen und rechtfertige daher keine Freiheitsentziehung. Weder sei dargelegt noch ersichtlich, dass der Betroffene nicht auch außerhalb des Gewahrsams zu einem Coronavirus-Test mit anschließender häuslicher Quarantäne bereit sei. Rechtliches Gehör habe der beteiligten Behörde vor der Entscheidung durch das Beschwerdegericht angesichts der bereits für den 7. Dezember 2020 geplanten Abschiebung nicht gewährt werden können.

[5] 2. Dies hält rechtlicher Überprüfung nicht stand und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses im Kostenpunkt.

[6] a) Die Rechtsbeschwerde der Behörde ist zulässig.

[7] aa) Sie ist nach § 70 Abs. 3 Satz 3 FamFG ohne Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft, weil sie sich gegen einen eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden Beschluss richtet (zur Anwendbarkeit dieser Norm in Verfahren über die Anordnung von Ausreisegewahrsam nach § 62b Abs. 1 AufenthG vgl. BGH, Beschluss vom 10. November 2020 - XIII ZB 25/20, juris Rn. 8). Der Antrag, den Beschluss des Beschwerdegerichts aufzuheben, ist dahin auszulegen, dass die beteiligte Behörde die Zurückweisung der Beschwerde des Betroffenen und die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Gewahrsamsanordnung begehrt. Im Zeitpunkt der Einlegung der Rechtsbeschwerde am 7. Dezember 2020 hatte sich die Hauptsache auch noch nicht erledigt.

[8] bb) Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist sie nicht dadurch unzulässig geworden, dass die angeordnete Gewahrsamszeit während des Rechtsbeschwerdeverfahrens abgelaufen ist. Dies schließt zwar eine Sachentscheidung über die Gewahrsamsanordnung aus; mangels Feststellungsinteresses kann die beteiligte Behörde auch keinen Feststellungsantrag analog § 62 FamFG stellen. Sie kann die Rechtsbeschwerde aber auf den Kostenpunkt beschränken und das Verfahren in diesem beschränkten Umfang fortführen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Mai 2019 - V ZB 1/19, juris Rn. 7, und vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 49/19, juris Rn. 6, jeweils mwN). So ist der Antrag der beteiligten Behörde zu verstehen.

[9] b) Die Entscheidung über die Kosten ist gemäß § 83 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG nach billigem Ermessen zu treffen. Eine Entscheidung über die Kosten zugunsten des Rechtsbeschwerdeführers hat danach zu ergehen, wenn sein Rechtsmittel ohne die Erledigung der Hauptsache begründet gewesen wäre. Im vorliegenden Fall entspricht es billigem Ermessen, dass jeder Beteiligte seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt, da offen ist, wie das Verfahren ohne das erledigende Ereignis ausgegangen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 - V ZB 51/19, juris Rn. 4 mwN).

[10] aa) Zutreffend bejaht das Beschwerdegericht mit dem Amtsgericht das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG und nimmt auch richtig an, dass die Anordnung des Ausreisegewahrsams gemäß § 62b AufenthG im Ermessen des Gerichts steht ("kann"), so dass eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung erforderlich ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. April 2018 - V ZB 226/17, NVwZ-RR 2018, 746 Rn. 11 f., und vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 50/20, InfAuslR 2021, 339).

[11] bb) Allerdings rügt die beteiligte Behörde zu Recht eine entscheidungserhebliche Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).

[12] (1) Nach § 28 Abs. 1 Satz 2 FamFG hat das Gericht die Beteiligten auf einen rechtlichen Gesichtspunkt hinzuweisen, wenn es ihn anders beurteilt als die Beteiligten und seine Entscheidung darauf stützen will. Nach § 37 Abs. 2 FamFG darf das Gericht ferner eine Entscheidung, welche die Rechte eines Beteiligten beeinträchtigt, nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen dieser Beteiligte sich äußern konnte. Beide Vorschriften sind einfachgesetzliche Ausprägungen des durch Art. 103 Abs. 1 GG gewährleisteten Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. Gesetzesbegründung im Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, BT-Drucks. 16/6308, S. 187, 194; s.a. BGH, Beschluss vom 8. April 2020 - XII ZB 561/19, FamRZ 2020, 1122 Rn. 6).

[13] (2) Gegen diese Vorgaben hat das Beschwerdegericht verstoßen.

[14] (a) Hat ein Beteiligter keinen Grund zu der Annahme, das Beschwerdegericht werde bei seiner Würdigung des Sachverhalts der Auffassung der ersten Instanz nicht folgen und die Entscheidung des Erstgerichts auf die Beschwerde des Beschwerdeführers aufheben, hat es den Beteiligten nach § 28 Abs. 1 Satz 2 FamFG hierauf hinzuweisen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (vgl. zum Berufungsverfahren BGH, Beschluss vom 12. September 2019 - V ZR 276/18, juris Rn. 5; BVerfG, NJW 2003, 2524, und NJW 2015, 1746 Rn. 17, jeweils mwN; Keidel/Sternal, FamFG, 20. Aufl., § 28 Rn. 9). So liegt der Fall hier. Das Beschwerdegericht hätte die beteiligte Behörde darauf hinweisen müssen, dass es zu einer anderen Entscheidung als das Amtsgericht zu gelangen und die Gewahrsamsanordnung aufzuheben beabsichtige, weil der Betroffene unter Betreuung gestanden habe und möglicherweise krankheitsbedingt an der Ausreise gehindert gewesen sei. Diesbezüglich hätte der beteiligten Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden müssen.

[15] (b) Hinzu kommt, dass das Beschwerdegericht seine von der amtsgerichtlichen Entscheidung abweichende Beurteilung maßgeblich auf einen Vermerk in der Ausländerakte gestützt hat, den es dahingehend interpretiert hat, alleiniger Grund für die Beantragung des Ausreisegewahrsams sei die kontrollierte Durchführung eines Coronavirus-Tests gewesen sei, dessen negatives Ergebnis dem Zielstaat habe nachgewiesen werden müssen. Dieser Schluss hätte nicht gezogen werden dürfen, ohne der beteiligten Behörde zuvor nach § 37 Abs. 2 FamFG Gelegenheit zur Stellungnahme zu diesem Vermerk gegeben zu haben.

[16] (3) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts, dem die Akte durch das Amtsgericht am Donnerstag, dem 3. Dezember 2020, übersandt worden war, durfte auch angesichts des bereits für Montag, den 7. Dezember 2020, 10.15 Uhr, vorgesehenen Abschiebungsflugs nicht auf die Gewährung rechtlichen Gehörs für die beteiligte Behörde verzichtet werden. Es ist schon nicht ersichtlich, dass der beteiligten Behörde nicht jedenfalls telefonisch und kurzfristig eine Gelegenheit zur Stellungnahme hätte gewährt werden können. Zudem dienen Rechtsmittelverfahren in Freiheitsentziehungssachen nicht der Verhinderung von Abschiebungen, wofür Betroffene verwaltungsgerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz in Anspruch nehmen können, sondern dazu, etwaige rechtswidrige Freiheitsentziehungen zu beenden. Ein wegen Ablaufs der Haft- oder Gewahrsamszeit oder des Datums der geplanten Abschiebung oder Überstellung unmittelbar bevorstehendes Haftende rechtfertigt es deshalb nicht, zulasten eines Beteiligten auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu verzichten. Kann das Haftaufhebungs-, Beschwerde- oder Rechtsbeschwerdeverfahren vor der Abschiebung oder Überstellung nicht verfahrensordnungsgemäß abgeschlossen werden, kann es der Betroffene im Hinblick auf sein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahme mit einem Antrag entsprechend § 62 FamFG fortsetzen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, InfAuslR 2010, 249 Rn. 9 mwN).

[17] (4) Die Rechtsbeschwerde zeigt auch auf, dass bei Gewährung rechtlichen Gehörs ein Vortrag gehalten worden wäre, der zu einer anderen Entscheidung des Beschwerdegerichts hätte führen können (vgl. zu diesem Erfordernis BGH, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 23 mwN). Im Rahmen einer Stellungnahme - so die Rechtsbeschwerde - wäre nämlich dargelegt worden, für die Annahme des Beschwerdegerichts, der Betroffene habe krankheitsbedingt nicht ausreisen können, hätten keine ausreichenden Anhaltspunkte vorgelegen. Aus dem Bestandsformular vom 26. Oktober 2020, welches das Beschwerdegericht herangezogen hat, ergebe sich nämlich nicht, für welchen Zeitraum und für welche Aufgabenkreise eine Betreuung für den Betroffenen eingerichtet worden sei. Ferner wäre ausgeführt worden, dass die Notwendigkeit des Nachweises eines negativen Coronavirus-Tests selbstverständlich auch nach Auffassung der beteiligten Behörde keine Gefahr der Abschiebungserschwerung oder -vereitelung begründe und daher keine Gewahrsamsanordnung rechtfertige, dass die Notwendigkeit eines solchen Nachweises aber den organisatorischen Aufwand im Vergleich zu anderen Abschiebungen erhöhe. Damit hätte die beteiligte Behörde der Sache nach auf den Abschnitt ihres Gewahrsamsantrags Bezug genommen, in dem sie darauf verwiesen hatte, dass der Ausreisegewahrsam auch nach der Vorstellung des Gesetzgebers insbesondere der Sicherstellung der Durchführbarkeit von Abschiebungsmaßnahmen diene, die einen erheblichen organisatorischen Aufwand erforderten (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drucks. 18/4097, S. 55), was angesichts des durchzuführenden Coronavirus-Tests der Fall gewesen sei. Diese Ausführungen hätten zu einer anderen Entscheidung des Beschwerdegerichts führen können. Wie das Verfahren ohne das erledigende Ereignis bei Nachholung der Gewährung rechtlichen Gehörs ausgegangen wäre, ist daher offen.

[18] c) Hat sich die Hauptsache erledigt, muss im Rechtsbeschwerdeverfahren eine Entscheidung über die Gerichtskosten für alle Rechtszüge ergehen, selbst wenn und soweit sie nur klarstellende Bedeutung hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 - V ZB 51/19, juris Rn. 12 mwN). Gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG werden Gerichtskosten in allen Instanzen nicht erhoben.

[19] 3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Meier-Beck Schmidt-Räntsch Roloff

Tolkmitt Rombach

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