BGH, Beschluss vom 25. November 2020 - XII ZB 352/20

12.01.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

25. November 2020

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG § 325 Abs. 1


Sieht das Betreuungsgericht entsprechend § 325 Abs. 1 FamFG von der Bekanntgabe eines Gutachtens an den Betroffenen ab, kann durch die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sichergestellt werden, wenn zusätzlich die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht; letzteres setzt in der Regel einen entsprechenden Hinweis des Betreuungsgerichts an den Verfahrenspfleger voraus (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom 11. März 2020 ­ XII ZB 496/19 ­ FamRZ 2020, 1124 und vom 12. Februar 2020 ­ XII ZB 179/19 ­ FamRZ 2020, 786).


BGH, Beschluss vom 25. November 2020 - XII ZB 352/20 - LG Bielefeld, AG Herford


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. November 2020 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Prof. Dr. Klinkhammer, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 23. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld vom 15. Juli 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Gründe:

[1] I. Die Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung ihrer geschlossenen Unterbringung.

[2] Für die Betroffene ist seit dem Jahr 2018 eine rechtliche Betreuung eingerichtet, welche auch die Aufgabenbereiche Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmung umfasst. Sie leidet unter anderem an einer organischen Persönlichkeits- und Verhaltensstörung sowie einem beginnenden Korsakow-Syndrom in der Folge einer langjährigen Alkoholabhängigkeit. Auf Antrag ihrer Betreuerin hat das Amtsgericht nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen mit Beschluss vom 12. Juni 2020 die Verlängerung der bereits seit Dezember 2019 bestehenden Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung bis längstens 12. Juni 2021 genehmigt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Verfahrenspflegerin hat das Landgericht durch Beschluss vom 15. Juli 2020 mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Unterbringung bis zum 20. Mai 2021 genehmigt bleibt. Dagegen richtet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.

[3] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

[4] 1. Das Landgericht hat die Betroffene nicht angehört und dies damit begründet, dass eine Anhörung durch das Amtsgericht erst am 12. Juni 2020 durchgeführt worden sei und von einer erneuten Anhörung keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten seien. Dies hält der Verfahrensrüge der Rechtsbeschwerde nicht stand. Diese rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht nicht von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen hätte absehen dürfen.

[5] a) Grundsätzlich besteht die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 21. November 2018 ­ XII ZB 57/18 ­ FamRZ 2019, 387 Rn. 5 mwN).

[6] b) Die von dem Amtsgericht durchgeführte Anhörung war indessen verfahrensfehlerhaft.

[7] aa) Einer der Zwecke der persönlichen Anhörung nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG besteht darin, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG zu sichern. Diesen Zweck kann die Anhörung regelmäßig nur dann erfüllen, wenn das Sachverständigengutachten dem Betroffenen rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen wurde, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen (§ 316 FamFG) grundsätzlich auch ihm persönlich zur Verfügung zu stellen. Durch die Überlassung des Gutachtens an den Verfahrenspfleger kann in der Anhörung allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sichergestellt werden, wenn das Gericht von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gutachtens an den Betroffenen entsprechend § 325 Abs. 1 FamFG absehen darf, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, und zusätzlich die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Februar 2018 ­ XII ZB 334/17 ­ FamRZ 2018, 707 Rn. 9, 12 mwN). Letzteres setzt in der Regel einen entsprechenden Hinweis des Gerichts an den Verfahrenspfleger voraus (vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 11. März 2020 ­ XII ZB 496/19 ­ FamRZ 2020, 1124 Rn. 5 und vom 12. Februar 2020 ­ XII ZB 179/19 ­ FamRZ 2020, 786 Rn. 8, jeweils zu § 288 FamFG).

[8] bb) Diesen Anforderungen ist das amtsgerichtliche Verfahren nicht gerecht geworden. Zwar enthält das Gutachten des Sachverständigen Dr. H. vom 20. Mai 2020 einen Hinweis darauf, dass die Mitteilung des Gutachtens bei der Betroffenen selbst ohne aktiven Alkoholkonsum eine spontane suizidale Reaktion auslösen könnte und deshalb dafür Sorge getragen werden sollte, dass die Bekanntgabe in einem Rahmen erfolgt, in dem ­ beispielsweise durch Pflegepersonal der Einrichtung ­ erforderlichenfalls interveniert werden könnte. Dass die Bekanntgabe des Gutachtens vor der Anhörung in einem solcherart beschützten Rahmen erfolgt wäre, lässt sich der Akte nicht entnehmen. Auch die Überlassung des Gutachtens an die Verfahrenspflegerin konnte im vorliegenden Fall das erforderliche Mindestmaß rechtlichen Gehörs nicht gewährleisten. Einen Hinweis darauf, den Inhalt des Gutachtens mit der Betroffenen zu besprechen, enthält die Übersendungsverfügung an die Verfahrenspflegerin nicht. Auch die Verfahrenspflegerin hat in ihrer Stellungnahme vom 11. Juni 2020 nicht erkennen lassen, dass sie das Sachverständigengutachten mit der Betroffenen inhaltlich erörtert hat. Das gerichtliche Anhörungsprotokoll vom 12. Juni 2020 deutet vielmehr darauf hin, dass der Betroffenen erstmals im Anhörungstermin selbst eröffnet worden ist, welche Empfehlungen der Sachverständige bezüglich der geschlossenen Unterbringung ausgesprochen hat.

[9] c) Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob der Betroffenen im Nachhinein das Gutachten im vollen Wortlaut oder in Gesprächen mit der Verfahrenspflegerin zumindest dessen wesentlicher Inhalt bekannt geworden ist. Jedenfalls wäre das Beschwerdegericht zu einer erneuten Anhörung der Betroffenen verpflichtet gewesen.

[10] 2. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Dose Klinkhammer Günter

Nedden-Boeger Botur

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