BGH, Beschluss vom 5. Mai 2021 - XII ZB 510/20

26.06.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

5. Mai 2021

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 276 Abs. 1 und 2, 278 Abs. 1


Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen ist regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 11. September 2019 ­ XII ZB 537/18 ­ FamRZ 2020, 50) oder wenn das Betreuungsgericht einen Einwilligungsvorbehalt anordnet (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 456/17 ­ FamRZ 2021, 457).


BGH, Beschluss vom 5. Mai 2021 - XII ZB 510/20 - LG Düsseldorf, AG Düsseldorf


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5. Mai 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Guhling

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 25. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 5. November 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Wert: 5.000 €

Gründe:

[1] I. Die 45jährige Betroffene leidet nach den getroffenen Feststellungen an einer schwergradig ausgeprägten paranoid-halluzinatorischen Psychose, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann.

[2] Das Amtsgericht hat eine Betreuung für den Aufgabenkreis der Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge, Regelung des Postverkehrs, Vermögensangelegenheiten sowie Vertretung gegenüber Behörden und Wohnungsangelegenheiten eingerichtet und die Beteiligte zu 1 als Berufsbetreuerin sowie den Beteiligten zu 2 als Ersatzbetreuer bestimmt. Für den Aufgabenbereich der Vermögensangelegenheiten hat es einen Einwilligungsvorbehalt angeordnet. Von der Bestellung eines Verfahrenspflegers hat es abgesehen, weil dies "nicht erforderlich" sei. Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.

[3] II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

[4] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht als verfahrensfehlerhaft, dass das Landgericht keinen Verfahrenspfleger für die Betroffene bestellt hat.

[5] a) Gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht dem Betroffenen einen Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn dies zur Wahrnehmung seiner Interessen erforderlich ist. Nach § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG ist die Bestellung in der Regel erforderlich, wenn Gegenstand des Verfahrens die Bestellung eines Betreuers zur Besorgung aller Angelegenheiten des Betroffenen oder die Erweiterung des Aufgabenkreises hierauf ist. Zudem liegt ein Regelfall der Bestellung eines Verfahrenspflegers vor, wenn im Bereich der Vermögenssorge ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet wird (Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 456/17 ­ FamRZ 2021, 457 Rn. 31 mwN). Gemäß § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG kann von der Bestellung in den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 abgesehen werden, wenn ein Interesse des Betroffenen an der Bestellung des Verfahrenspflegers offensichtlich nicht besteht. Nach § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG ist die Nichtbestellung zu begründen. Dabei unterfällt es der Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht, ob die den Tatsacheninstanzen obliegende Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen worden ist (Senatsbeschluss vom 11. September 2019 ­ XII ZB 537/18 ­ FamRZ 2020, 50 Rn. 4 mwN).

[6] Nach diesen Maßgaben ist die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den Betroffenen regelmäßig schon dann geboten, wenn der Verfahrensgegenstand die Anordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten als möglich erscheinen lässt. Für einen in diesem Sinne umfassenden Verfahrensgegenstand spricht, dass die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt wird, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung des Betroffenen umfasst. Selbst wenn dem Betroffenen nach der Entscheidung letztlich einzelne restliche Bereiche zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung verblieben sind, entbindet dies jedenfalls dann nicht von der Bestellung eines Verfahrenspflegers, wenn die verbliebenen Befugnisse dem Betroffenen in seiner konkreten Lebensgestaltung keinen nennenswerten eigenen Handlungsspielraum belassen (Senatsbeschluss vom 25. April 2018 ­ XII ZB 528/17 ­ FamRZ 2018, 1111 Rn. 7 mwN). Eine Verfahrenspflegschaft ist nur dann nicht anzuordnen, wenn sie nach den gegebenen Umständen einen rein formalen Charakter hätte. Ob es sich um einen solchen Ausnahmefall handelt, ist anhand der gemäß § 276 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Begründung zu beurteilen (Senatsbeschluss vom 11. September 2019 ­ XII ZB 537/18 ­ FamRZ 2020, 50 Rn. 5 mwN). Der Umstand, dass eine Betreuung nach den getroffenen Feststellungen offensichtlich erforderlich ist, trägt ein Absehen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht (Senatsbeschluss vom 28. Mai 2014 ­ XII ZB 705/13 ­ FamRZ 2014, 1446 Rn. 8).

[7] b) Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht die Betreuung auf einen Aufgabenkreis erstreckt, der in seiner Gesamtheit alle wesentlichen Bereiche der Lebensgestaltung der Betroffenen umfasst, so dass die Bestellung eines Verfahrenspflegers gemäß § 276 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 FamFG grundsätzlich erforderlich war. Zudem hat das Amtsgericht für den Bereich der Vermögenssorge einen Einwilligungsvorbehalt angeordnet. Die Interessen der Betroffenen waren im Betreuungsverfahren auch nicht von einem Rechtsanwalt oder einem anderen geeigneten Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 276 Abs. 4 FamFG vertreten.

[8] Von der Bestellung eines Verfahrenspflegers hätte deswegen nach § 276 Abs. 2 Satz 1 FamFG nur unter den bereits genannten Voraussetzungen abgesehen werden können (Senatsbeschluss vom 18. Juli 2018 ­ XII ZB 635/17 ­ FamRZ 2018, 1692 Rn. 8). Solche Gründe sind durch das Landgericht nicht festgestellt. Das Landgericht hat das Absehen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers lediglich floskelhaft damit begründet, dass "die Betroffene dazu in der Lage ist, ihre Rechte selbst wahrzunehmen". Damit hat es ermessensfehlerhaft entschieden. Denn dass die anwaltlich nicht vertretene Betroffene ihre Interessen selbst hätte wahrnehmen können, erscheint schon angesichts des für beinahe alle Angelegenheiten angenommenen Betreuungsbedarfs fernliegend. Überdies hat das Landgericht festgestellt, dass das Verhalten der Betroffenen von einer wahnhaften Realitätsverkennung und nicht nachvollziehbaren Gedankeninhalten geprägt sei. Bei Vorliegen derartiger Beeinträchtigungen verstößt die Annahme, dass die Betroffene dazu in der Lage sei, ihre Rechte selbst wahrzunehmen, gegen Denkgesetze (vgl. bereits Senatsbeschlüsse vom 11. Dezember 2013 ­ XII ZB 280/11 ­ FamRZ 2014, 378 Rn. 12 und vom 4. August 2010 ­ XII ZB 167/10 ­ FamRZ 2010, 1648 Rn. 16).

[9] 2. Ferner rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Landgericht unter Verstoß gegen §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über ihre Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss entschieden hat.

[10] a) Gemäß § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (Senatsbeschluss vom 27. Januar 2021 ­ XII ZB 411/20 ­ juris Rn. 5 mwN).

[11] b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne persönliche Anhörung der Betroffenen über deren Beschwerde entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es die Betroffene angehört hat, ohne vorher einen Verfahrenspfleger zu bestellen und diesem Gelegenheit zur Teilnahme an der Anhörung zu geben.

[12] 3. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist.

Dose Schilling Günter

Nedden-Boeger Guhling

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