BGH, Urteil vom 24. September 2009 - IX ZR 189/08 - OLG Stuttgart

15.01.2010

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

IX ZR 189/08

Der Bundesgerichtshof hat bereits ausgesprochen (Beschl. v. 19. März

Verkündet am:

3. Dezember 2009

Hauck

Justizsekretärin

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk: ja

BGHZ: nein

BGHR: ja

InsO § 36 Abs. 1, §§ 129, 134, 143; ZPO § 850a, § 850b Abs. 1 Nr. 1

  1. a) Eine nach den Vorschriften des Zwangsvollstreckungsrechts bedingt pfändbare Berufsunfähigkeitsrente fällt im Insolvenzverfahren insoweit in die Insolvenzmas-se, als sie im Rahmen einer Billigkeitsentscheidung für pfändbar nach den für Ar-beitseinkommen geltenden Vorschriften erklärt wird.
  2. b) Die Billigkeitsprüfung, bei der alle in Betracht kommenden Umstände des Einzel-falls zu würdigen sind, obliegt dem Insolvenzgericht, wenn der Insolvenzverwalter beantragt, bedingt pfändbare Bezüge des Schuldners für pfändbar zu erklären, um sie wie Arbeitseinkommen zur Masse zu ziehen; streiten Insolvenzverwalter und Schuldner um die Massezugehörigkeit von bedingt pfändbaren Einkünften des Schuldners oder ist die Frage der Pfändbarkeit im Rahmen eines Anfechtungspro-zesses zu beantworten, muss die Billigkeitsentscheidung vom Prozessgericht ge-troffen werden.

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BGH, Urteil vom 24. September 2009 - IX ZR 189/08 - OLG Stuttgart

LG Tübingen

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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 24. September 2009 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ganter, den Rich-ter Vill, die Richterin Lohmann, die Richter Dr. Fischer und Dr. Pape

für Recht erkannt:

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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 24. September 2008 aufgeho-ben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.

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Von Rechts wegen

Tatbestand:

1

Der Kläger ist Verwalter in dem am 20. Juli 2005 eröffneten Insolvenzver-fahren über das Vermögen des Ehemannes der Beklagten (fortan Schuldner). Der Schuldner, der als Vorstand mehrerer Unternehmen tätig war, hatte bei der G. Versicherung (nachfolgend Versicherung) eine Berufsunfähigkeitsversi-cherung abgeschlossen. Hieraus standen ihm im Versicherungsfall jährlich 60.000 €, zahlbar in monatlichen Teilbeträgen von jeweils 5.000 € zu. Mit schriftlicher Erklärung vom 14. Oktober 2003 übertrug der Schuldner die Rechte aus dieser Versicherung auf die Beklagte. Mit Schreiben vom 2. September 2005 erkannte die Versicherung ihre Leistungspflicht aus der Berufsunfähig-

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keitsversicherung rückwirkend ab August 2002 an. Sie kündigte an, zum 1. Oktober 2005 die monatlichen Zahlungen aufzunehmen und den in der Ver-gangenheit aufgelaufenen Betrag an die Beklagte auszuzahlen. Im Januar 2006 erklärte der Insolvenzverwalter die Anfechtung der Abtretung an die Beklagte nach § 134 InsO. Mit der Klage begehrt er die Auskehrung der von der Versi-cherung an die Beklagte gezahlten Beträge und Rückgewähr der auf sie über-tragenen Berufsunfähigkeitsversicherung an die Masse.

2

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Be-klagten hat das Berufungsgericht sie abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Anfechtungsanspruch weiter.

Entscheidungsgründe:

3

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

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Das Berufungsgericht hat gemeint, die Übertragung der Versicherungs-nehmerstellung auf die Beklagte stelle mangels Gläubigerbenachteiligung keine anfechtbare Rechtshandlung dar. Die Rente aus der Berufsunfähigkeitsversi-cherung unterliege nicht dem Insolvenzbeschlag. Als arbeitsentgeltähnliches Einkommen im Sinne des § 850 Abs. 3 lit. b ZPO sei sie nach § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO pfändungsgeschützt und könne nicht zur Insolvenzmasse gezogen werden. Der Pfändungsschutz für Arbeitseinkommen stehe grundsätzlich auch

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Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern wegen ihrer laufenden Dienst- und Versorgungsbezüge zu. Nach zutreffender, überwiegend vertretener Auffas-sung fielen Berufsunfähigkeitsrenten unter die Pfändungsschutzbestimmung des § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO, weil sie die materiellen Lebensbedingungen des Versicherten, die durch die Gesundheitsbeeinträchtigung gefährdet seien, si-chern sollten. Es komme nicht darauf an, dass die Rente aufgrund einer ver-traglichen Vereinbarung gezahlt werde.

II.

5

Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung in einem we-sentlichen Punkt nicht stand. § 850b Abs. 1 ZPO ist auch im Insolvenzverfahren mit der Maßgabe anzuwenden, dass bedingt pfändbare Bezüge des Schuldners in die Insolvenzmasse fallen, soweit dies nach den Umständen des Falles, ins-besondere nach der Art des beizutreibenden Anspruchs und der Höhe der Be-züge der Billigkeit entspricht. In diesem Umfang ist die unentgeltliche Übertra-gung dieser Bezüge auch anfechtbar.

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1. Die Revision ist der Auffassung, die §§ 850 ff ZPO seien im Rahmen des Insolvenzverfahrens nur anwendbar, soweit in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO (in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes zur Änderung der Insolvenzord-nung und anderer Gesetze vom 26.10.2001, BGBl. I S. 2710) auf sie verwiesen werde. Regelungen, auf die nicht Bezug genommen werde, wie etwa der hier anzuwendende § 850b Abs. 1 ZPO, hätten im Insolvenzverfahren keine Wir-kung. Dies folge aus der ausdrücklichen Verweisung auf § 850a ZPO in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO. Obwohl § 850a ZPO die Unpfändbarkeit bestimmter Ge-genstände regele und damit die Übernahme in die Insolvenzordnung eigentlich

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schon aus § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO abzuleiten wäre, habe der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Vorschrift verwiesen. Hieraus sei zu entnehmen, dass sol-che Regelungen über die Unpfändbarkeit in den §§ 850 ff ZPO, auf die in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht ausdrücklich Bezug genommen werde, im Insolvenz-verfahren auch nicht anwendbar seien. Die Berufsunfähigkeitsrente sei deshalb ungeachtet ihrer Unpfändbarkeit gemäß § 850b Abs. 1 ZPO in die Insolvenz-masse gefallen. Wirke sich die Unpfändbarkeit nach § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO im Insolvenzverfahren nicht aus, sei die für eine Anfechtung nach § 134 InsO gemäß § 129 Abs. 1 InsO erforderliche Gläubigerbenachteiligung gegeben.

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2. Die Auffassung der Revision trifft nur insoweit zu, als bedingt pfändba-re Bezüge im Sinne des § 850b ZPO in die Insolvenzmasse fallen, soweit dies der Billigkeit entspricht. Im Übrigen dürfen entsprechende Zahlungen nicht von der Masse vereinnahmt werden.

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a) Ansprüche aus einer privaten Berufsunfähigkeitsrente sind nach § 850b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO nur bedingt pfändbar (vgl. BGHZ 70, 206, 207 ff; OLG Jena OLGR 2001, 51; OLG Karlsruhe InVo 2002, 238; OLG Mün-chen VersR 1997, 1520; OLG Oldenburg NJW-RR 1994, 479; OLG Saarbrü-cken VersR 1995, 1227, 1228; Hülsmann MDR 1994, 537; ders. VersR 1996, 308; Hk-ZPO/Kemper, 3. Aufl. § 850b Rn. 3; MünchKomm-ZPO/Smid, 3. Aufl. § 850b Rn. 3; Prütting/Gehrlein/Ahrens, ZPO § 850b Rn. 3; Zöller/Stöber, ZPO 28. Aufl. § 850b Rn. 2; Schuschke/Walker/Kessal-Wulf, Vollstreckung und vor-läufiger Rechtsschutz 4. Aufl. § 850b Rn. 9; Stöber, Forderungspfändung 14. Aufl. Rn. 1007). Geschützt sind auch rückständige Beträge, die in einer Summe geleistet werden (BGH, Urt. v. 24. September 1987 - III ZR 49/86, NJW 1988, 819, 820; Prütting/Gehrlein/Ahrens, aaO Rn. 4; Zöller/Stöber, aaO Rn. 2).

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2009 - IX ZA 2/09, ZInsO 2009, 915, 916 Rn. 6), dass eine von § 850b Abs. 1 Nr. 4 ZPO erfasste Todesfallversicherung nicht Bestandteil der Insolvenzmasse ist (der Beschluss vom 15. November 2007 - IX ZB 34/06, ZInsO 2008, 40 ff betraf demgegenüber eine nicht unter Pfändungsschutz ste-hende Rente). Ob auch Ansprüche aus einer privaten Berufsunfähigkeitsrente aufgrund ihrer grundsätzlichen Unpfändbarkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO nicht zur Masse gezogen werden dürfen, oder ob sie gemäß § 35 Abs. 1 InsO in die Insolvenzmasse fallen, hat der Bundesgerichtshof bislang nicht entschie-den.

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b) Nach ganz herrschender Meinung fallen nur bedingt pfändbare An-sprüche nicht in die Insolvenzmasse (OLG Hamm ZInsO 2006, 878, 881; LG Köln NZI 2004, 36, 37 [für den Anspruch des Schuldners gegen seine private Krankenversicherung auf Erstattung der Heilbehandlungskosten]; LG Mön-chengladbach ZInsO 2009, 1074, 1075; ZInsO 2009, 1076, 1077; LG Hildes-heim ZInsO 2009, 1961, 1963 f; Braun/Bäuerle, InsO 3. Aufl. § 36 Rn. 3; FK-InsO/Schumacher, 5. Aufl. § 36 Rn. 20; Graf-Schlicker/Kexel, InsO § 36 Rn. 18; HK-InsO/Eickmann, 5. Aufl. § 36 Rn. 7; HmbKomm-InsO/Lüdtke, 3. Aufl. § 36 Rn. 14 f; Holzer in Kübler/Prütting/Bork, InsO § 35 Rn. 77; Jaeger/Henckel, InsO § 36 Rn. 19; MünchKomm-InsO/Lwowski/Peters, 2. Aufl. § 35 Rn. 435; MünchKomm-InsO/Peters, aaO § 36 Rn. 43; Nerlich/Römermann/Andres, InsO § 36 Rn. 38; Prütting/Gehrlein/Ahrens, aaO Rn. 33; Uhlenbruck, InsO 12. Aufl. § 36 Rn. 28; Kohte, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. S. 785 Rn. 14, S. 802 Rn. 74; zur Konkursordnung LG Hamburg VersR 1957, 366; Heilmann, KTS 1966, 79, 80; Jaeger/Henckel, KO § 1 Rn. 75). Dies soll auch für Ansprüche aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung gelten. Zur Begründung wird ausgeführt, in die Insolvenzmasse falle nur, was für alle Gläu-biger pfändbar sei. Die erweiterte Pfändbarkeit nach § 850b Abs. 2 ZPO führe

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nicht zur Einbeziehung in die Insolvenzmasse, weil die Pfändbarkeitsentschei-dung nur zugunsten des Antragstellers wirke. Die dort vorgesehene Abwägung zwischen den Interessen des Schuldners und denen eines Gläubigers sei im Insolvenzverfahren nicht möglich. Der Versuch, die Interessenabwägung in das Insolvenzverfahren zu verlagern und dort eine Billigkeit der Pfändung für alle Gläubiger herbeizuführen, widerspreche dem erkennbaren Willen des Gesetz-gebers. Dieser habe § 850b ZPO bewusst nicht in die Verweisung in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO aufgenommen. § 850b Abs. 2 ZPO stelle eine Ausnahmere-gelung dar, die bei größeren Bezügen des Schuldners und einer besonderen Notlage eines einzelnen Gläubigers einen Ausgleich nach Billigkeit ermöglichen solle (LG Hildesheim aaO).

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c) Entgegen dieser teilweise noch auf die Rechtslage nach der Konkurs-ordnung zurückgehenden Auffassung hält es der Senat nicht für gerechtfertigt, im Insolvenzverfahren nur § 850b Abs. 1 ZPO, nicht aber § 850b Abs. 2 und 3 ZPO anzuwenden. Auch wenn § 850b ZPO in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist die Vorschrift trotzdem im Insolvenzverfahren insgesamt entsprechend anzuwenden. Die Vollstreckung in das sonstige be-wegliche Vermögen des Schuldners hat nicht zu einer vollständigen Befriedi-gung der Insolvenzgläubiger geführt und wird voraussichtlich auch nicht dazu führen. Dies folgt schon aus der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Eine Billig-keitsprüfung, bei der alle in Betracht kommenden Umstände zu würdigen sind, kann es auch im Insolvenzverfahren geben. Sie obliegt dem Insolvenzgericht, wenn der Insolvenzverwalter beantragt, bedingt pfändbare Bezüge des Schuld-ners für vollstreckbar zu erklären, um sie wie Arbeitseinkommen zur Masse zu ziehen. Streiten Insolvenzverwalter und Schuldner um die Massezugehörigkeit von Einkünften, die unter § 850b Abs. 1 InsO fallen oder ist die Frage der Pfändbarkeit - wie vorliegend - im Rahmen eines Anfechtungsprozesses zu be-

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antworten, kann die Entscheidung auch vom Prozessgericht getroffen werden (vgl. für die Billigkeitsprüfung nach § 850c Abs. 4 ZPO BGH, Versäumnisurt. v. 19. Mai 2005 - IX ZR 37/06, ZInsO 2009, 1395, 1396 f Rn. 16, 18).

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aa) Der Wortlaut des § 36 InsO ist nicht aussagekräftig. Insbesondere das Argument, § 850b ZPO sei im Insolvenzverfahren nicht anzuwenden, weil in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht auf die Vorschrift verwiesen werde, ist nicht tragfähig. Es wird schon durch den Umstand widerlegt, dass auch die herr-schende Meinung § 850b Abs. 1 ZPO trotz fehlender Erwähnung im Insolvenz-verfahren anwenden will. Dass es eines Hinweises auf § 850b Abs. 1 ZPO nicht bedurft habe, weil diese Vorschrift schon nach der Grundregel des § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO in der Insolvenz zu beachten sei, ist nicht stichhaltig, weil es dann auch keines ausdrücklichen Verweises auf § 850a ZPO in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO bedurft hätte.

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bb) Aus der Begründung des Gesetzes zur Änderung der Insolvenzord-nung und anderer Gesetze vom 26.10.2001 (BGBl. I S. 2710) ergibt sich nicht, dass der Gesetzgeber die Anwendung des § 850b InsO im Insolvenzverfahren ausschließen wollte (vgl. BT-Drucks. 14/6468 S. 17). Ausdrücklich ist dort zu § 850b ZPO nichts zu finden. Sinn und Zweck der Änderung des § 36 Abs. 1 InsO war es, Lösungen für Situationen bereitzustellen, in denen neben den pauschalierten Pfändungsfreigrenzen Regelungen erforderlich sind, die beson-deren von der Norm abweichenden Fallkonstellationen Rechnung tragen. Der Gesetzgeber wollte unter dem Blickwinkel des im Insolvenzverfahren herr-schenden Prinzips der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zwischen den Vor-schriften unterscheiden, die die Pfändbarkeit für alle Gruppen erweitern oder beschränken (§§ 850c, 850e Nr. 2, 2 a, § 850f Abs. 1 ZPO), und denen, die die Pfändbarkeit für bestimmte Gläubiger und Gläubigergruppen modifizie-

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ren (§ 850d, § 850f Abs. 2 ZPO). Eine Einschränkung der unverändert geblie-benen Grundregel des § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO war nicht Gegenstand der am 1. Dezember 2001 in Kraft getretenen Gesetzesänderung (vgl. die Begründung des Rechtsausschusses zu § 36 InsO aaO). Eine entsprechende Anwendung der §§ 850 ff ZPO sollte dann gerechtfertigt sein, "wenn der Zweck der jeweili-gen zwangsvollstreckungsrechtlichen Regelung mit dem Ziel der Gesamtvoll-streckung in Einklang steht".

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cc) Sinn und Zweck des § 850b ZPO gebieten es, die Vorschrift insge-samt im Insolvenzverfahren entsprechend anzuwenden. Die Regelung dient der Existenzsicherung des Schuldners. Die grundsätzliche Unpfändbarkeit, die nur im Einzelfall und unter bestimmten Voraussetzungen nach § 850b Abs. 2 ZPO ganz oder teilweise aufgehoben werden kann, soll dafür sorgen, dass dem Schuldner das Existenzminimum verbleibt (BGHZ 70, 206, 211; MünchKomm-ZPO, aaO § 850b Rn. 1; Zöller/Stöber, aaO § 850b ZPO Rn. 1). Dieser Zweck schließt es - entgegen der Auffassung der Revision - aus, dass Gegenstände des § 850b Abs. 1 ZPO im Insolvenzverfahren uneingeschränkt in die Masse fallen. Dies wäre mit dem an Art. 1 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) ausgerichteten Vollstreckungsrecht nicht zu vereinbaren. Dem Schuldner ist zumindest so viel zu belassen, wie er zur Absicherung seines Existenzminimums benötigt (vgl. BGH, Urt. v. 10. Januar 2008 - IX ZR 94/06, ZInsO 2008, 204, 205 Rn. 16 unter Bezugnahme auf die Begründung des Ge-setzgebers zum Gesetz zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge vom 26. März 2007, BGBl. I S. 368). Weiterer Zweck ist ein angemessener Interessenaus-gleich zwischen Schuldner und Gläubiger (BGHZ 70, 206, 211 f; Prüt-ting/Gehrlein/Ahrens, aaO Rn. 2). Bedingt pfändbare Bezüge sollen wie Ar-beitseinkommen pfändbar sein, wenn die Vollstreckung in das sonstige beweg-liche Vermögen des Schuldners nicht zu einer Befriedigung geführt hat und die

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Pfändung der Billigkeit entspricht. Dies gilt auch im Insolvenzverfahren. Der (drohende) Ausfall der Gläubiger bei ihrer Befriedigung ist dort handgreiflich. Ein überragendes Interesse des Schuldners, das es ausschließt, das Interesse der Gesamtheit der Gläubiger an ihrer Befriedigung zu berücksichtigen, besteht nicht. Vielmehr würde es einen Wertungswiderspruch bedeuten, wenn der Schuldner in der Individualvollstreckung bedingt pfändbare Bezüge wie Ar-beitseinkommen abführen müsste, weil dies der Billigkeit entspricht, in der Ge-samtvollstreckung diese jedoch einschränkungslos behalten könnte. Das Insol-venzverfahren würde sich für den Schuldner günstiger darstellen, als die Ein-zelvollstreckung. Außerhalb des Verfahrens wäre den Gläubigern der Zugriff auf bedingt pfändbare Bezüge des Schuldners verwehrt, weil sie dem Vollstre-ckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO unterliegen. Dies würde nach § 294 Abs. 1 InsO auch noch für die gesamte Wohlverhaltensphase gelten. Diese Bevortei-lung des Schuldners im Insolvenzverfahren wäre grob unbillig. Die Gläubigerin-teressen, denen § 850b ZPO zumindest auch gerecht werden will, kämen überhaupt nicht zum Tragen. Der Grundsatz der gemeinschaftlichen Befriedi-gung der Gläubiger würde verletzt.

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dd) Zwar ist eine Abwägung zwischen den Interessen des Schuldners und den Einzelinteressen der Gläubiger, wie sie § 850b Abs. 2 InsO für die In-dividualzwangsvollstreckung vorsieht, im Insolvenzverfahren nicht möglich (BGH, Beschl. v. 7. Mai 2009 - IX ZB 211/08, ZInsO 2009, 1071, 1072, NZI 2009, 443, 444 Rn. 11 mit insoweit zustimmender Anmerkung Ahrens, NZI 2009, 423, 424). Abgewogen werden können aber die Interessen des Schuld-ners gegen das Gesamtinteresse der Gläubiger. Auch wenn die Art des beizu-treibenden Anspruchs hier keine Bedeutung hat, weil es um eine Gesamtvoll-streckung geht, sind Billigkeitsentscheidungen möglich (vgl. zu den maßgebli-chen Abwägungskriterien BGH, Beschl. v. 19. März 2004 - IXa ZB 57/03, NJW

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2004, 2450, 2451; v. 5. April 2005 - VII ZB 15/05, NJW-RR 2005, 869, 870; v. 12. Dezember 2007 - VII ZB 47/07, NJW-RR 2008, 412, 414 Rn. 21; Prütting/ Gehrlein/Ahrens, aaO Rn. 24 ff). So kann etwa bei der Bestimmung des pfänd-baren Betrags auf den Anlass und die Art der Leistung, die der Schuldner be-zieht, deren Höhe sowie die ihm im Fall der Pfändung verbleibenden Bezüge Rücksicht genommen werden. Bezieht er beispielsweise eine Rente wegen Ver-letzung des Körpers oder der Gesundheit, können von ihm dargelegte erhöhte Bedürfnisse in Rechnung gestellt werden. Sind die Bezüge - wie vorliegend - besonders hoch, kann dies zu einer entsprechend erhöhten Pfändbarkeit füh-ren. Erforderlich ist auch hier eine umfassende und nachvollziehbare Gesamt-würdigung, in die alle in Betracht kommenden Umständen des Einzelfalls ein-fließen (vgl. BGH, Beschl. v. 19. März 2004 aaO; v. 12. Dezember 2008 aaO). Sind keine besonderen Umstände ersichtlich, kann die Pfändbarkeit auch an-hand der Freigrenzen des § 850c Abs. 1 ZPO bestimmt werden. Diese Vor-schrift, auf die in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO ausdrücklich verwiesen ist, belegt im Übrigen auch, dass eine Bestimmung der Pfändbarkeit nach billigem Ermessen dem Insolvenzverfahren durchaus nicht fremd ist. Die Regelung des § 850c Abs. 4 ZPO, nach der ein Unterhaltsberechtigter bei der Bestimmung des un-pfändbaren Teils des Arbeitseinkommens des Schuldners auf Antrag ganz oder teilweise außer Betracht bleiben kann, wenn er über eigene Einkünfte verfügt, gilt auch im Insolvenzverfahren (vgl. BGH, Beschl. v. 7. Mai 2009 aaO; vgl. fer-ner Beschl. v. 6. Juli 2006 - IX ZB 220/04, KTS 2007, 353).

15

3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann deshalb keinen Be-stand haben. Die am 14. Oktober 2003 erfolgte Übertragung der Versiche-rungsnehmerstellung ist durch Rückübertragung auf den Schuldner rückgängig zu machen. Eine Übertragung der Versicherung auf den Kläger kommt nicht in Betracht, weil die Masse nur im Rahmen der entsprechenden Anwendung des

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§ 850b Abs. 2 ZPO auf die Versicherungsleistungen zugreifen kann. Das Stammrecht muss dem Schuldner erhalten bleiben. Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Auszahlung der von dem Versicherer an die Beklagte während des Insolvenzverfahrens gezahlten Beträge, soweit das Berufungsge-richt diese für pfändbar erklärt. Insoweit unterliegen die Zahlungen der Anfech-tung nach § 134 InsO.

III.

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Das angefochtene Urteil ist somit aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Aufgrund des von den Par-teien zu ergänzenden Vortrags wird das Berufungsgericht zu entscheiden ha-ben, in welchem Umfang die Pfändung der vom Schuldner an die Beklagte ab-

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getretenen Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung der Billigkeit ent-spricht.

Ganter Vill Lohmann

Fischer Pape

Vorinstanzen:

LG Tübingen, Entscheidung vom 24.01.2008 - 7 O 19/07 -

OLG Stuttgart, Entscheidung vom 24.09.2008 - 3 U 38/08 -

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