BGH, Beschluss vom 27. April 2021 - VI ZR 845/20

29.06.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

27. April 2021

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 398 Abs. 1


Hat die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen, kann in der Berufungsinstanz der Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist. Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen.


BGH, Beschluss vom 27. April 2021 - VI ZR 845/20 - OLG Frankfurt in Darmstadt, LG Darmstadt


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. April 2021 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, den Richter Offenloch, die Richterin Müller, den Richter Dr. Allgayer und die Richterin Dr. Linder

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 22. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main mit Sitz in Darmstadt vom 12. Mai 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 30.000 €

Gründe:

[1] I. Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

[2] Der Kläger fuhr im Juli 2018 mit seinem Pkw auf die BAB 3. Die Beschleunigungsspur war aufgrund einer Baustelle verkürzt. Sie war von der rechten Fahrbahn durch eine gestrichelte gelbe Linie abgegrenzt. Der Beklagte zu 2 befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1 versicherten Lkw der Beklagten zu 3 die rechte Fahrbahn der Autobahn. Es kam zur Kollision der Fahrzeuge. Der Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig. Der Kläger behauptet, der Lkw sei über die gestrichelte gelbe Linie auf die Beschleunigungsspur gefahren und habe dort das Fahrzeug des Klägers gerammt. Die Beklagten behaupten, der Kläger sei ohne Nutzung der Beschleunigungsspur direkt auf die rechte Fahrbahn gefahren, wo es zur Kollision gekommen sei.

[3] Das Landgericht hat, nachdem es den Zeugen K. (Beifahrer des Klägers) zum Unfallhergang sowie die Zeugen Be. und Bü. (Polizeibeamte) zur polizeilichen Aufnahme des Unfalls vernommen hat, die Klage abgewiesen und dies allein auf die fehlende Aktivlegitimation des Klägers gestützt.

[4] Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

[5] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

[6] 1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass das Landgericht die Klage nicht an der Aktivlegitimation habe scheitern lassen dürfen, ohne die hierzu angebotenen Beweise zu erheben. Dennoch sei die Berufung unbegründet. Der Kläger habe nicht bewiesen, dass der Beklagte zu 2 die Fahrspur gewechselt oder nach rechts von dieser abgekommen sei. Für diese Behauptung spreche neben seiner Darstellung lediglich die Aussage des Zeugen K. An der Richtigkeit dieser Aussage verblieben allerdings insbesondere vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin Be. zu viele Zweifel, als dass allein daraus eine richterliche Überzeugung gewonnen werden könne. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei es wahrscheinlicher, dass derjenige, der sich auf der Beschleunigungsspur befinde, einen Fahrbahnwechsel vornehme, als dass derjenige, der auf der Autobahn fahre, auf die Beschleunigungsspur gerate. Dies reiche zwar für die Annahme eines Anscheinsbeweises nicht aus, sei aber bei der Bewertung einer Zeugenaussage zu berücksichtigen.

[7] 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut zum Unfallhergang vernommen und dadurch den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

[8] a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Berufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (Senatsurteile vom 23. Juni 2020

- VI ZR 435/19, MDR 2020, 999 Rn. 18; vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222, 2223, juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn. 9 mwN). Trägt das Berufungsgericht dem nicht Rechnung, liegt darin ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschluss vom 25. Juli 2017 - VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2020 - II ZR 20/20, juris Rn. 11; vom 17. September 2013 - XI ZR 394/12, NZG 2013, 1436 Rn. 10; BVerfG, NJW 2011, 49 Rn. 11 ff.).

[9] Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat (vgl. Senatsurteil vom 7. Juli 1981 - VI ZR 48/80, NJW 1982, 108, 109, juris Rn. 7-10; BGH, Urteil vom 16. Dezember 1999 - III ZR 295/98, NJW-RR 2000, 432, 433, juris Rn. 23 mwN). In der Berufungsinstanz kann ein angetretener Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist (vgl. Senatsurteil vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04, VersR 2006, 369 Rn. 28; BGH, Urteil vom 23. November 2017 - I ZR 51/16, VersR 2018, 1279 Rn. 29). Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen.

[10] b) So liegt der Fall hier: Für die Frage, ob, wie das Berufungsgericht meint, Zweifel an der Aussage des Zeugen K. bestehen, der den Unfall unmittelbar miterlebt hat, kommt es maßgeblich auf seine Glaubwürdigkeit sowie auf die Glaubwürdigkeit der Zeugin Be. an, deren Aussage mit den Angaben des Zeugen K. nicht in Einklang zu bringen ist. Das Landgericht hatte hierzu eine Gegenüberstellung beider Zeugen veranlasst, deren Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen dann aber nicht gewürdigt, weil es aus seiner Sicht auf den Unfallhergang nicht ankam. Das Berufungsgericht hat "insbesondere" vor dem Hintergrund der Aussage der Zeugin Be. an der Richtigkeit der Aussage des Zeugen K. gezweifelt und die Zurückweisung der Berufung hierauf gestützt, ohne sich, wie erforderlich, einen persönlichen Eindruck von beiden Zeugen zu verschaffen.

[11] 3. Für die neue Verhandlung wird weiter zu berücksichtigen sein, dass die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts die Zurückweisung der Berufung nicht tragen. Denn ohne die Feststellung eines Vorfahrtsverstoßes des Klägers lässt sich eine vollständige Klageabweisung nicht begründen.

Seiters Offenloch Müller

Allgayer Linder

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