BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 114/19

22.03.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

6. Oktober 2020

in der Abschiebungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG § 417 Abs. 2 Satz 2


Eine Darstellung des maßgeblichen Verfahrens im Haftantrag ist entbehrlich, wenn die Verfahrensschritte, die nach den einschlägigen völkervertrags- oder unionsrechtlichen Regelungen für die Überprüfung der erforderlichen Dauer der Haft entscheidend sind, so dargestellt werden, dass der Haftrichter in eine Prüfung eintreten kann.


BGH, Beschluss vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 114/19 - LG Kleve, AG Kleve


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 6. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Meier-Beck, die Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, den Richter Prof. Dr. Kirchhoff sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Linder

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Kleve vom 11. April 2019 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein vietnamesischer Staatsangehöriger, hielt sich seit 2013 unerlaubt in Deutschland auf. Am 10. April 2019 wurde er im Rahmen der Durchsuchung eines Schnellrestaurants durch Beamte der Bundespolizei festgenommen, weil er weder über einen gültigen Reisepass noch über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügte. Bei der Befragung durch die Ausländerbehörde gab er vor, slowenischer Staatsangehöriger zu sein. Von dieser Behauptung rückte er auch nach dem Vorhalt des Ergebnisses einer Recherche bei den slowenischen Behörden, wonach er kein slowenischer Staatsangehöriger sei, nicht ab. Die beteiligte Behörde ordnete am 11. April 2019 die sofortige Abschiebung des Betroffenen an.

[2] Auf ihren Antrag hat das Amtsgericht noch am gleichen Tag gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 11. Oktober 2019 angeordnet. Während des Beschwerdeverfahrens hat die beteiligte Behörde bei einer Durchsuchung der Wohnung des Betroffenen dessen Geburtsurkunde aufgefunden. Das Amtsgericht hat daraufhin im Wege der Teilabhilfe durch Beschluss vom 21. Juni 2019 die Haft auf den 11. September 2019 verkürzt. Der Betroffene ist am 19. Juli 2019 nach Vietnam abgeschoben worden. Seine mit dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der vollzogenen Haft fortgeführte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.

[3] II. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

[4] 1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts beruht die angeordnete Haft auf einem zulässigen Haftantrag. Sie sei in der Fassung des Abhilfebeschlusses auch rechtmäßig. Der Betroffene sei aufgrund der - im Haftanordnungsverfahren nicht zu überprüfenden - Abschiebungsanordnung der beteiligten Behörde vollziehbar ausreisepflichtig. Auch ein Haftgrund sei gegeben. Der Betroffene habe sich beharrlich geweigert, nach Vietnam zurückzukehren. Außerdem habe er angegeben, sich für 8.000 € gefälschte Papiere beschafft zu haben, um in Deutschland arbeiten, gleichwohl aber zu Besuch nach Vietnam zurückkehren zu können. Auch die Haftdauer sei nicht zu beanstanden. Sich-erungshaft könne nach § 62 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 AufenthG auch für einen Zeitraum von über drei Monaten angeordnet werden, wenn die Abschiebung aus von dem Ausländer zu vertretenden Gründen erst nach mehr als drei Monaten durchgeführt werden könne. Diese Voraussetzungen hätten hier vorgelegen. Der Betroffene habe bei seinem Aufgriff keine Papiere vorgelegt, mit denen er seine wahre Identität hätte nachweisen können. Er habe sich zudem als slowenischer Staatsangehöriger ausgegeben, sodass die Verzögerung bei der Beschaffung des Passersatzpapiers und bei der Prognose der erforderlichen Haftzeit zu seinen Lasten gehe.

[5] 2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung stand.

[6] a) Der Haftanordnung lag ein zulässiger Haftantrag zugrunde.

[7] aa) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen. Sind diese Anforderungen nicht erfüllt, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 14. Juli 2020 - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7).

[8] bb) Die Durchführbarkeit der Abschiebung muss mit konkretem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, dargelegt werden. Anzugeben ist dazu, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt und ob diese im konkreten Fall vorliegen. Soweit mit dem Zielstaat - wie hier mit Vietnam, dem tatsächlichen Heimatland des Betroffenen - ein Rückübernahmeabkommen besteht (hier das Abkommen zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und der Sozialistischen Republik Vietnam vom 21. Juli 1995, BGBl. II 743 mit Protokoll vom gleichen Tag, BGBl. II 746, fortan Rücknahmeabkommen und Protokoll), sind die danach durchzuführenden Maßnahmen im Haftantrag darzustellen (BGH, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 96/12, juris Rn. 9 mwN).

[9] cc) Diesen Anforderungen genügt der Haftantrag der beteiligten Behörde. Er verhält sich zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungs-voraussetzungen und zur Erforderlichkeit der Haft. Anders als der Betroffene meint, reichen auch die Ausführungen zur erforderlichen Dauer der Haft und zur Durchführbarkeit der Abschiebung aus.

[10] (1) Die beteiligte Behörde hat im Haftantrag zwar das deutsch-

vietnamesische Rücknahmeabkommen nicht erwähnt und auch nicht dargestellt, in welchen Verfahrensschritten die Rücknahme vietnamesischer Staatsange-höriger nach diesem Abkommen abläuft. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch nicht nötig. Eine Darstellung des maßgeblichen Verfahrens in dem Haftantrag ist entbehrlich, wenn die Verfahrensschritte, die nach den einschlägigen völkervertrags- oder unionsrechtlichen Regelungen für die Überprüfung der erforderlichen Dauer der Haft entscheidend sind, so dargestellt werden, dass der Haftrichter in eine Prüfung eintreten kann.

[11] (a) Wenn es sich - wie hier - um vietnamesische Staatsangehörige handelt, deren Staatsangehörigkeit weder durch die in Art. 5 Abs. 1 des Abkommens genannten Nachweise (Staatsangehörigkeitsurkunden, Pässe aller Art, Verbalnoten der vietnamesischen Auslandsvertretungen in Deutschland) nachgewiesen noch mit den in Art. 5 Abs. 2 des Abkommens zugelassenen Unter-lagen (Personalausweise, Laissez-Passer mit Lichtbild, Geburtsurkunden usw.) glaubhaft gemacht werden kann, genügt es, wenn der Haftantrag Angaben zu den Prüfterminen enthält. In den genannten Fällen nimmt Vietnam nach Art. 6 Abs. 1 des Abkommens eine Überprüfung der Staatsangehörigkeit durch eine Anhörung der betreffenden Person vor. Diese Prüfung findet in ein bis zwei Sammelterminen jährlich statt, in denen die betreffenden Personen von aus Vietnam angereisten Experten der zuständigen staatlichen Stellen Vietnams angehört werden und geprüft wird, ob sie vietnamesische Staatsangehörige sind. Für die Beurteilung der erforderlichen Dauer der Haft kommt es in diesen Fällen entscheidend auf den maßgeblichen Sammelprüftermin an. Es genügt deshalb, wenn die beteiligte Behörde in dem Haftantrag angibt, zu welcher Gruppe zurückzunehmender vietnamesischer Staatsangehöriger der Betroffene im Einzelfall konkret gehört, und gegebenenfalls, wann der nächste erreichbare Sammeltermin stattfindet (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 96/12, juris Rn. 11).

[12] (b) Danach genügte der Haftantrag der beteiligten Behörde den gesetzlichen Anforderungen. Die beteiligte Behörde hat in ihrem Haftantrag dargelegt, dass der Betroffene nicht über gültige Papiere verfügte, seine vietnamesische Staatsangehörigkeit damit also weder nach Art. 5 Abs. 1 des Abkommens nachgewiesen noch nach dessen Art. 5 Abs. 2 glaubhaft gemacht werden konnte. Sie hat außer der zwar allgemein gehaltenen, aber in der Sache zutreffenden Angabe, die Erteilung der Reisedokumente nehme fünf bis sechs Monate in Anspruch, ausgeführt, in der ersten Septemberwoche 2019 finde eine Sammelvorführung vor einer Expertenkommission der vietnamesischen Botschaft statt, sodass eine Identifizierung des Betroffenen als vietnamesischer Staatsangehöriger spätestens über diese Kommission erfolgen werde. Damit hat sie den entscheidenden Punkt genannt, was ausreicht.

[13] (c) Bedenken gegen die Zulässigkeit des Haftantrags ergeben sich auch nicht daraus, dass die nächste Prüfung der vietnamesischen Expertenkommission in mehr als fünf Monaten stattfand und sich der Haftantrag nicht zu zügigeren Alternativen verhält. Neben dem völkervertraglich festgelegten Prüfverfahren sind zwar nach einem abgestimmten Ergebnisvermerk des Auswärtigen Amtes über eine Konsultation mit den vietnamesischen Behörden vom 27. Februar bis 3. März 2006 in Hoi An auch Einzelrückführungen möglich. Eine solche Einzelrückführung soll aber - als Ausnahme von dem völkervertraglich vereinbarten Listenverfahren - nur in begründeten Einzelfällen stattfinden und auch nur nach Absprache zwischen den deutschen und den vietnamesischen Behörden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juni 2012 - V ZB 263/11, juris Rn. 13). Deshalb muss der Haftantrag Ausführungen dazu nur enthalten, wenn greifbare Anhaltspunkte für einen solchen Ausnahmefall vorliegen. Dafür ist hier nichts ersichtlich.

[14] b) Das Amtsgericht hat die angeordnete Haft, wie entsprechend § 426 FamFG geboten (BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, NVwZ 2017, 733 [Ls.] = juris Rn. 13), auf die Beschwerde des Betroffenen hin mit dem Abhilfebeschluss auf den Zeitraum verkürzt, mit dem nach dem Auffinden der Geburtsurkunde des Betroffenen aufgrund der ihm übermittelten Angaben zu rechnen war.

[15] c) Die Haft durfte jedenfalls deshalb nach § 62 Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 Satz 1 AufenthG über drei Monate hinaus angeordnet und aufrechterhalten werden, weil der Betroffene verschwiegen hatte, dass er über eine Geburtsurkunde verfügte, die seine Identifizierung erlaubte und eine - tatsächlich auch eingetretene - wesentliche Verkürzung der erforderlichen Haft erwarten ließ.

[16] 3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

Meier-Beck Schmidt-Räntsch Kirchhoff

Picker Linder

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