BGH, Beschluss vom 31. August 2021 - XIII ZB 35/19

16.11.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

31. August 2021

in der Überstellungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


AufenthG § 2 Abs. 15 Satz 2 aF


Soweit die Umstände der Feststellung des Betroffenen im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass dieser den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will, und diese Umstände ein Indiz für Fluchtgefahr begründen, wird dieser Anhaltspunkt durch die Einleitung eines Asylverfahrens in Deutschland nicht gegenstandslos; allerdings kann im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung Fluchtgefahr zu verneinen sein, wenn die Reise - mit Deutschland - einen Mitgliedstaat zum Ziel hat, der für die Prüfung des Asylantrags zuständig sein könnte.


BGH, Beschluss vom 31. August 2021 - XIII ZB 35/19 - LG Zwickau, AG Plauen


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 31. August 2021 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff und den Richter Dr. Tolkmitt

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 9. Zivilkammer des Landgerichts Zwickau vom 17. Juli 2018 wird auf Kosten des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Dolmetscherkosten nicht erhoben werden.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein eritreischer Staatsangehöriger, reiste im Februar 2017 in das Bundesgebiet ein, nachdem er sich zuvor in Italien aufgehalten hatte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag mit Bescheid vom 18. April 2017 als unzulässig ab, woraufhin die beteiligte Behörde die Abschiebung nach Italien anordnete. In der Zeit vom 2. bis zum 16. Oktober 2017 hielt sich der Betroffene nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft auf und war unbekannten Aufenthalts. Am 16. November 2017 begab er sich in das

"Kirchenasyl" eines Klosterstifts, was er der Ausländerbehörde mit Schreiben vom selben Tag mitteilen ließ. Dort hielt er sich bis zum 4. Juni 2018 auf. Nachdem er das Klosterstift verlassen hatte, wurde er festgenommen.

[2] Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 5. Juni 2018 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung seiner Überstellung nach Italien bis zum 17. Juli 2018 angeordnet. Die hiergegen gerichtete, nach seiner Überstellung nach Italien am 6. Juli 2017 mit einem Feststellungsantrag fortgesetzte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene sein Begehren weiter.

[3] II. Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache keinen Erfolg.

[4] 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Haft sei zu Recht angeordnet worden. Der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) habe vorgelegen. Der Betroffene sei zweimal unbekannten Aufenthalts gewesen. Zudem habe er durch das Aufsuchen des Kirchenasyls, um sich der bevorstehenden Abschiebung zu entziehen, konkrete Vorbereitungshandlungen vorgenommen, die nicht durch Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden hätten werden können. Der Betroffene habe der beteiligten Behörde auch nicht das Verlassen des Kirchenasyls mitgeteilt. Durch dieses Verhalten habe der Betroffene deutlich gemacht, dass er sich dem Zugriff der Behörden nach Ablauf seiner Ausreisepflicht habe entziehen und nicht nach Italien überstellt werden wollen. Die Einlassung im Rahmen seiner persönlichen Anhörung, er wolle freiwillig nach Italien zurückkehren, sei nicht glaubhaft.

[5] 2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand. Der Feststellungsantrag ist nicht begründet. Dahinstehen kann, ob - wie das Beschwerdegericht meint - das Aufsuchen des offenen Kirchenasyls durch den Betroffenen bereits als konkrete Vorbereitungshandlung für ein sich Entziehen im Sinne des § 2 Abs. 15 Satz 1, Abs. 14 Nr. 6 AufenthG in der hier maßgeblichen, bis zum

20. August 2019 gültigen Fassung (fortan: aF) angesehen werden kann. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts stellt sich jedenfalls aus anderen Gründen als richtig dar (§ 74 Abs. 2 FamFG). Seine Feststellungen tragen die Annahme einer erheblichen Fluchtgefahr nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF.

[6] a) Der Senat kann nach § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG über den Feststellungsantrag auch in der Sache selbst entscheiden, weil dieser zur Endentscheidung reif ist (vgl. dazu BGH, Beschlüsse vom 22. August 2019 - V ZB 179/17, juris Rn. 16, vom 24. März 2020 - XIII ZB 89/19, juris Rn. 13, und vom 26. Januar 2021 - XIII ZB 68/19, juris Rn. 14). Das Beschwerdegericht hat die für die Entscheidung über den Feststellungsantrag erforderlichen Feststellungen getroffen, indem es sich die Feststellungen des Amtsgerichts zu eigen gemacht hat. Weiterer Feststellungen bedarf es nicht. Sie sind auch nicht zu erwarten. Aus diesem Grund kann der Senat die erforderliche Gesamtwürdigung selbst vornehmen. Auch stehen einer Entscheidung durch den Senat keine sonstigen verfahrensrechtlichen Hindernisse entgegen, nachdem sich die beteiligte Behörde in ihrem Haftantrag bereits auf den Haftgrund nach Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO i.V.m. § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF gestützt hat und der Betroffene dazu angehört worden ist.

[7] b) Nach § 2 Abs. 15 Satz 2 AufenthG aF kann ein Anhaltspunkt für erhebliche Fluchtgefahr gegeben sein, wenn der Ausländer einen Mitgliedstaat vor Abschluss eines dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz verlassen hat und die Umstände der Feststellung im Bundesgebiet konkret darauf hindeuten, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will.

[8] aa) Maßgebliches objektives Kriterium im Sinne von Art. 2 Buchst. n Dublin-III-VO ist danach die konkrete Auffindesituation des Betroffenen. Deuten die tatsächlichen Umstände, unter denen der Ausländer im Bundesgebiet aufgegriffen worden ist, konkret darauf hin, dass er den zuständigen Mitgliedstaat in absehbarer Zeit nicht aufsuchen will, kann dies Rückschlüsse auf eine mögliche Fluchtgefahr zulassen. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich vom Bestehen einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf der Prüfung im Einzelfall. Insoweit kann insbesondere von Bedeutung sein, wie und mit welcher Zielrichtung der Betroffene im Bundesgebiet unterwegs ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Februar 2016 - V ZB 157/15, juris Rn. 18 und vom

11. Januar 2018 - V ZB 28/17, juris Rn. 20; BT-Drucks. 18/4097, S. 34). Dieses Kriterium für Fluchtgefahr wird, anders als etwa der bei Abschiebungshaft vorgesehene Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2

AufenthG (dazu: BGH, Beschlüsse vom 28. Oktober 2010 - V ZB 210/10,

InfAuslR 2011, 71 Rn. 19, vom 9. November 2017 - V ZB 15/17, juris Rn. 4,

vom 21. August 2019 - V ZB 138/18, juris Rn. 5, und vom 24. August 2020 - XIII ZB 83/19, InfAuslR 2021, 122 Rn. 28) durch die Einleitung eines Asylverfahrens in Deutschland nicht gegenstandslos.

[9] Zwar kann die Fluchtgefahr nach der Begründung der Vorschrift zu verneinen sein, wenn die Reise - mit Deutschland - einen Mitgliedstaat zum Ziel hat, der für die Prüfung des Asylantrags zuständig sein könnte, z. B. weil dort bereits andere Familienangehörige als asylberechtigt anerkannt sind oder sich in einem laufenden Verfahren zur Prüfung des Asylantrags befinden (BT-Drucks. 18/4097 S. 34). Das vorzeitige Verlassen des Erstaufnahmestaats und die Stellung eines Asylantrags in Deutschland schließt aber nicht generell die Annahme von Fluchtgefahr aus; der Asylantrag ist vielmehr einer der Umstände der "Feststellung des Ausländers im Bundesgebiet" und bei der Würdigung zu berücksichtigen. Das bestätigt auch der Vergleich dieses konkreten Anhaltspunkts für Fluchtgefahr mit dem seit dem 21. August 2019 geltenden weiteren Anhaltspunkt, dass der Ausländer mehrfach einen Asylantrag in anderen Mitgliedstaaten im Geltungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gestellt und den jeweiligen anderen Mitgliedstaat der Asylantragstellung wieder verlassen hat, ohne den Ausgang des dort laufenden Verfahrens zur Zuständigkeitsbestimmung oder zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz abzuwarten (vgl. § 2 Abs. 14 Satz 2 Nr. 2

AufenthG). In diesen Fällen soll die mehrfache Asylantragstellung auch ohne Berücksichtigung der Feststellung des Ausländers Fluchtgefahr begründen können (vgl. BT-Drucks. 19/10047, S. 30).

[10] bb) Diese Voraussetzungen lagen hier vor. Der Betroffene hatte Italien vor Abschluss des dort laufenden Verfahrens zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz verlassen. Die Umstände seiner Feststellung im Bundesgebiet deuteten zudem konkret darauf hin, dass er Italien in absehbarer Zeit nicht wieder aufsuchen wollte (vgl. zu dieser Voraussetzung BGH, Beschlüsse vom 25. Februar 2016 - V ZB 157/15, InfAuslR 2016, 238 Rn. 18, und vom 24. August 2020 - XIII ZB 75/19, juris Rn. 19, jeweils mwN). Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene Deutschland aus familiären Gründen oder deshalb aufgesucht haben könnte, weil es für die Bescheidung seines Asylantrags zuständig sein könnte, sind nicht ersichtlich. Vielmehr war er nach der Zurückweisung seines Eilantrags gegen die Abschiebungsanordnung des Bundesamts durch das Verwaltungsgericht zunächst unauffindbar. Der Betroffene wurde von Beamten der Bundespolizei aufgrund einer Fahndung festgenommen, nachdem er sich über fünf Monate im offenen Kirchenasyl aufgehalten hatte. Dieses hatte er jedenfalls verlassen, ohne diesen Umstand der beteiligten Behörde mitzuteilen.

[11] Dem steht nicht die Einlassung des Betroffenen im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Amtsgericht entgegen, er habe sich ein Ticket gekauft, um nach B. zu fahren; von dort wolle er nach Italien fahren. Diese

Bekundungen haben das Amtsgericht und das Beschwerdegericht nicht für glaubhaft gehalten. Diese tatrichterliche Würdigung lässt Rechtsfehler nicht erkennen. Die Äußerungen des Betroffenen sind so allgemein gehalten, dass sich daraus keine sicheren Rückschlüsse auf einen tatsächlich bestehenden Rückkehrwillen ergeben. Angesichts des Verhaltens des Betroffenen in der Vergangenheit besteht dafür auch kein Anlass. Der Betroffene hat zudem weder im Beschwerde- noch im Rechtsbeschwerdeverfahren nähere Umstände dargelegt, die darauf hindeuten, dass er bereits konkrete Schritte für seine Rückkehr nach Italien eingeleitet hatte. Er stellt im Gegenteil nicht in Abrede, dass er nicht über die erforderlichen Papiere zum Grenzübertritt verfügte. Dass ihm die für eine Rückreise nach Italien erforderlichen Barmittel zur Verfügung standen, hat er ebenfalls nicht behauptet. Angesichts dessen bedarf es auch keiner weiteren Anhörung des Betroffenen. Weitere Feststellungen sind insoweit nicht zu erwarten. Auch braucht - anders als die Revision meint - nicht nach § 26 FamFG ermittelt zu werden, ob er das Kirchenasyl verlassen hat, weil die Kirchengemeinde ihm mitgeteilt hat, dass er nach Italien zurückkehren müsse. Dies kann zugunsten des Betroffenen unterstellt werden, ändert aber nichts daran, dass es vor dem Hintergrund des Verhaltens des Betroffenen in der Vergangenheit an hinreichend konkreten Anhaltspunkten fehlt, die auf einen tatsächlich bestehenden Rückkehrwillen hindeuten.

[12] Ausgehend von diesem Anhaltspunkt rechtfertigt eine Gesamtwürdigung des Verhaltens des Betroffenen die Annahme, dass erhebliche Fluchtgefahr bestand.

[13] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG und Art. 6 Abs. 3 Buchst. e EMRK analog. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Meier-Beck

Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch ist infolge Versetzung an eine oberste Bundesbehörde an der Unterschrift gehindert.

Meier-Beck

Kirchhoff

Roloff

Tolkmitt

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