BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19

10.01.2023

BUNDESGERICHTSHOF

vom

25. Oktober 2022

in der Überstellungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 104


Der bei der Umsetzung der Abschiebung bestehende organisatorische Spielraum erlaubt der Behörde Planungsänderungen aus sachlichen Gründen wie die Umbuchung eines ursprünglich für eine bestimmte Person geplanten Flugs unter Berücksichtigung der verfügbaren Flugkapazitäten und anderweitig vorzu-nehmender Abschiebungen, sofern innerhalb der bestehenden Überstellungsfrist ein möglichst zeitnaher neuer Abschiebetermin festgelegt wird (Fortführung von BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 113/19, juris Rn. 17 ff.).


BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19 - LG Ingolstadt, AG Ingolstadt


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 25. Oktober 2022 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Rombach

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Ingolstadt - 3. Zivilkammer - vom 26. Juli 2019 wird auf Kosten der Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Die Betroffene, eine iranische Staatsangehörige, reiste erstmals im April 2017 von Frankreich aus in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ihren Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 22. Juni 2017 als unzulässig ab und ordnete ihre Überstellung nach Frankreich an. Den gegen die Ablehnung des Asylantrags gerichteten Eilantrag der Betroffenen wies das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 28. März 2018 zurück. Eine für den 24. September 2018 geplante Überstellung der Betroffenen scheiterte daran, dass sie nicht in der ihr zugewiesenen Unterkunft angetroffen wurde und ihr Aufenthaltsort nicht ermittelt werden konnte. Am 15. Mai 2019 wurde die Betroffene festgenommen. Mit Beschluss vom selben Tag ordnete das zuständige Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde gegen die Betroffene Haft zur Sicherung der Rücküberstellung nach Frankreich bis längstens 25. Juni 2019 an. Nachdem die beteiligte Behörde einen für den 12. Juni 2019 für die Betroffene gebuchten Rücküberstellungsflug aus organisatorischen Gründen und einen für den 21. Juni 2019 geplanten Flug aufgrund einer zwei Tage zuvor erfolgten Selbstverletzung der Betroffenen abgesagt hatte, ordnete das Amtsgericht am 24. Juni 2019 zunächst im Wege der einstweiligen Anordnung die Verlängerung der Sicherungshaft bis längstens 28. Juni 2019 an.

[2] Mit Beschluss vom 27. Juni 2019 hat das Amtsgericht auf Antrag der beteiligten Behörde vom 19. Juni 2019 gegen die Betroffene weitere Haft zur Sicherung ihrer Überstellung nach Frankreich bis längstens 30. Juli 2019 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 26. Juli 2019 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Betroffene mit ihrer - nach der am 26. Juli 2019 erfolgten Überstellung nach Frankreich - auf Feststellung der Rechtsverletzung gerichteten Rechtsbeschwerde.

[3] II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

[4] 1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Anordnung der Haftverlängerung bis spätestens zum 30. Juli 2019 durch das Amtsgericht sei rechtmäßig. Der Haftverlängerungsantrag der beteiligten Behörde vom 19. Juni 2019 habe ausreichende Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Zurückschiebungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Zurückschiebung und zur notwendigen Haftdauer enthalten. Die Ausländerbehörde habe insbesondere schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die weitere Sicherungshaft in der beantragten Länge erforderlich sei.

[5] 2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.

[6] a) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde war der Haftverlängerungsantrag der beteiligten Behörde vom 19. Juni 2019 zulässig.

[7] aa) Ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Er liegt nur vor, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind unter anderem Darlegungen zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom 12. November 2019 - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; vom 20. April 2021 - XIII ZB 36/21, juris Rn. 6 mwN).

[8] bb) Die beteiligte Behörde hat im Hinblick auf die beantragte Haftverlängerung um weitere sechs Wochen und einen Tag (19. Juni 2019 bis 31. Juli 2019) erklärt, die beantragte Dauer der Sicherungshaft orientiere sich an der voraussichtlichen Dauer der Überstellung der Betroffenen. Sie bemühe sich umgehend um einen neuen Überstellungstermin. Sobald der Haftbeschluss vorliege, werde ein neuer Schubauftrag beim Landesamt für Asyl und Rückführungen gestellt, wobei eine Überstellung mit Sicherheitsbegleitung beantragt werde. Aufgrund eigener Erfahrungen bei bereits in der Vergangenheit erfolgten Überstellungsverfahren und entsprechenden Auskünften des Bereichs Schubwesen des Landesamts sei davon auszugehen, dass die Abschiebung spätestens bis zum 31. Juli 2019 vollzogen werden könne.

[9] cc) Diese Ausführungen genügen den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung der erforderlichen Haftdauer. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwandes in aller Regel dann nicht geboten, wenn sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle oder entsprechende eigene Erfahrungswerte beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt (BGH, Beschlüsse vom 7. März 2019 - V ZB 130/17, juris Rn. 7; vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 26/19, juris Rn. 9; vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 39/19, juris Rn. 9 ff.; vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7). Das war hier - anders als beim ursprünglichen Haftantrag vom 15. Mai 2019 (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 2. August 2022 - XIII ZB 37/20, juris Rn. 8 f.) - der Fall.

[10] b) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht in der Anordnung der Haftverlängerung durch den Beschluss des Amtsgerichts vom 27. Juni 2019 zu Recht keinen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz gesehen.

[11] aa) Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus, verlangt aber, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne unnötige Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß gegen dieses Gebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 52/19, juris Rn. 10 mwN; vom 22. März 2022 - XIII ZB 17/20, juris Rn. 18 mwN).

[12] bb) Diesen rechtlichen Maßstab hat das Beschwerdegericht seiner Prüfung der Rechtmäßigkeit der Haftverlängerung zutreffend zugrunde gelegt. Seine Würdigung, dass die beteiligte Behörde bei der Planung und Durchführung der Überstellung den sich aus dem Beschleunigungsgebot ergebenden Anforderungen gerecht geworden ist, unterliegt im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkter Überprüfung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 11/19, juris Rn. 13; vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 113/19, juris Rn. 19). Sie lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

[13] (1) Die beteiligte Behörde hat ausgeführt, der für die Betroffene vorgesehene Flug am 12. Juni 2019 habe umgebucht werden müssen, da eine andere abzuschiebende Familie aus Dringlichkeitsgründen auf diesen Flug habe gebucht werden müssen. Die Lufthansa lasse auf jedem ihrer Flüge aber nur zwei unbegleitete "Deportees" zu. Aus flugtechnischen Gründen sei eine Umbuchung der Betroffenen erst auf den Flug am 21. Juni 2019 möglich gewesen; dabei habe es sich um den nächstmöglichen zu buchenden Flug nach Nizza gehandelt. Am 19. Juni 2019 habe die Justizvollzugsanstalt, in der sich die Betroffene befunden habe, schriftlich mitgeteilt, dass bei der Betroffenen eine erhöhte Gefahr zur Selbstverletzung bestehe. Daraufhin habe auch der für den 21. Juni 2019 geplante Überstellungsflug storniert werden müssen. Anschließend habe derselbe Mitarbeiter des psychologischen Dienstes der Justizvollzugsanstalt erklärt, die Betroffene habe sich während des gesamten Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt zu keiner Zeit suizidal oder gravierend negativ beeinträchtigt gezeigt. Aus psychologischer Sicht sei eher von einer Anpassungsstörung auszugehen. Die Betroffene sei stark bemüht, die bevorstehende Abschiebung zu vereiteln, weshalb eine Simulation nicht ausgeschlossen werden könne.

[14] (2) Zu Recht hat das Beschwerdegericht zunächst die Entscheidung der beteiligten Behörde, den Flug vom 12. auf den 21. Juni 2019 zu verschieben, unbeanstandet gelassen. Darin liegt keine unnötige Verzögerung. Die Behörde hat die Umbuchung nach ihren nicht zu bezweifelnden Angaben aus sachlichen Gründen vorgenommen und damit im Rahmen ihres organisatorischen Spielraums gehandelt. Dieser erlaubt ihr, wie das Beschwerdegericht zutreffend ausgeführt hat, Planungsänderungen wie die Umbuchung eines ursprünglich für eine bestimmte Person geplanten Flugs unter Berücksichtigung der verfügbaren Flugkapazitäten und anderweitig vorzunehmender Abschiebungen, sofern innerhalb der bestehenden Überstellungsfrist ein möglichst zeitnaher neuer Abschiebetermin festgelegt wird.

[15] (3) Nicht zu beanstanden ist auch, dass das Beschwerdegericht in der weiteren Verzögerung der Abschiebung durch Stornierung des für den 21. Juni 2019 geplanten Überstellungsflugs keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot gesehen hat. Insofern ist es zu Recht davon ausgegangen, dass diese Stornierung auf Umständen beruhte, die aus der Sphäre der Betroffenen, nicht aus dem Verantwortungsbereich der beteiligten Behörde stammten, und die einen - nunmehr erstmals zu organisierenden - Flug mit Sicherheitsbegleitung erforderlich machten.

[16] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Kirchhoff Roloff Tolkmitt

Picker Rombach

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