BGH: Erlass eines Umsatzsteuer-Erstattungsbescheids im laufenden Insolvenzverfahren für Zeiträume vor Insolvenzeröffnung

31.08.2009

InsO §§ 87, 89; AO § 251 Abs. 2 Satz 1; ZPO § 240

Erlass eines Umsatzsteuer-Erstattungsbescheids im laufenden Insolvenzverfahren für Zeiträume vor Insolvenzeröffnung

BFH, Urt. v. 13. 5. 2009 – XI R 63/07

Leitsatz des Gerichts:

Das Finanzamt ist berechtigt, in einem laufenden Insolvenzverfahren einen Umsatzsteuerbescheid zu erlassen, in dem eine negative Umsatzsteuer für einen Besteuerungszeitraum vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens festgesetzt wird, wenn sich daraus keine Zahllast ergibt.

Gründe:

[1]  I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Bescheid mit der Festsetzung einer negativen Umsatzsteuer für den Zeitraum vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergehen durfte.

[2]  Die T. GmbH (Gemeinschuldnerin) war als Generalauftragnehmerin für Neubau und Sanierung von Gebäuden tätig. Aus ihren für 2005 eingereichten Umsatzsteuer-Voranmeldungen ergab sich eine als Vorsteuer abziehbare Umsatzsteuer von 1.052,61 €. Mit Beschluss vom 29. Juni 2006 eröffnete das Amtsgericht D. – Insolvenzgericht – das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gemeinschuldnerin und bestellte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) zur Insolvenzverwalterin.

[3]  Mit Bescheid vom 26. Juli 2006 setzte der Beklagte und Revisionskläger (FA) die Umsatzsteuer 2005 gegen die Klägerin als Insolvenzverwalterin über das Vermögen der Gemeinschuldnerin auf ./.1.052,61 € fest. Das FA schätzte die steuerpflichtigen Lieferungen, sonstigen Leistungen und unentgeltlichen Wertabgaben auf 0 € und die Vorsteuern auf 1.052,61 €. In der Erläuterung führte es aus, die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen sei wegen Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt.

[4]  Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 12. Dezember 2006 als unbegründet zurück.

[5]  Die Klage hatte Erfolg. Das FG war der Auffassung, dass nach § 251 Abs. 2 AO der Erlass von Steuerbescheiden, mit denen Insolvenzforderungen festgesetzt würden, unzulässig sei. Dies gelte gleichermaßen für die Festsetzung einer negativen Umsatzsteuer. Mit Insolvenzeröffnung werde das Festsetzungsverfahren analog § 240 ZPO unterbrochen. Es sei daher auch der Erlass eines Steuerbescheids unzulässig, wenn darin ein Erstattungsbetrag festgesetzt werde. Das Urteil ist veröffentlicht in EFG 2008, 99.

[9]  Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

[12]  II. Die zulässige Revision ist begründet.

[13]  1. Die Revision ist zulässig. (Wird ausgeführt.)

[15]  2. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass das FA den Umsatzsteuerbescheid 2005 gem. § 251 Abs. 2 AO, § 240 ZPO analog nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr erlassen durfte.

[16]  a) Das FA war nicht aufgrund von § 251 Abs. 2 AO i.V.m. § 87 InsO gehindert, den Umsatzsteuerbescheid zu erlassen.

[17]  aa) Nach § 87 InsO, der über die Verweisung in § 251 Abs. 2 AO auch im Steuerrecht zu beachten ist, können die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Daraus hat der BFH in ständiger Rechtsprechung abgeleitet, dass Steuerbescheide nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht mehr ergehen dürfen, wenn darin Insolvenzforderungen festgesetzt werden (vgl. BFHE 207, 10 = BStBl II 2005, 246 = ZIP 2004, 2392, zur Rechtslage nach der KO; BFH, Urt. v. 10.12.2008 – I R 41/07, BFH/NV 2009, 719, m.w.N.). Ebenso dürfen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens keine Bescheide mehr erlassen werden, in denen Besteuerungsgrundlagen festgestellt werden, die die Höhe der zur Tabelle anzumeldenden Steuerforderungen beeinflussen könnten (vgl. ZIP Heft 34/2009, Seite 1632BFH, Urt. v. 2.7.1997 – I R 11/97, BFHE 183, 365 = BStBl II 1998, 428 = ZIP 1997, 2160, dazu EWiR 1998, 191 (Onusseit)).

[18]  bb) Mit dem angefochtenen Umsatzsteuerbescheid hat das FA eine negative Umsatzsteuer festgesetzt. Diesem Bescheid fehlt die abstrakte Eignung, sich auf anzumeldende Steuerforderungen auszuwirken. Denn damit hat das FA keine Insolvenzforderung, die nach § 87 InsO nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgt werden kann, sondern einen Erstattungsbetrag festgesetzt, der nicht zur Tabelle anzumelden war. Da sich auch nach Abrechnung mit den bereits ausgezahlten 1.052,61 € keine Zahllast ergibt, kann sich aus dem Bescheid unter keinen Umständen eine zur Tabelle anzumeldende Forderung ergeben. Auch hat der Umsatzsteuerbescheid – anders als ein Grundlagenbescheid – keine Auswirkungen auf Folgebescheide. Die angesetzten Besteuerungsgrundlagen (Umsätze, Vorsteuern) sind vielmehr unselbstständige Teile nur dieses Bescheids (§ 157 Abs. 2 AO).

[19]  cc) Soweit das FG meint, ein Steuererstattungsanspruch könnte sich deshalb auf die Insolvenzmasse auswirken, weil ein Insolvenzverwalter damit gegen Steuerforderungen aufrechnen könnte, trifft dies zwar grundsätzlich zu. Die Aufrechnung würde in diesem Fall jedoch auf einer freiwillig abgegebenen Willenserklärung des Insolvenzverwalters beruhen. Es ist nicht erkennbar, wieso die Insolvenzmasse insofern schutzbedürftig sein sollte.

[20]  b) Das Festsetzungsverfahren wurde nicht mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens analog § 240 Satz 1 ZPO unterbrochen.

[21]  Nach § 240 Satz 1 ZPO wird im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Partei das Verfahren, wenn es die Insolvenzmasse betrifft, unterbrochen, bis es nach den für das Insolvenzverfahren geltenden Vorschriften aufgenommen oder das Insolvenzverfahren beendet wird.

[22]  Soweit der BFH diese Norm analog auf das Steuerfestsetzungs- bzw. Feststellungsverfahren angewandt hat (vgl. z.B. BFHE 183, 365 = BStBl II 1998, 428 = ZIP 1997, 2160; BFH/NV 2009, 719; zum Gesamtvollstreckungsverfahren vgl. BFH, Beschl. v. 21.11.2001 – VII B 108/01, BFH/NV 2002, 315), betraf dies entweder Steuerbescheide oder Grundlagenbescheide, die abstrakt dazu geeignet waren, sich auf anzumeldende Steuerforderungen auszuwirken. Dies ist hier – wie oben ausgeführt – jedoch nicht der Fall.

[23]  Die vom Senat vertretene Auffassung entspricht der in der Literatur ganz herrschenden Meinung, nach der nach Insolvenzeröffnung Erstattungsbescheide für Zeiträume vor Insolvenzeröffnung ergehen dürfen (vgl. Heißenberg, Kölner Steuerdialog 1999, 12128, 12129; Welzel, DStZ 1999, 559, 560; Hagen, StBp 2004, 217, 219; Boochs/Dauernheim, Steuerrecht in der Insolvenz, 3. Aufl., Rz. 78; Farr, Die Besteuerung in der Insolvenz, Rz. 128; Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 7. Aufl., Rz. 367; a.A. Uhlenbruck, InsO, 12. Aufl., § 80 Rz. 20).

[24]  c) Der Umsatzsteuerbescheid 2005 ist nicht deshalb aufzuheben, weil er auf einer Schätzung nach § 162 AO beruht. Soweit die Klägerin sinngemäß meint, der Bescheid sei rechtswidrig, da die Voraussetzungen für eine Schätzung nicht vorgelegen hätten, führt dies nicht zum Erfolg der Klage. Die Frist zur Abgabe der Steuererklärung war am 31. Mai 2006 abgelaufen (vgl. § 149 Abs. 2 Satz 1 AO, § 18 Abs. 3 Satz 1 UStG). Die Voraussetzungen für eine allgemeine Fristverlängerung gem. § 109 AO i.V.m. den gleich lautenden Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder vom 23. Februar 2006 über Steuererklärungsfristen (BStBl I 2006, 234) lagen nicht vor. Denn die Klägerin war nicht steuerlich vertreten, da durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Beratungsvertrag mit dem Steuerberater der Gemeinschuldnerin beendet war (vgl. §§ 115, 116, 117 InsO; siehe auch Uhlenbruck, a.a.O., §§ 115, 116 Rz. 8, 11).

[25]  3. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Seine Entscheidung war daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Denn das FG hat – ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt zu Recht – noch nicht geprüft, ob die Schätzung im Hinblick auf eine von der Klägerin in der Klagebegründung begehrte Änderung der Bemessungsgrundlage nach § 17 UStG der Höhe nach rechtmäßig war.

Anmerkung von Günter Kahlert*

Mit dem vorstehend abgedruckten Urteil hat der BFH entschieden, dass eine negative Umsatzsteuer (Vorsteuer ist höher als Umsatzsteuer), die gem. § 38 InsO vor der Insolvenzeröffnung begründet ist, durch Umsatzsteuerbescheid festgesetzt werden darf. Das Urteil stellt nach den gesetzgeberischen Wertungen eine interessengerechte Verzahnung zwischen Steuerrecht und Insolvenzrecht her.

Mit seiner Entscheidung folgt der BFH der überwiegenden Meinung in der Literatur und der Auffassung der Finanzverwaltung (und konkretisiert eine Entscheidung des BFH zur KO), wonach vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Steuererstattungen durch Steuerbescheid festgesetzt werden dürfen (über die vom BMF genannten hinaus: Loose, in: Tipke/Kruse, AO, § 251 Rz. 56; Stahlschmidt, ZInsO 2006, 629; Kahlert/Rühland, Sanierungs- und Insolvenzsteuerrecht, 2007, Rz. 1525 ff.; BMF, Schreiben v. 17.12.1998, BStBl I 1998, 1500, Rz. 3; Abschn. 60 Abs. 2 VollstrA; BFH BStBl II 1979, 639, 640; a.A. Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 6. Aufl., 2005, Rz. 267).

Der BFH macht zu Recht das Verhältnis zwischen § 251 Abs. 2 Satz 1 AO und § 87 InsO zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Nach § 87 InsO können Insolvenzgläubiger ihre Forderungen nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Sie haben ihre zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Forderungen gegen den Insolvenzschuldner nach den Vorschriften der §§ 174 ff. InsO zu verfolgen, also zur Tabelle anzumelden. Das dient dem in § 1 Satz 1 InsO niedergelegten Ziel, die Gläubiger gemeinschaftlich zu befriedigen. Nach § 251 Abs. 2 Satz 1 AO bleiben die Vorschriften der InsO „unberührt“, haben also Vorrang. Das gilt nach der systematischen Stellung des § 251 Abs. 2 Satz 1 AO im Sechsten Teil (Vollstreckung) der AO zwar unmittelbar nur für das Vollstreckungsverfahren. § 251 Abs. 2 Satz 1 AO ist jedoch Ausdruck des allgemeinen Rechtsprinzips, wonach die speziellere Norm Vorrang hat. Denn könnte der Fiskus seine vor der Insolvenz begründeten ZIP Heft 34/2009, Seite 1633Steuerforderungen nach § 249 Abs. 1 Satz 1 AO im Insolvenzverfahren vollstrecken, so wäre die gemeinschaftliche Befriedigung der Gläubiger gefährdet (vgl. dazu Kahlert/Rühland, a.a.O., Rz. 1440 ff.).

Die Festsetzung von Steuererstattungsansprüchen ist jedoch – so der zutreffende Ansatz des BFH – gar nicht dadurch gekennzeichnet, dass die Finanzbehörde Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis geltend macht, die gem. § 249 Abs. 1 Satz 1 AO vollstreckt werden und das in § 1 Satz 1 InsO verankerte Ziel der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger gefährden könnten. Vielmehr werden durch solche Bescheide Erstattungsbeträge, also Ansprüche zu Gunsten des Insolvenzschuldners, festgesetzt. Es kann also gar nicht zu einem Konflikt zwischen § 249 Abs. 1 Satz 1 AO und § 87 InsO kommen. Auf dieser Grundlage geht der BFH auch zutreffend davon aus, dass das Steuerfestsetzungsverfahren nicht in entsprechender Anwendung des § 240 ZPO unterbrochen wird. Ebenso wird die gemeinschaftliche Befriedigung nach Ansicht des BFH zu Recht nicht durch Aufrechnungsmöglichkeiten gefährdet. Denn Aufrechnungen wären auch dann möglich, wenn statt einer Steuerfestsetzung eine bloße Berechnung der Erstattung erfolgte. Danach kann die Entscheidung des BFH über die Erstattung von Umsatzsteuern für sämtliche Steuererstattungen Geltung beanspruchen.

Die Insolvenzpraxis wird sich auf die Entscheidung einzustellen haben. Erforderlich sind die Prüfung der Erstattungsbescheide und ggf. die Einleitung rechtlicher Schritte. Grundlage für die Verwirklichung eines Erstattungsanspruchs ist nach § 218 Abs. 1 AO der Steuerbescheid, im Besprechungsurteil der Umsatzsteuerbescheid. Einwendungen gegen Grund und Höhe der Steuerfestsetzung können nur durch einen Einspruch gegen den Steuerbescheid verfolgt werden. Ist die Erfüllung des Erstattungsanspruchs streitig, also ob Steuerabzugsbeträge oder Vorauszahlungen anzurechnen oder Tilgungsleistungen berücksichtigt worden sind, ist ein Abrechnungsbescheid zu beantragen. Gegen den Abrechnungsbescheid oder die Ablehnung, einen Abrechnungsbescheid zu erlassen, kann Einspruch eingelegt werden (vgl. Koenig, in: Pahlke/Koenig, AO, 2. Aufl., 2009, § 37 Rz. 75 und Intermann, in: Pahlke/Koenig, a.a.O., § 218 Rz. 10 und 47 jew. m.N. aus der Rechtsprechung).


*

Dr. iur., Rechtsanwalt und Steuerberater, White & Case LLP, Hamburg

 

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