BGH, Beschluss vom 7. Mai 2025 - XII ZB 361/24

01.07.2025

BUNDESGERICHTSHOF

vom

7. Mai 2025

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: ja

BGHR: ja


BGB § 1832 Abs. 1 Satz 1


a) Die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Fertigarzneimittels (sog. "Off-Label-Use") im Wege der ärztlichen Zwangsmaßnahme setzt eine gemeinsame Entscheidungsfindung voraus, die grundsätzlich auch zwischen dem Arzt und dem für den Betroffenen handelnden Betreuer erfolgen kann.

b) Die gemeinsame Entscheidung von Arzt und Betreuer über die zwangsweise erfolgende zulassungsüberschreitende Anwendung eines Fertigarzneimittels gegen den Willen des Betroffenen setzt eine medizinisch-wissenschaftlich konsentierte Grundlage voraus, die sich unter Beachtung der von den führenden medizinischen Gesellschaften erstellten Leitlinien auch aus Empfehlungen nationaler und internationaler medizinischer Fachgesellschaften ergeben kann.


BGH, Beschluss vom 7. Mai 2025 - XII ZB 361/24 - LG Berlin II, AG Wedding


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. Mai 2025 durch den

Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Recknagel

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 1 gegen den Beschluss der 87. Zivilkammer des Landgerichts Berlin II vom 4. Juli 2024 wird zurückgewiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Gründe:

[1] I. Die 65-jährige Betroffene leidet nach den getroffenen Feststellungen im Zustand nach Herzstillstand, Hirnblutung und Sauerstoffmangel des Gehirns an einer wahnhaften Störung.

[2] Auf Antrag der Beteiligten zu 2 (Betreuerin) hat das Amtsgericht die weitere Unterbringung der Betroffenen nebst medikamentöser Zwangsbehandlung genehmigt, darunter die intramuskuläre Verabreichung von Haloperidol bei Verweigerung der oralen Einnahme der zu verabreichenden Medikamente. Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht die Entscheidung teilweise abgeändert und den Antrag der Betreuerin zurückgewiesen, soweit es insbesondere die Genehmigung ihrer Einwilligung "in eine Behandlung mit Haloperidol in der Applikationsform ‚intramuskulär' (Off-Label Gebrauch)" betrifft. Hiergegen richtet sich die vom Landgericht zugelassene Rechtsbeschwerde des Verfahrenspflegers, mit der er nach durch Zeitablauf eingetretener Erledigung die Feststellung begehrt, dass der Beschluss des Landgerichts insoweit die Betroffene in ihren Rechten verletzt hat.

[3] II. Die statthafte (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Mai 2019 ­ XII ZB 2/19 ­

FamRZ 2019, 1181 Rn. 6) und vom Verfahrenspfleger (vgl. § 62 Abs. 4 FamFG) auch im Übrigen zulässig eingelegte Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.

[4] 1. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Hinsichtlich der vom Amtsgericht genehmigten Einwilligung der Betreuerin in die intramuskuläre Verabreichung des Neuroleptikums Haloperidol mangele es an der Voraussetzung einer fachgerechten, leitliniengetreuen Anwendung und damit an der Notwendigkeit der Maßnahme. Das Medikament sei nur in der Form einer oralen Verabreichung zur Behandlung von Schizophrenie, schizoaffektiven Störungen und zur Behandlung von mittelschweren bis schweren manischen Episoden zugelassen. Für eine intramuskuläre Verabreichung liege bei dieser Indikation keine Zulassung vor. Das Medikament könne daher intramuskulär nur im Rahmen eines individuellen Heilungsversuchs, der vom medizinischen Standard abweicht (sog. Off-Label-Use), zur Anwendung kommen. Eine solche ärztliche Maßnahme könne aber nicht mit staatlicher Gewalt zwangsweise umgesetzt werden. Denn gemäß der S3-Richtline Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) müssten, um Substanzen als Off-Label Gebrauch in der klinischen Praxis einzusetzen, nicht nur die Kriterien der nachgewiesenen Wirksamkeit, des günstigen Nutzen-Risikoprofils und der fehlenden Alternativen erfüllt sein. Vielmehr habe der behandelnde Arzt auch eine besondere Aufklärungspflicht über mögliche Konsequenzen (keine Herstellerhaftung usw.) gegenüber dem Patienten, und es sei eine gemeinsame Entscheidungsfindung notwendig. Die gemeinsame Entscheidungsfindung setze das Einvernehmen mit dem Betroffenen persönlich voraus, welches der Betreuer nicht ersetzen könne. Jedenfalls könne eine Off-Label Behandlung, bei der lebensgefährliche Nebenwirkungen auftreten könnten, wie hier beschrieben vereinzelte Fälle von plötzlichem Hirntod, nicht mit staatlichem Zwang durchgesetzt werden.

[5] 2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht in allen Punkten stand. Ob die Behandlung des Betroffenen mit dem in Aussicht genommenen Neuroleptikum hilfsweise in einer Verabreichungsform, für die es in Bezug auf die vorliegende Erkrankung arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist, gegen seinen Willen betreuungsgerichtlich genehmigt werden kann, kann auf Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilt werden.

[6] a) Die Behandlung eines Patienten mit einem Arzneimittel setzt seine wirksame Einwilligung voraus (§ 630 d BGB). Anstelle eines Betreuten kann der Betreuer in eine im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung erfolgende ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen, wenn die in § 1832 Abs. 1 Satz 1 BGB aufgezählten Voraussetzungen kumulativ vorliegen.

[7] aa) Bei der Ausgestaltung dieser Voraussetzungen hatte der Gesetzgeber im Blick, dass es sich bei einer solchen Zwangsbehandlung wegen des mit ihr verbundenen erheblichen Eingriffs in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das auch das Recht auf Selbstbestimmung hinsichtlich der körperlichen Integrität schützt, nur um die ultima ratio handeln darf. Die Anwendung dieses letzten Mittels kommt insbesondere in Situationen drohender erheblicher Selbstgefährdung und nur bei Betroffenen in Betracht, die aufgrund psychischer Krankheit oder geistiger oder seelischer Behinderung selbst einwilligungsunfähig sind. Zudem erfordert der mit einer Zwangsbehandlung regelmäßig verbundene schwerwiegende Grundrechtseingriff eine strikte Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 = FamRZ 2014, 1358 Rn. 10).

[8] Gemäß § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB muss die ärztliche Zwangsmaßnahme notwendig sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden von dem Betreuten abzuwenden. Denn die Überwindung des entgegenstehenden natürlichen Willens des Betreuten im Wege der Zwangsbehandlung kann schon im Ansatz nur dann gerechtfertigt sein, wenn es gilt, gewichtige gesundheitliche Nachteile des Betreuten zu verhindern. Umgekehrt ist der natürliche Wille des Betreuten zu respektieren, wenn auch bei Unterbleiben der Behandlung keine wesentlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 = FamRZ 2014, 1358 Rn. 12 mwN).

[9] Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist weiterhin das Erfordernis, dass der drohende erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere den Betreuten weniger belastende Maßnahme abgewendet werden kann (§ 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 BGB). Eine solche kann etwa in einer alternativen Behandlungsmethode zu sehen sein, die nicht dem natürlichen Willen des Betreuten widerspricht und ebenfalls das mit der Zwangsbehandlung verfolgte Behandlungsziel herbeizuführen vermag, aber auch in sonstigen, die Behandlung entbehrlich machenden Maßnahmen (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 = FamRZ 2014, 1358 Rn. 13 mwN).

[10] Auch wenn diese Voraussetzungen vorliegen, ist die Zwangsbehandlung nur verhältnismäßig, sofern der von ihr zu erwartende Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt (§ 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 BGB). Dem zu erwartenden Behandlungserfolg sind die mit der Behandlung verbundenen Neben- und Auswirkungen einschließlich der möglichen Komplikationen gegenüberzustellen und Nutzen und Beeinträchtigungen gegeneinander abzuwägen (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 201, 324 = FamRZ 2014, 1358 Rn. 14 mwN).

[11] bb) Das vom Gesetz geforderte Merkmal der Notwendigkeit im Sinne des § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB setzt eine feststehende medizinische Indikation voraus, und zwar sowohl hinsichtlich der ärztlichen Maßnahme als solcher wie auch hinsichtlich ihrer gegebenenfalls zwangsweisen Durchführung (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 224, 224 = FamRZ 2020, 534 Rn. 22).

[12] Dabei beurteilt sich die Notwendigkeit einer Maßnahme nicht am Maßstab des subjektiven "Behandlungsoptimismus" des jeweiligen Behandlers oder Gutachters, sondern nach objektivierten, evidenzbasierten Notwendigkeitskriterien. Dem Begriff der Notwendigkeit als Rechtfertigung für eine Zwangsmaßnahme wohnt nämlich inne, dass es sich bezogen auf die konkrete Erkrankung um eine geeignete Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst gemäß den anerkannten medizinischen Standards handeln muss. Wegen der Schwere des mit einer Zwangsbehandlung verbundenen Grundrechtseingriffs muss sich deren Durchführung auf einen breiten medizinisch-wissenschaftlichen Konsens stützen können, und zwar sowohl was die Therapie als solche betrifft als auch deren spezielle Durchführungsform im Wege der Zwangsbehandlung gegen den Widerstand des Patienten. Eine Behandlungsform, die nicht breitem medizinischen Konsens entspricht, mag dem Patienten in ärztlicher Verantwortung angeboten, darf aber nicht mit staatlicher Gewalt gegen seinen Willen zwangsweise durchgeführt werden (Senatsbeschluss BGHZ 224, 224 = FamRZ 2020, 534 Rn. 23).

[13] Von einem tragfähigen medizinisch-wissenschaftlichen Konsens ist namentlich dann auszugehen, wenn die vorgesehene Behandlung den evidenzbasierten Handlungsempfehlungen eines institutionalisierten Expertengremiums entspricht. Dem dienen die Stellungnahmen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ebenso wie die von den führenden medizinischen Gesellschaften erstellten Leitlinien, welche den ­ nach definiertem, transparent gemachtem Vorgehen erzielten ­ Konsens zu bestimmten ärztlichen Vorgehensweisen wiedergeben und denen deshalb die Bedeutung wissenschaftlich begründeter Handlungsempfehlungen zukommt (Senatsbeschluss BGHZ 224, 224 =

FamRZ 2020, 534 Rn. 24).

[14] cc) Fertigarzneimittel dürfen grundsätzlich nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Behörde zugelassen sind (§ 21 Abs. 1 Satz 1 AMG). Die Zulassung setzt eine vorherige sachverständige Begutachtung voraus (§ 24 AMG), die sich namentlich auf die Wirksamkeit und die Sicherheit des Arzneimittels bezieht (vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 4 und Nr. 5 AMG).

[15] (1) Mit der Zulassung wird bescheinigt, dass das Arzneimittel für die mit den Zulassungsunterlagen bestimmte Anwendung in den Verkehr gebracht werden darf. Zugleich löst die Bescheinigung eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der konkreten Therapie aus (vgl. BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 Rn. 12). Sie erfüllt damit zugleich die Voraussetzungen einer institutionalisierten Überprüfung durch ein Expertengremium als Voraussetzung für einen ausreichenden medizinisch-wissenschaftlichen Konsens, der die Anwendung des Arzneimittels nicht nur im Allgemeinen, sondern grundsätzlich auch gegen den Willen des Patienten unter Zwang eröffnet.

[16] (2) Zu den näheren Spezifikationen, auf die sich die Zulassung bezieht, gehören neben dem Anwendungsgebiet, dem Wirkstoff und der Stärke auch die Darreichungsform und der Verabreichungsweg (§ 22 Abs. 1 Nr. 4 AMG; vgl. auch § 24 b Abs. 2 Satz 4 AMG). Bei einer Anwendung des Arzneimittels innerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs haftet der pharmazeutische Unternehmer, der das Arzneimittel in den Verkehr gebracht hat, für schädliche Wirkungen an Leben und Gesundheit, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen (§ 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG).

[17] b) Nach den getroffenen und von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen ist das Neuroleptikum Haloperidol bei der hier vorliegenden Indikation arzneimittelrechtlich nur zur Behandlung im oralen Verabreichungsweg zugelassen. Damit sind Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels (nur) für diesen Verabreichungsweg sachverständig geprüft und in einem formalisierten Verfahren durch die Zulassung bestätigt. Demgegenüber bewegt sich die vom Betreuer beantragte und vom Amtsgericht (hilfsweise) genehmigte intramuskuläre Verabreichung außerhalb der arzneimittelrechtlichen Zulassung und der mit ihr einhergehenden, sachverständig erfolgten Überprüfung.

[18] c) Die Anwendung von Arzneimitteln auch außerhalb der Spezifikationen, auf die sich seine arzneimittelrechtliche Zulassung bezieht (sog. zulassungsüberschreitende Anwendung bzw. "Off-Label-Use"), entspricht indessen medizinischer Praxis. Sie bedeutet für sich genommen keinen ärztlichen Behandlungsfehler, kann aber erweiterte Aufklärungspflichten, eine verantwortungsvolle medizinische Abwägung und daran anknüpfende Haftung des behandelnden Arztes begründen (vgl. BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 Rn. 12, 18). Wie bei jeder Behandlung außerhalb der zu den medizinischen Standards gehörenden Therapien erfordert die verantwortungsvolle medizinische Abwägung einen ­ im Verhältnis zur standardgemäßen Behandlung ­ besonders sorgfältigen Vergleich zwischen den zu erwartenden Vorteilen und ihren abzusehenden oder zu vermutenden Nachteilen unter besonderer Berücksichtigung des Wohles des Patienten (vgl. BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767 Rn. 18 und BGHZ 168, 103 = NJW 2006, 2477 Rn. 6).

[19] d) In Bezug auf zulassungsüberschreitende Anwendungen von Fertigarzneimitteln bei bestimmten psychischen Erkrankungen verweist die vom Landgericht herangezogene S3-Leitlinie "Schizophrenie" der DGPPN (Stand: 15. März 2019 unter "Besondere Hinweise", S. 9, abrufbar unter www.awmf.org) auf bestehende "Off Label Use"-Kriterien. Um Substanzen als Off-Label Gebrauch in der klinischen Praxis einzusetzen, müssen danach die Kriterien "nachgewiesene Wirksamkeit; günstiges Nutzen-Risikoprofil; fehlende Alternativen ­ Heilversuch" erfüllt sein. Weiterhin habe "der behandelnde Arzt eine besondere Aufklärungspflicht über mögliche Konsequenzen (keine Herstellerhaftung usw.) gegenüber dem Patienten. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung" sei notwendig.

[20] Die Ausführungen der Leitlinie belegen einen bestehenden medizinisch-wissenschaftlichen Grundkonsens einerseits über die Zulässigkeit einer zulassungsüberschreitenden Anwendung von Arzneimitteln unter besonderen Voraussetzungen sowie andererseits über den in einem solchen Fall bestehenden besonderen Abstimmungsbedarf mit dem Patienten.

[21] e) Im Rahmen einer zivilrechtlichen Unterbringung kann die richtliniengemäße gemeinsame Entscheidungsfindung über eine zulassungsüberschreitende Anwendung eines Fertigarzneimittels ­ entgegen der Auffassung des Landgerichts ­ auch zwischen dem Arzt und dem für den Betroffenen handelnden Betreuer erfolgen. Anders als etwa bei der Elektrokonvulsionstherapie (vgl. Senatsbeschluss BGHZ 224, 224 = FamRZ 2020, 534 Rn. 27 f.) enthalten die Fachempfehlungen keinen Vorbehalt dahin, dass, falls der vom Gericht eingesetzte Betreuer der Behandlung zustimmt, der Patient ihr jedoch ausdrücklich widerspricht, im Regelfall darauf zu verzichten sei.

[22] Soll eine zulassungsüberschreitende Anwendung im Wege der Zwangsbehandlung gegen den Willen des Betroffenen stattfinden, bedarf die gemeinsame Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Betreuer allerdings ihrerseits einer medizinisch-wissenschaftlich konsentierten Grundlage. Diese füllt den Begriff der "Notwendigkeit" aus und gehört auch bei der zulassungsüberschreitenden Anwendung eines Arzneimittels zu den Voraussetzungen der gerichtlichen Genehmigung einer Zwangsbehandlung.

[23] Ein institutionalisiertes Verfahren der Bewertung zulassungsüberschreitender Anwendungen von Arzneimitteln besteht etwa im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Gemäß § 35 c SGB V beruft das Bundesministerium für Gesundheit Expertengruppen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für die Abgabe von Bewertungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Indikationen und Indikationsbereiche, für die sie nach dem Arzneimittelgesetz nicht zugelassen sind. Diese Bewertungen dienen nicht ausschließlich als Grundlage einer Beschlussfassung des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V, sondern können auch allgemein einen medizinisch-wissenschaftlichen Konsens belegen, der Grundlage für eine zulassungsüberschreitende Anwendung im Wege einer ärztlichen Zwangsmaßnahme sein kann.

[24] Darüber hinaus kann sich ein medizinisch-wissenschaftlicher Konsens über bewährte, zulassungsüberschreitende Arzneimittelregime auch aus Empfehlungen nationaler und internationaler medizinischer Fachgesellschaften ergeben (vgl. Beschluss des 128. Deutschen Ärztetags zu TOP Ic ­ 35).

[25] f) Indem das Landgericht sich nicht die Frage vorgelegt und auch der Sachverständige sich nicht dazu geäußert hat, ob ein medizinisch-wissenschaftlicher Konsens über die in Aussicht genommene zulassungsüberschreitende Anwendung des Arzneimittels besteht, etwa in Form einer Bewertung durch eine nach § 35 c SGB V berufenen Expertengruppe oder in Form von Empfehlungen nationaler und internationaler medizinischer Fachgesellschaften, hat es den Sachverhalt nicht vollständig im Sinne des § 26 FamFG aufgeklärt.

[26] 3. Das Unterlassen der vollständigen Aufklärung führt indessen nicht zu der begehrten Feststellung nach § 62 FamFG. Dabei kann die grundsätzliche Frage offenbleiben, ob ­ wie die Rechtsbeschwerde meint ­ in dem gerichtlichen Unterlassen der Genehmigung einer medizinisch indizierten Behandlung zugleich eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen liegen kann und daraufhin eine Feststellung nach § 62 FamFG ausgesprochen werden könnte.

[27] Denn nach den hier vorliegenden Umständen ergibt sich schon deshalb kein hinreichender Beleg für eine grundrechtswidrige Verwehrung einer den Gesundheitszustand der Betroffenen verbessernden Behandlung, weil es nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen als möglich erscheint, dass der erstrebte Behandlungserfolg auch unter einer Kombinationstherapie mit Aripiprazol und Amisulprid erreicht werden kann, deren orale Verabreichung die Betroffene nach den getroffenen Feststellungen bisher zugelassen hat. Einen auf diesem Wege möglichen Behandlungserfolg zieht auch die Rechtsbeschwerde nicht in Zweifel. Solange sich aber erfolgversprechende Behandlungsmöglichkeiten mit

zugelassenen Arzneimitteln ergeben, kommt die zulassungsüberschreitende Anwendung eines anderen Arzneimittels schon mangels der richtliniengemäßen Voraussetzung fehlender Alternativen nicht in Betracht.

Guhling Günter Nedden-Boeger

Krüger Recknagel

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