BGH, Beschluss vom 26. März 2024 - XIII ZB 44/21
BUNDESGERICHTSHOF
vom
26. März 2024
in der Ausreisegewahrsamssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104
Ein Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft oder von Ausreisegewahrsam ist unbegründet, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, die deutschen Behörden von diesem Hindernis Kenntnis haben und die antragstellende Behörde bei einer unverzüglichen, dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Weiterleitung der Information den Antrag entweder gar nicht hätte stellen dürfen oder diesen rechtzeitig vor der gerichtlichen Entscheidung hätte zurücknehmen müssen; eine gleichwohl angeordnete Haft ist rechtswidrig.
BGH, Beschluss vom 26. März 2024 - XIII ZB 44/21 - LG Mainz, AG Trier
Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. März 2024 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Holzinger
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 16. Juli 2021 insoweit aufgehoben, als das Landgericht die Beschwerde zurückgewiesen hat.
Es wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Trier vom 13. November 2020 den Betroffenen auch in der Zeit bis zum 16. November 2020, 12:00 Uhr, in seinen Rechten verletzt hat.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Trier-Saarburg auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
[1] I. Der Betroffene ist pakistanischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben im September 2015 in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit bestandskräftigem Bescheid vom 8. März 2017 seinen Asylantrag ab und drohte ihm die Abschiebung nach Pakistan an.
[2] Das Amtsgericht hat auf Antrag der beteiligten Behörde mit Beschluss vom 13. November 2020 gegen den Betroffenen Ausreisegewahrsam bis zum 17. November 2020 angeordnet. Der nach Ende der Haft noch auf Feststellung gerichteten Beschwerde des Betroffenen hat das Amtsgericht teilweise abgeholfen. Das Landgericht hat den Beschluss des Amtsgerichts aufgehoben, soweit darin Haft über den 16. November 2020, 12:00 Uhr, hinaus angeordnet worden ist. Im Übrigen hat es die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die weitergehende Feststellung, dass ihn die Haftanordnung auch in der Zeit vom 13. bis zum 16. November 2020, 12:00 Uhr, in seinen Rechten verletzt habe.
[3] II. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
[4] 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Aus dem aus der Ausländerakte ersichtlichen E-Mail-Verkehr ergebe sich, dass die beteiligte Behörde am Morgen des 16. November 2020 davon erfahren habe, dass die pakistanischen Behörden ihre Einreisemodalitäten kurzfristig geändert hätten, Rückführungen nur nach vorherigem Interview mit dem Betroffenen erfolgen könnten und die für den Folgetag beabsichtigte Abschiebung daher nicht mehr durchführbar gewesen sei. Der Betroffene hätte daher nicht erst am 17., sondern bereits am 16. November 2020 bis 12:00 Uhr aus der Haft entlassen werden müssen. Die bis zu diesem Zeitpunkt vollzogene Haft verletze den Betroffenen hingegen nicht in seinen Rechten, da das Amtsgericht bei Anordnung des Ausreisegewahrsams angesichts des für den 17. November 2020 gebuchten Flugs zu Recht von der Durchführbarkeit der Abschiebung innerhalb der festgelegten Haftdauer ausgegangen sei.
[5] 2. Das hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
[6] a) Allerdings ist die Prognose des Amtsgerichts zur Durchführbarkeit der Abschiebung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
[7] aa) Nach § 62 Abs. 3 Satz 3 ebenso wie nach § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG muss das Haftgericht zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Prognose anstellen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb der anzuordnenden Zeit erfolgen kann. Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (BGH, Beschluss vom 11. Mai 2011 - V ZB 265/10, FGPrax 2011, 201 Rn. 9). Dazu muss das Gericht nach § 26 FamFG die erforderlichen Ermittlungen anstellen (BGH, Beschluss vom 28. Februar 2023 - XIII ZB 68/21, juris Rn. 8). Für die Überprüfung der vom Amtsgericht angestellten Prognose ist dessen Kenntnisstand im Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde zu legen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - XIII ZB 113/19, juris Rn. 16, zum staatsanwaltlichen Einvernehmen). Anders als die Rechtsbeschwerde meint, kommt es dabei nicht auf die objektive Sachlage an.
[8] bb) Danach ist die Prognoseentscheidung des Amtsgerichts nicht zu beanstanden. Im Zeitpunkt der Entscheidung über den Haftantrag am 13. November 2020 war dem Haftrichter nicht bekannt, dass Pakistan Rückführungen nur noch akzeptierte, wenn zuvor mit dem Betroffenen ein Interview in der pakistanischen Botschaft geführt worden ist. Aus den Akten ergaben sich auch keine Anhaltspunkte, die auf eine solche Änderung der Rückführungspraxis hindeuteten und die dem Haftrichter Anlass zu weitergehenden Ermittlungen nach § 26 FamFG gegeben hätten.
[9] b) Das Beschwerdegericht hat jedoch den Anforderungen an die Verfahrensweise der Behörden, die sich aus dem Beschleunigungsgebot ergeben, nicht hinreichend Rechnung getragen.
[10] aa) Das verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgebot verlangt bei Freiheitsentziehungen, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne vermeidbare Verzögerung betreibt und die Dauer der Sicherungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2023 - XIII ZB 68/21, juris Rn. 11, mwN). Umstände die außerhalb des Einflussbereichs der Behörde liegen, hat sie grundsätzlich nicht zu vertreten (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2022 - XIII ZB 17/20, juris Rn. 19). Verzögerungen in der Zusammenarbeit der nationalen Behörden dürfen sich nicht zu Lasten des Betroffenen auswirken (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 247/10, juris Rn. 8). Daher sind Versäumnisse anderer am Verfahren beteiligter Behörden der die Abschiebung betreibenden Behörde zuzurechnen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 65/19, InfAuslR 2020, 385 Rn. 15; vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/20, juris Rn. 19). Dazu gehören auch Versäumnisse bei der Übermittlung von Informationen innerhalb der öffentlichen Verwaltung über Umstände, die ein Abschiebungshindernis begründen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2022 - XIII ZB 79/20, juris Rn. 17). Ebenso wie die Behörden bei bereits vollzogener Haft Informationen über ein Abschiebungshindernis unverzüglich weiterzuleiten haben, um die sofortige Aufhebung der Haft sicherzustellen, ist ein Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft oder - wie hier - von Ausreisegewahrsam auch dann unbegründet, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, die deutschen Behörden von diesem Hindernis Kenntnis haben und die antragstellende Behörde bei unverzüglicher Weiterleitung der entsprechenden Information den Antrag entweder gar nicht hätte stellen dürfen oder diesen rechtzeitig vor der gerichtlichen Entscheidung hätte zurücknehmen müssen.
[11] Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2022 - XIII ZB 116/19, NVwZ 2023, 1523 Rn. 11; vom 21. März 2023 - XIII ZB 32/22, juris Rn. 9). Ebenso erweist sich eine Haft, die bei rechtzeitiger Übermittlung von Informationen über ein Abschiebungshindernis schon nicht hätte beantragt und angeordnet werden dürfen, als rechtswidrig.
[12] bb) Nach diesen Maßstäben wird die Verfahrensweise der Behörden dem Beschleunigungsgrundsatz nicht gerecht. Zwar hat die beteiligte Behörde erst am 16. November 2020 von der geänderten Rückführungspraxis Pakistans Mitteilung erhalten und umgehend die erforderlichen Schritte zur Haftentlassung des Betroffenen in die Wege geleitet. Wie sich aus der E-Mail der Zentralstelle für Rückführungsfragen des Landes Rheinland-Pfalz vom 17. November 2020 ergibt, hatte die Botschaft Pakistans das Bundesministerium des Inneren jedoch bereits am 5. November 2020 über die geänderte und ab sofort geltende Praxis informiert. Auch wenn Bearbeitung und Weiterleitung derartiger wesentlicher Informationen an die für die Abschiebungen zuständigen Ausländerbehörden eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, wird die hier erst am 16. November 2020 erfolgte Benachrichtigung der beteiligten Behörde dem Beschleunigungsgebot nicht gerecht. Bei der gebotenen zügigen Behandlung hätte die beteiligte Behörde jedenfalls bereits vor der Entscheidung des Amtsgerichts am 13. November 2020 von der geänderten Praxis Pakistans Kenntnis erhalten und die entsprechenden Schritte einleiten müssen. Allen mit Rückführungsfragen befassten Behörden musste klar sein, dass die geänderte Praxis Pakistans - wie hier - unmittelbare Auswirkungen auf die Behandlung von laufenden Haftsachen haben würde. Die Verzögerungen, die bei der Weiterleitung der Information im Verantwortungsbereich anderer Behörden aufgetreten sind, sind der beteiligten Behörde zuzurechnen, auch wenn die Ursache für das Abschiebungshindernis nicht im Verantwortungsbereich der deutschen Behörden lag.
[13] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff Roloff Tolkmitt
Picker Holzinger