BGH, Beschluss vom 6. November 2024 - XII ZB 368/24
BUNDESGERICHTSHOF
vom
6. November 2024
in der Familiensache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
BGB § 1631 b; FamFG §§ 164 Satz 2, 167 Abs. 3, 321 Abs. 1
a) In Verfahren, welche die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Kindes betreffen, welches das 14. Lebensjahr vollendet hat, ist das nach § 321 Abs. 1 FamFG eingeholte Sachverständigengutachten mit seinem vollen Wortlaut dem betroffenen Kind im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit (§ 167 Abs. 3 FamFG) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 9. Oktober 2024 XII ZB 253/24 juris).
b) Von der Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens kann in diesen Verfahren auch unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG abgesehen werden. Dem betroffenen Kind ist dann jedoch der Inhalt des Gutachtens entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 9. Oktober 2024 XII ZB 253/24 juris).
BGH, Beschluss vom 6. November 2024 - XII ZB 368/24 - OLG Celle, AG Stadthagen
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. November 2024 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, den Richter Dr. Botur und die Richterinnen Dr. Krüger, Dr. Pernice und Dr. Recknagel
beschlossen:
Der Betroffenen wird gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (§ 17 FamFG).
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Familiengericht Stadthagen vom 4. Juli 2024 und der Beschluss des 12. Zivilsenats Senat für Familiensachen des Oberlandesgerichts Celle vom 17. Juli 2024 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt (§§ 167 Abs. 1 Satz 1, 337 Abs. 1 FamFG).
Eine Wertfestsetzung ist nicht veranlasst.
Gründe:
[1] I. Die im August 2007 geborene Betroffene wendet sich gegen die familiengerichtliche Genehmigung ihrer Unterbringung.
[2] Die in den Jahren 2015/2016 mit ihrer Familie aus dem Irak in die Bundesrepublik gekommene Betroffene wurde am 16. April 2024 vor dem Hintergrund familiärer Gewalterfahrungen nach der Äußerung von Suizidgedanken in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik aufgenommen. Mit Beschluss vom 18. April 2024 entzog das Amtsgericht im Wege einstweiliger Anordnung den Kindeseltern (Beteiligte zu 2 und 3) die elterliche Sorge und bestellte das Jugendamt (Beteiligter zu 4) zum Amtsvormund für die Betroffene. Ebenfalls durch einstweilige Anordnungen genehmigte das Amtsgericht die sechswöchige Unterbringung der Betroffenen bis zum 29. Mai 2024 und daran anschließend bis zum 8. Juli 2024.
[3] Im vorliegenden Hauptsacheverfahren hat der Amtsvormund schriftlich beantragt, die familiengerichtliche Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen über den 8. Juli 2024 hinaus zu verlängern. Das Amtsgericht hat eine Verfahrensbeiständin (Beteiligte zu 1) bestellt, die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeordnet und nach Eingang des Gutachtens die Betroffene in Anwesenheit der Verfahrensbeiständin persönlich angehört. Mit Beschluss vom 4. Juli 2024 hat das Amtsgericht die Unterbringung der Betroffenen in "einer geschlossenen Einrichtung einer psychiatrischen Klinik" bis zum 25. September 2024 familiengerichtlich genehmigt. Das Oberlandesgericht hat die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde wendet sich die Betroffene weiterhin gegen die Genehmigung ihrer Unterbringung.
[4] II. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist statthaft. Bei der Genehmigung der freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB handelt es sich um ein Verfahren nach § 151 Nr. 6 FamFG. Die Statthaftigkeit des Rechtsmittels ergibt sich damit auch im Falle einer aufgrund Zeitablaufs eingetretenen Erledigung der Unterbringungsmaßnahme (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Juni 2024 XII ZB 197/24 FamRZ 2024, 1582 Rn. 5 mwN) aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG. Die Rechtsbeschwerde ist auch im Übrigen zulässig und führt in der Sache zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts. Denn diese haben die Betroffene in ihren Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG festzustellen ist.
[5] 1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen am 1. Juli 2024 verfahrensfehlerhaft war, weil ihr vor der Anhörung das Sachverständigengutachten nicht überlassen worden ist.
[6] a) Bei Verfahren, welche die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen (§ 151 Nr. 6 FamFG), sind gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1 FamFG die für Unterbringungssachen Volljähriger nach § 312 Nr. 1 und 2 FamFG geltenden Vorschriften anwendbar. Nach § 319 Abs. 2 Satz 1 FamFG in der seit dem 1. Januar 2023 geltenden Fassung erörtert das Gericht in der Anhörung mit dem Betroffenen unter anderem das Ergebnis des übermittelten Gutachtens. Daraus folgt, dass dem Betroffenen bereits rechtzeitig vor der Anhörung die Möglichkeit gegeben werden muss, persönlich Kenntnis von dem nach § 321 FamFG eingeholten Sachverständigengutachten zu nehmen. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats für den bis zum 31. Dezember 2022 geltenden Rechtszustand, wonach die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraussetzt, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG. Im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit Minderjähriger, die das 14. Lebensjahr vollendet haben (§ 167 Abs. 3 FamFG), gelten diese Grundsätze auch in Verfahren, welche die Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen entsprechenden Alters nach § 1631 b BGB betreffen (vgl. Senatsbeschluss vom 9. Oktober 2024 XII ZB 253/24 juris Rn. 11).
[7] Nach der Rechtsprechung des Senats kann von der vorherigen Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Macht das Gericht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe des Gutachtens die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, muss ein Verfahrenspfleger bestellt, diesem das Gutachten übergeben werden und die regelmäßig auf einen entsprechenden gerichtlichen Hinweis gegründete Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht. Nichts Anderes gilt in Verfahren, welche die familiengerichtliche Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung eines Minderjährigen nach § 1631 b BGB betreffen. Zwar kann in diesen Verfahren auch unter den Voraussetzungen des § 164 Satz 2 FamFG von der Bekanntgabe des Gutachtens abgesehen werden, wenn dadurch nämlich Nachteile für die Entwicklung, Erziehung oder Gesundheit des Kindes zu befürchten sind. Dem Kind ist dann jedoch das Gutachten entsprechend seinem Alter und Entwicklungsstand durch den Verfahrensbeistand mitzuteilen, damit es sich auf den Anhörungstermin vorbereiten kann (vgl. Senatsbeschlüsse vom 9. Oktober 2024 XII ZB 253/24 juris Rn. 12 f. und vom 18. Juli 2012 XII ZB 661/11 FamRZ 2012, 1556 Rn. 16 mwN).
[8] b) Diesen Anforderungen wird das Verfahren des Amtsgerichts nicht gerecht.
[9] Eine Übersendung des unter dem 24. Juni 2024 erstatteten Sachverständigengutachtens ist nach der richterlichen Verfügung vom 29. Juni 2024 nicht an die Betroffene, sondern nur an die Verfahrensbeiständin erfolgt. Zwar ergibt sich aus dem Anhörungsprotokoll, dass auch der Inhalt des Sachverständigengutachtens Gegenstand der Anhörung der Betroffenen durch die Familienrichterin am 1. Juli 2024 gewesen ist. Es genügt indessen nicht, dass das Gericht dem Betroffenen im Rahmen der Anhörung wie hier lediglich den wesentlichen Inhalt eines in den Gerichtsakten befindlichen Sachverständigengutachtens bekannt gibt und diesen dann mit ihm erörtert. Denn ohne rechtzeitige vorherige Kenntnis des Gutachtens im vollen Wortlaut wird dem Betroffenen die effektive Möglichkeit genommen, sich auf den Anhörungstermin ausreichend vorzubereiten und durch die Erhebung von Einwendungen und durch Vorhalte an den Sachverständigen eine andere Einschätzung zu erreichen (vgl. Senatsbeschluss vom 26. September 2018 XII ZB 395/18 - FamRZ 2019, 139 Rn. 9 mwN).
[10] Zu den Voraussetzungen von § 325 Abs. 1 FamFG oder § 164 Satz 2
FamFG, unter denen die Bekanntgabe des Gutachtens an die Betroffene hätte unterbleiben können, sind keine Feststellungen getroffen worden. Das Gutachten enthält selbst nur den Hinweis darauf, dass dessen Inhalt "auf keinen Fall den Kindeseltern bekannt werden" sollte. Selbst wenn man unterstellen wollte, dass die Zurverfügungstellung des Gutachtens in seinem vollen Wortlaut an die Betroffene die Gefahr einer Kenntnisnahme seines wesentlichen Inhalts durch die Kindeseltern erheblich erhöht und dadurch mögliche Nachteile in der Erziehung und Entwicklung der Betroffenen zu befürchten wären, ändert dies an der Fehlerhaftigkeit des amtsgerichtlichen Verfahrens nichts. Denn jedenfalls hätte das Amtsgericht dafür Sorge tragen müssen, dass die Verfahrensbeiständin bereits im Vorfeld der Anhörung Gelegenheit hatte, den Inhalt des Gutachtens zur Vorbereitung des Anhörungstermins mit der Betroffenen zu besprechen. Dass dies der Fall gewesen wäre, lässt sich der Gerichtsakte nicht entnehmen, zumal das Gutachten der Verfahrensbeiständin offensichtlich erst am Tage der Anhörung per Telefax übermittelt worden war. Im Übrigen ergibt sich aus dem Anhörungsprotokoll lediglich, dass eine Kopie des Gutachtens dem behandelnden Arzt übergeben worden und ein Therapiegespräch mit der Betroffenen über den Inhalt des Gutachtens beabsichtigt war.
[11] 2. Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde zudem als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung der Betroffenen abgesehen hat.
[12] a) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Senats voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom 2. März 2022 XII ZB 558/21 FamRZ 2022, 891 Rn. 10 mwN).
[13] b) Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht wie geschehen von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen. Denn die Anhörung der Betroffenen durch das Familiengericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihr das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin am 1. Juli 2024 überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte die Betroffene schon deshalb erneut anhören müssen.
[14] 3. Die Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.
[15] a) Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist. Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 22. März 2023 XII ZB 498/22 FamRZ 2023, 1234 Rn. 11 mwN).
[16] b) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der hier durch Zeitablauf erledigten Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1
FamFG (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 22. März 2023 XII ZB 498/22 FamRZ 2023, 1234 Rn. 12 mwN).
[17] 4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.
Guhling Botur Krüger
Pernice Recknagel

