BGH, Urteil vom 7. Mai 2021 - V ZR 299/19

07.06.2021

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES

Verkündet am:

7. Mai 2021

WeschenfelderAmtsinspektorinals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


WEG § 9a Abs. 2, § 48 Abs. 5


Für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren besteht die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fort, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.

NRG BW § 16 Abs. 1

§ 16 Abs. 1 NRG BW stellt eine selbständige landesrechtliche Anspruchsgrundlage dar, die dem betroffenen Nachbarn bei Nichteinhaltung der genannten Grenzabstände einen Anspruch auf Beseitigung der angepflanzten Gehölze gibt.


BGH, Urteil vom 7. Mai 2021 - V ZR 299/19 - LG Mannheim, AG Mannheim


Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 26. März 2021 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Weinland, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp

für Recht erkannt:

Die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim

- 1. Zivilkammer - vom 22. November 2019 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand:

[1] Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke in Baden-Württemberg. Das eine Grundstück steht im Eigentum des Klägers und einer weiteren Person, die zusammen eine Wohnungseigentümergemeinschaft bilden. Ihr Grundstück grenzt in dem Bereich des Gartens, an welchem dem weiteren Wohnungseigentümer ein Sondernutzungsrecht zusteht, unmittelbar an das Grundstück der Beklagten an. 2011 pflanzten die Beklagten auf ihrem Grundstück entlang dieser Grenze vier Zypressen mit einem Grenzabstand von unter vier Metern. Der Kläger verlangt deren Beseitigung, hilfsweise den Rückschnitt auf eine Höhe von maximal 3,5 Metern und die Belassung auf dieser Höhe. Die Beklagten erheben die Einrede der Verjährung. Das Amtsgericht hat der Klage im Hauptantrag stattgegeben. Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 22. November 2019 zurückgewiesen. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, möchten die Beklagten weiterhin die Abweisung der Klage erreichen.

Entscheidungsgründe:

[2] I. Nach Ansicht des Berufungsgerichts steht dem Kläger ein Beseitigungsanspruch gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 des Nachbarrechtsgesetzes für Baden-Württemberg (NRG BW) zu, da das Gehölz den vorgeschriebenen Grenzabstand nicht einhalte. Die Norm stelle eine eigene Anspruchsgrundlage dar. Dies folge aus der Entstehungsgeschichte der Norm, der Gesetzessystematik und Sinn und Zweck der landesrechtlichen Abstandsregelung. Der Beseitigungsanspruch nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW, für den - im Gegensatz zu einem auf § 1004 Abs. 1 BGB gegründeten Anspruch - nicht eine dreijährige, sondern gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 NRG BW eine zehnjährige Verjährungsfrist gelte, sei nicht verjährt. Er sei auch nicht aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss komme nur in zwingenden Ausnahmefällen in Betracht. Hierfür genüge es nicht, dass dem Kläger an dem zur Grenze hin gelegenen Grundstücksteil kein Nutzungsrecht zustehe. Betroffen sei das Eigentum des Klägers, welches ungeachtet des Sondernutzungsrechts eines anderen Miteigentümers bestehe. Auch sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Sondernutzungsrechte in Zukunft änderten.

[3] II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.

[4] A. Der Kläger ist prozessführungsbefugt.

[5] 1. Zutreffend und von der Revision nicht beanstandet bejaht das Berufungsgericht auf der Grundlage des bis zum 30. November 2020 geltenden Wohnungseigentumsgesetzes, das im Zeitpunkt des Berufungsurteils noch Gültigkeit hatte, die Prozessführungsbefugnis des Klägers. Er war berechtigt, als einzelner Wohnungseigentümer den Beseitigungsanspruch gerichtlich geltend zu machen. Für Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche aus dem Miteigentum an dem Grundstück bestand nach bisher geltendem Recht keine geborene Ausübungsbefugnis des Verbandes gemäß § 10 Abs. 6 Satz 3 Halbsatz 1 WEG aF, und zwar auch dann nicht, wenn Anspruchsgegner - wie hier - ein außerhalb der Wohnungseigentümergemeinschaft stehender Dritter war. Die Wohnungseigentümergemeinschaft konnte Beseitigungs- oder Unterlassungsansprüche wegen Störungen des Gemeinschaftseigentums zwar durch Mehrheitsbeschluss nach § 10 Abs. 6 Satz 3 Halbsatz 2 WEG aF an sich ziehen (gekorene Ausübungsbefugnis) und war dann allein zuständig für die gerichtliche Geltendmachung gegenüber dem Dritten (Senat, Urteil vom 24. Januar 2020 - V ZR 295/16, NJW-RR 2020, 894 Rn. 9 mwN). Einen solchen Beschluss haben die Wohnungseigentümer nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aber nicht gefasst.

[6] 2. Allerdings ist nach Erlass des Berufungsurteils die Ausübungsbefugnis durch das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz vom 16. Oktober 2020 (BGBl. I 2020, S. 2187), das gemäß Art. 18 Satz 1 WEMoG am

1. Dezember 2020 in Kraft getreten ist, in § 9a Abs. 2 WEG neu geregelt worden. Die Neuregelung ist - unbeschadet etwaiger Übergangsvorschriften - auch im Revisionsverfahren zu beachten (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020

- I ZR 186/17, WM 2020, 1652 Rn. 31 f. für die Verordnung (EU) 2016/679). Nach § 9a Abs. 2 WEG übt die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte sowie solche Rechte der Wohnungseigentümer aus, die eine einheitliche Rechtsverfolgung erfordern, und nimmt die entsprechenden Pflichten der Wohnungseigentümer wahr. Die Vorschrift ist an die Stelle des bis dahin geltenden § 10 Abs. 6 Satz 2 WEG aF getreten. Mit ihr hat der Gesetzgeber das bisher geltende Konzept aufgegeben, das unterschieden hat zwischen der geborenen Ausübungs- bzw. Wahrnehmungsbefugnis der Wohnungseigentümergemeinschaft und der gekorenen Ausübungs- bzw. Wahrnehmungsbefugnis, die einen Beschluss der Wohnungseigentümer voraussetzt. Eine auf einem Beschluss beruhende besondere Ausübungs- und Wahrnehmungsbefugnis sieht das Gesetz nicht mehr vor. Die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer übt kraft Gesetzes die in § 9a Abs. 2 WEG genannten Rechte aus und nimmt die entsprechenden Pflichten wahr (BT-Drucks. 19/18791 S. 46). Im Anwendungsbereich der Vorschrift steht die Ausübungs- und Wahrnehmungsbefugnis und damit auch das Recht zur gerichtlichen Geltendmachung nunmehr ausschließlich dem Verband und nicht dem einzelnen Wohnungseigentümer zu.

[7] Nach § 9a Abs. 2 WEG wäre der ursprünglich prozessführungsbefugte Kläger nicht mehr prozessführungsbefugt. Er verlangt von den Beklagten die Beseitigung der auf dem Nachbargrundstück angepflanzten Gehölze, da diese den in § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW vorgeschriebenen Grenzabstand zu dem im gemeinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümer stehenden Grundstück nicht einhalten. Damit macht er sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum der Wohnungseigentümer ergebende Rechte i.S.d. § 9a Abs. 2 Alt. 1 WEG geltend.

[8] 3. Eine Übergangsvorschrift, die regelt, ob bei der gerichtlichen Geltendmachung von aus dem gemeinschaftlichen Eigentum sich ergebenden Rechten durch einzelne Wohnungseigentümer die Prozessführungsbefugnis auch dann nach § 9a Abs. 2 WEG zu beurteilen ist, wenn das Verfahren - wie hier - bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängig war, enthält das neue Wohnungseigentumsgesetz nicht, insbesondere ist dies nicht von der Überleitungsregelung in § 48 Abs. 5 WEG erfasst. Nach dieser Vorschrift sind für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Vorschriften des dritten Teils dieses Gesetzes in ihrer bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden. Die Regelung des § 9a Abs. 2 WEG befindet sich aber nicht im dritten Teil des neuen Wohnungseigentumsgesetzes; ihre bis dahin geltende Vorgängernorm des § 10 Abs. 6 Satz 3 WEG aF ist daher auch nicht für eine Übergangszeit anwendbar.

[9] 4. Da insoweit eine Übergangsvorschrift fehlt, wird überwiegend angenommen, dass die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers auch dann nach der neuen Regelung in § 9a Abs. 2 WEG zu beurteilen sei, wenn das Verfahren schon vor dem 1. Dezember 2020 anhängig war. Aufgrund der darin festgelegten alleinigen Ausübungszuständigkeit der Gemeinschaft verliere der ursprünglich prozessführungsbefugte Wohnungseigentümer die Prozessführungsbefugnis mit der Folge, dass die Klage als unzulässig abzuweisen sei (LG Frankfurt a.M., WuM 2021, 125; BeckOGK/Skauradszun, WEG [1.12.2020], § 48 Rn. 23; Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 186; Lehmann-Richter/Wobst, WEG-Reform 2020, Rn. 2034; Abramenko, Das neue Wohnungseigentumsrecht, § 9 Rn. 24; ders. ZMR 2020, 1012; Lübke, ZMR 2021, 101).

[10] Zur Vermeidung einer Klageabweisung wegen Wegfalls der Prozessführungsbefugnis werden verschiedene prozessuale Möglichkeiten aufgezeigt. Der Kläger könne den Rechtsstreit für erledigt erklären (Abramenko, ZMR 2020, 1012; Schultzky, MDR 2020, 1473 Rn. 44; Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 187). Denkbar sei auch ein Parteiwechsel, indem die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nach entsprechender Beschlussfassung den Prozess übernehme, oder eine Fortsetzung des anhängigen Prozesses durch den ursprünglichen Wohnungseigentümer in gewillkürter Prozessstandschaft, wenn die Gemeinschaft ihn zur Prozessführung ermächtige (Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 188 ff.; Lübke, ZMR 2021, 101; nur zum Parteiwechsel: Hügel/Elzer, WEG, 3. Aufl., § 48 Rn. 17; Lehmann-Richter/Wobst, WEG-Reform 2020, Rn. 2034; nur zur Prozessstandschaft: BeckOK WEG/Müller [1.1.2021], § 9a Rn. 114; Zschieschack, IMR 2020, 487). Lehnten die Wohnungseigentümer eine Übernahme des Prozesses oder die Ermächtigung des bisher klagenden Wohnungseigentümers zur (weiteren) Prozessführung ab, könne dieser hiergegen mit einer Beschlussersetzungsklage vorgehen. Das bisher anhängige Verfahren sei analog § 148 ZPO auszusetzen, bis über die Beschlussersetzungsklage rechtskräftig entschieden sei (Dötsch/Schultzky/Zschieschack, WEG-Recht 2021, Kapitel 14 Rn. 190; Zschieschack, IMR 2020, 487; Lübke, ZMR 2021, 102).

[11] 5. Nach anderer Auffassung soll die einmal zulässig erhobene Klage des Wohnungseigentümers weiter zulässig bleiben. Hierzu werden unterschiedliche Lösungsansätze erörtert. Teilweise wird unter Hinweis auf den (auch) verfahrensrechtlichen Charakter der Ausübungsbefugnis gemäß § 9a Abs. 2 WEG eine analoge Anwendung der Übergangsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG befürwortet (AG Heidelberg, Verfügung vom 5. Januar 2021 - 45 C 108/19, juris Rn. 3). Eine andere Auffassung erwägt, § 265 ZPO entsprechend anzuwenden. Die Vorschrift gelte in ihrem Anwendungsbereich auch für einen Wechsel der Prozessführungsbefugnis. Sie enthalte ein Regelungsmodell, das sich für die Bewältigung der Überleitungssituation eigne (Schmidt-Räntsch, ZWE 2021, 1, 5).

[12] 6. Der Senat entscheidet die Frage dahin, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.

[13] a) Die Übergangsvorschrift des § 48 Abs. 5 WEG enthält insoweit eine planwidrige Regelungslücke.

[14] aa) Ob eine planwidrige Lücke gegeben ist, ist vom Standpunkt der gesetzlichen Regelung aus zu beurteilen, also anhand der Regelungsabsicht des Gesetzgebers (BGH, Urteil vom 7. November 2019 - I ZR 42/19, GRUR 2020, 429 Rn. 33 mwN). Nach der Begründung zur Übergangsregelung in § 48 Abs. 5 WEG sollen die Änderungen des Verfahrensrechts bereits anhängige Verfahren unberührt lassen. Verfahren, die bei Inkrafttreten der Neuregelung bereits bei Gericht anhängig waren, sollen nach den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften weitergeführt werden (BT-Drucks. 19/18791 S. 86). Daher ordnet § 48 Abs. 5 WEG an, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Vorschriften des dritten Teils des Wohnungseigentumsgesetzes, der die Überschrift "Verfahrensvorschriften" trägt, in ihrer bis dahin geltenden Fassung weiter anzuwenden sind.

[15] bb) Verfahrensrechtliche Bedeutung kommt auch § 9a Abs. 2 WEG zu, der die Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte der Wohnungseigentümer nunmehr allein der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zuweist. Die Regelung hat nicht nur materielle, sondern zugleich auch verfahrensrechtliche Wirkungen, da sie der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer das alleinige Recht zur Prozessführung als gesetzlicher Prozessstandschafter (vgl. Wenzel, ZWE 2006, 462, 466) verleiht. Das wirkt sich verfahrensrechtlich unmittelbar auf die bei Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Dezember 2020 bei Gericht noch anhängigen Verfahren aus. Denn ein ursprünglich zur Prozessführung berechtigter Wohnungseigentümer würde aufgrund der gesetzlichen Zuweisung dieser Befugnis an die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer während des laufenden Verfahrens die Prozessführungsbefugnis verlieren.

[16] cc) Ein - zur Unzulässigkeit der Klage führender - Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers während des laufenden gerichtlichen Verfahrens hätte zur Folge, dass das Verfahren, selbst wenn es - wie hier - schon seit Jahren anhängig und über mehrere Instanzen geführt worden war, für beide Parteien gänzlich nutzlos gewesen wäre und im Ergebnis nur erheblichen Aufwand und Kosten verursacht hätte. Gegen die Annahme, dass dies dem Plan des Gesetzgebers entspricht und er dies bewusst hinnehmen wollte, spricht, dass die Gesetzesbegründung hierzu keine Erläuterung enthält, was bei einem Eingriff dieses Ausmaßes und der Vielzahl der betroffenen Verfahren zu erwarten wäre. Der Annahme eines erheblichen Eingriffs kann nicht entgegengehalten werden, dass sich die Rechtslage nicht wesentlich geändert habe, da ein Wohnungseigentümer auch nach bisherigem Recht dem Risiko unterlag, dass die Klage durch Vergemeinschaftung des geltend gemachten Anspruchs unzulässig wird (zu den Rechtsfolgen der Vergemeinschaftung vgl. Senat, Urteil vom 24. Januar 2020 - V ZR 295/16, NJW-RR 2020, 894 Rn. 14 mwN). Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass mit der Vergemeinschaftung gerade die Möglichkeit zu einer Rechtsverfolgung durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer eröffnet werden sollte (vgl. Senat, Urteil vom 26. Oktober 2018 - V ZR 328/17, NJW 2019, 1216 Rn. 22), während es bei einem mit Inkrafttreten der Neuregelung des § 9a Abs. 2 WEG verbundenen Wegfall der Prozessführungsbefugnis an einer solchen Willensbildung der Gemeinschaft fehlte. Der Wohnungseigentümer müsste erst auf eine Übernahme der Rechtsverfolgung durch die Wohnungseigentümergemeinschaft, ggf. durch Beschlussersetzungsklage, hinwirken. Dies bedeutete insbesondere auch im Hinblick auf das Verjährungsrisiko für ihn eine erhebliche Verschlechterung gegenüber dem bisherigen Recht.

[17] Eine Begründung durch den Gesetzgeber wäre aber auch deswegen zu erwarten, weil § 9a Abs. 2 WEG für Verfahren, in denen ein Wohnungseigentümer vor Inkrafttreten der Vorschrift Klage erhoben hat und das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, bei einem Wegfall der Prozessführungsbefugnis eine so genannte unechte Rückwirkung (vgl. dazu BVerfG, NVwZ 2016, 300 Rn. 40 f.; BGH, Beschluss vom 7. Mai 2015 - I ZR 171/10, NJW-RR 2015, 954 Rn. 18 mwN) entfalten würde. Regelungen mit unechter Rückwirkung sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwar grundsätzlich zulässig (BVerfG, NVwZ 2016, 300 Rn. 40 mwN). Für den Gesetzgeber ergeben sich aber aus dem rechtsstaatlichen Prinzip der Rechtssicherheit verfassungsrechtliche Schranken. Für die Zulässigkeit unechter Rückwirkung von Regelungen ist maßgeblich eine Güterabwägung zwischen der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Gemeinwohl einerseits und dem Ausmaß des durch die Gesetzesänderung verursachten Vertrauensverlusts andererseits (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 2015 - I ZR 171/10, NJW-RR 2015, 954 Rn. 20; BVerfGE 25, 142, 154). Hätte der Gesetzgeber der Regelung in § 9a Abs. 2 WEG für bereits anhängige Verfahren eine unechte Rückwirkung durch einen Wegfall der Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers beimessen wollen, hätte es nahegelegen, dass er die Gründe hierfür anhand des gesetzgeberischen Ziels erläutert und darstellt, warum dem Vertrauen des Wohnungseigentümers auf den Fortbestand seiner Prozessführungsbefugnis ein geringeres Gewicht zukommt. Das wäre vor allem auch deshalb zu erwarten gewesen, weil ein überwiegendes öffentliches Interesse gegenüber dem verursachten Vertrauensverlust im Hinblick auf das von dem Gesetzgeber verfolgte Ziel der Neuordnung der Rechtsbeziehungen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (vgl. BT-Drucks. 19/18791, S. 29) nicht ohne Weiteres auf der Hand liegt. Denn im Grundsatz entspricht es dem Interesse der Wohnungseigentümergemeinschaft, Störungen des gemeinschaftlichen Eigentums abzuwehren. Angesichts der verfassungsrechtlichen Grenzen einer unechten Rückwirkung spricht das Fehlen einer Begründung hierzu in den Gesetzesmaterialien dafür, dass der Gesetzgeber der Regelung des § 9a Abs. 2 WEG eine solche nicht beilegen wollte, er vielmehr die verfahrensrechtlichen Auswirkungen der Vorschrift auf bereits anhängige Verfahren nicht im Blick gehabt und das Bedürfnis nach einer Übergangsregelung übersehen hat.

[18] dd) Gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke spricht nicht, dass für - auf der Grundlage des § 10 Abs. 6 Halbs. 2 WEG aF gefasste -

Vergemeinschaftungsbeschlüsse in der Gesetzesbegründung ausdrücklich davon ausgegangen wird, dass diese nach allgemeinen Grundsätzen mit Inkrafttreten der Neuregelung ihre Wirkung verlören (BT-Drucks. 19/18791 S. 47). Unabhängig davon, ob diese Annahme rechtlich zutreffend ist (kritisch Bruns, NZM 2020, 909, 911; Becker/Schneider, ZfIR 2020, 281, 298), lässt sich daraus nicht folgern, dass dem Gesetzgeber die mit dem umgekehrten Fall des Wegfalls der Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers während eines laufenden Verfahrens verbundene Problematik bewusst war (a.A. LG Frankfurt a.M., NJW 2021, 643 Rn. 13; BeckRS 2021, 1523 Rn. 19). Denn auf die in der Gesetzesbegründung genannte Konstellation wirkt sich das Inkrafttreten von § 9a Abs. 2 WEG während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens nicht zulasten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer aus, da im Regelfall lediglich eine gesetzliche Ausübungsbefugnis an die Stelle der bisherigen gekorenen Ausübungsbefugnis tritt (vgl. Schmidt-Räntsch, ZWE 2021, 1, 5) und die Prozessführungsbefugnis der Gemeinschaft damit unberührt bleibt.

[19] ee) Soweit darauf hingewiesen wird, dass die Veränderung der Verwaltungsstruktur der Wohnungseigentümergemeinschaft in anderen Bereichen dazu geführt habe, dass die Wohnungseigentümer Ansprüche, die nach altem Recht gegen den Verwalter oder die übrigen Wohnungseigentümer durchgesetzt werden konnten, nur noch gegen den Verband hätten (LG Frankfurt a.M., BeckRS 2021, 1523 Rn. 25), spricht auch dies nicht gegen eine planwidrige Regelungslücke für die hier zu beurteilende Konstellation. Der Unterschied zu den genannten Fällen liegt darin, dass dort der klagende Wohnungseigentümer auf die gesetzliche Änderung während eines laufenden Verfahrens prozessual mit einer Umstellung der Klage auf die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer reagieren kann (vgl. Elzer in Skauradszun/Elzer/Hinz/Riecke, Die WEG-Reform, 2020, § 15 Rn. 2; zum Beklagtenwechsel im Berufungsverfahren vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 1956 - VI ZR 32/55, BGHZ 21, 285, 288 f.). Zwar ist für einen Parteiwechsel, soweit bereits mündlich verhandelt wurde, die Zustimmung des ausscheidenden Beklagten erforderlich und in der Berufungsinstanz auch die Zustimmung des neuen Beklagten. Ihre Verweigerung wird im Hinblick auf die enge Verbindung, die die übrigen Wohnungseigentümer, der Verwalter bzw. die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zu dem Rechtsstreit haben, aber regelmäßig mangels schutzwürdigen Interesses als missbräuchlich und damit unbeachtlich anzusehen sein (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 1956 - VI ZR 32/55, BGHZ 21, 285, 289 sowie Senat, Urteil vom 5. März 2010 - V ZR 62/09, NJW 2010, 2132 Rn. 10). Eine dem vergleichbare prozessuale Möglichkeit hat ein Wohnungseigentümer bei einem Wegfall seiner Prozessführungsbefugnis dagegen nicht.

[20] b) Die Regelungslücke hätte der Gesetzgeber, hätte er sie erkannt, nach seinem Plan mit einer Regelung geschlossen, die sich an der Vorschrift des § 48 Abs. 5 WEG orientiert, zugleich aber auch den Rechtsgedanken des § 9a Abs. 2 WEG einbezieht, der die Durchsetzung der dort genannten Ansprüche der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zuordnet.

[21] aa) Eine uneingeschränkte analoge Anwendung von § 48 Abs. 5 WEG, die zur Folge hätte, dass für eine Übergangszeit § 10 Abs. 6 Satz 3 Halbs. 2 WEG aF und § 9a Abs. 2 WEG nebeneinander Anwendung fänden, wäre allerdings mit dem Ziel des neuen Wohnungseigentumsgesetzes nicht vereinbar. Indem der Gesetzgeber der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer im Anwendungsbereich des § 9a Abs. 2 WEG die alleinige Ausübungs- und Wahrnehmungsbefugnis zugewiesen hat, wollte er die konzeptionelle Unklarheit über die Rolle der rechtsfähigen Gemeinschaft der Wohnungseigentümer beseitigen. Diese Unklarheit habe dazu geführt, dass der Rechtsanwender oftmals nicht sicher habe feststellen können, ob die rechtsfähige Gemeinschaft oder die Wohnungseigentümer berechtigt bzw. verpflichtet sind (vgl. BT-Drucks. 19/18791, S. 29 f.). Diesem Ziel, die Rechtsbeziehungen in der Gemeinschaft einer klaren Ordnung zuzuführen, liefe ein - wenn auch nur vorübergehendes - Nebeneinander von Ausübungs- und Prozessführungsbefugnissen nach altem und nach neuem Recht zuwider.

[22] bb) Die Zielsetzung des Gesetzgebers rechtfertigt es aber, die Lücke dahingehend zu schließen, dass für die bereits vor dem 1. Dezember 2020 bei Gericht anhängigen Verfahren die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers, der sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebende Rechte geltend macht, über diesen Zeitpunkt hinaus in Anwendung des Rechtsgedankens des § 48 Abs. 5 WEG fortbesteht, bis dem Gericht eine schriftliche Äußerung des nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs über einen entgegenstehenden Willen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer zur Kenntnis gebracht wird.

[23] (1) Der Übergangsregelung in § 48 Abs. 5 WEG liegt die Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Änderungen des Verfahrensrechts bereits anhängige Verfahren unberührt lassen (BT-Drucks. 19/18791 S. 86), die Änderung verfahrensrechtlicher Vorschriften also auf den Ausgang eines bei Inkrafttreten der verfahrensrechtlichen Neuregelung anhängigen Verfahrens keine Auswirkungen haben soll. Dadurch wird im Interesse der Rechtssicherheit das mit Beginn des Rechtsstreits eingegangene Risiko nicht durch nachträgliche Änderungen dessen formaler Abwicklung verändert (vgl. MüKoBGB/Krafka, 8. Aufl. 2021, § 48 WEG n.F. Rn. 12). Im Hinblick auf den (auch) verfahrensrechtlichen Charakter von § 9a Abs. 2 WEG ist daher anzunehmen, dass es dem Plan des Gesetzgebers entspricht, die Prozessführungsbefugnis eines Wohnungseigentümers in einem bei Gericht bereits anhängigen Verfahren nicht schon durch das bloße Inkrafttreten der Neuregelung entfallen zu lassen. Er hätte aber zugleich auch den Rechten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer Rechnung getragen, der er in § 18 Abs. 1 WEG die Aufgabe der Verwaltung des gemeinschaftlichen Eigentums und in § 9a Abs. 2 WEG die alleinige Ausübungsbefugnis für die sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechte zugewiesen hat. Dementsprechend hätte er das Recht der Gemeinschaft, über die Fortführung des Verfahrens eigenverantwortlich zu entscheiden, unangetastet gelassen. Daraus folgt, dass die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer das bereits anhängige Verfahren selber als Partei übernehmen (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juli 2015 - V ZR 169/14, NJW 2016, 53 Rn. 8) oder aber dem Wohnungseigentümer die Fortführung des Verfahrens untersagen kann, etwa weil sie den Konflikt auf andere Weise als durch einen gerichtlichen Rechtsstreit beilegen will.

[24] (2) Solange dem Gericht ein entgegenstehender Wille der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nicht zur Kenntnis gebracht wird, besteht für ein bereits vor dem 1. Dezember 2020 anhängiges Verfahren die Prozessführungsbefugnis des Wohnungseigentümers fort. Dies rechtfertigt sich aus der Überlegung, dass die Geltendmachung und Durchsetzung von sich aus dem gemeinschaftlichen Eigentum ergebenden Rechten, insbesondere die Verfolgung von Ansprüchen wegen einer Beeinträchtigung des gemeinschaftlichen Eigentums, typischerweise im Interesse der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer liegt. Beurteilungsgrundlage für das Vorliegen eines entgegenstehenden Willens der Gemeinschaft ist die - im Außenverhältnis maßgebliche - Äußerung ihres nach § 9b WEG vertretungsberechtigten Organs. Auf die Wirksamkeit der Entscheidungsbildung der Wohnungseigentümer im Innenverhältnis, insbesondere die Wirksamkeit eines dazu gefassten Beschlusses, kommt es dagegen nicht an.

[25] 7. Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Kläger prozessführungsbefugt. Es kann dahingestellt bleiben, ob das von dem Prozessbevollmächtigen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgelegte Dokument vom 22. März 2021 eine Ermächtigung des Klägers zur Fortführung des Verfahrens durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer belegt. Jedenfalls ergibt sich hieraus kein dem entgegenstehender Wille.

[26] B. Rechtsfehlerfrei nimmt das Berufungsgericht an, dass dem Kläger gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW ein Anspruch auf Beseitigung der Zypressen zusteht.

[27] 1. Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, dass § 16 Abs. 1 NRG BW eine selbständige landesrechtliche Anspruchsgrundlage darstellt, die dem betroffenen Nachbarn bei Nichteinhaltung der genannten Grenzabstände einen Anspruch auf Beseitigung der angepflanzten Gehölze gibt (so auch OLG

Karlsruhe, BeckRS 2020, 8812 Rn. 22, 31, 34; VG Karlsruhe, NuR 1984, 23; Birk, Nachbarrecht für Baden-Württemberg, 6. Aufl., S. 192 f., 228; Breloer, Bäume, Sträucher und Hecken im Nachbarrecht, 6. Aufl., S. 47; Bruns, Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg, 4. Aufl., Einl. Rn. 30, § 16 Rn. 47, § 26 Rn. 15; Dehner, Nachbarrecht [August 2020], B § 22 II 2 c, i; Pelka, Das Nachbarrecht in Baden-Württemberg, 22. Aufl., S. 127, 142; Reich, Gesetz über das Nachbarrecht Baden-Württembergs, § 16 Rn. 2; Vetter/Karremann/Kahl/Kaiser/Kaiser, Nachbarrecht Baden-Württemberg, 19. Aufl., § 26 Rn. 2; a.A. wohl Horst, Rechtshandbuch Nachbarrecht, 2. Aufl., Rn. 226, 317).

[28] Zwar ist § 16 Abs. 1 NRG BW, wonach bei der Anpflanzung von Bäumen, Sträuchern und anderen Gehölzen näher bestimmte Grenzabstände einzuhalten sind, nach seinem Wortlaut nicht als Anspruchsgrundlage für Beseitigungsansprüche, sondern als Gebotsnorm formuliert. Der Landesgesetzgeber ging jedoch ohne weiteres davon aus, dass die Vorschrift einen Anspruch auf Beseitigung grenzunterschreitender Anpflanzungen umfasst. Dies folgt aus der Entstehungsgeschichte und Systematik des Gesetzes.

[29] a) Mit der Vereinheitlichung des Nachbarrechts durch das am 14. Dezember 1959 verabschiedete Nachbarrechtsgesetz für Baden-Württemberg (fortan: NRG BW 1959) wurden die früheren württembergischen Vorschriften über Grenzabstände von Bäumen und Sträuchern auf die badischen Landesteile erstreckt. Damit trug der Landesgesetzgeber einer Forderung der Landwirtschaft Rechnung, die die badische Regelung des Nachbarrechts wegen der darin vorgesehenen verhältnismäßig geringen Abstände für Bäume und Waldanlagen kritisiert hatte (vgl. Band V der Beilagen zu den Sitzungsprotokollen des 2. Landtags von Baden-Württemberg, Beilage 2220, S. 3553). Dass mit der Übernahme der in Art. 204 des früheren württembergischen AGBGB enthaltenen Formulierung "Bei Anpflanzungen ... sind folgende Abstände von der Grenze einzuhalten" anstelle der in Artikel 10 des badischen AGBGB verwendeten Formulierung "Der Eigentümer eines Grundstücks kann verlangen ..." in die neu geschaffene Regelung des § 16 NRG BW 1959 die Rechte der Grundstückseigentümer insbesondere in den badischen Landesteilen nicht verschlechtert werden sollten, wird an der Verjährungsregelung des § 26 Abs. 1 NRG BW 1959 deutlich. Danach verjährte der Anspruch auf Beseitigung von Einfriedigungen, Spaliervorrichtungen oder Pflanzungen, die den Vorschriften der §§ 11 bis 18 nicht entsprachen, in fünf Jahren seit der Schaffung der Einfriedigung, Spaliervorrichtung oder Pflanzung. Mit dieser Regelung sollte nach dem Willen des Landesgesetzgebers die damals geltende allgemeine 30-jährige Verjährungsfrist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch wesentlich abgekürzt und einheitlich für alle Beseitigungsansprüche nach den §§ 11 bis 18 NRG BW 1959 festgesetzt werden (aaO, S. 3559). Der Gesetzgeber ging also ausdrücklich davon aus, dass die genannten Normen, die - wie auch § 16 NRG BW 1959 - im Wesentlichen lediglich als Gebotsnormen über die Einhaltung bestimmter Grenzabstände formuliert waren, nicht lediglich bloße Ordnungsvorschriften zum Schutz des Nachbargrundstücks darstellten, sondern zugleich landesrechtliche Beseitigungsansprüche gewährten.

[30] b) Der Wille des Gesetzgebers, mit § 16 NRG BW einen landesrechtlichen Beseitigungsanspruch zu schaffen, wird durch die Neuregelung der Verjährungsvorschrift in § 26 Abs. 1 NRG BW bestätigt. Danach verjähren Beseitigungsansprüche nach diesem Gesetz in fünf Jahren. Nach Satz 2 der Vorschrift beträgt die Verjährungsfrist zehn Jahre, wenn Gehölze im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 4 oder 5 NRG BW betroffen sind. Schon aus dem Wortlaut der Regelung ergibt sich, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass § 16 Abs. 1 Nr. 4 und 5 NRG BW einen Beseitigungsanspruch gewährt. Dies ergibt sich aber auch aus Sinn und Zweck der Regelung.

[31] aa) Dem Landesgesetzgeber erschien hinsichtlich der in § 26 Abs. 1 Satz 2 NRG BW genannten Gehölze, die im Allgemeinen höher wachsen, die fünfjährige Verjährungsfrist zu kurz. Er verlängerte die Frist auf zehn Jahre, um den Rechtsschutz des Nachbarn gegen rechtswidrig zu nahe an der Grundstücksgrenze gepflanzte mittelgroße und großwüchsige Gehölze, die oft erst nach Ablauf der fünfjährigen Verjährungsfrist eine störende Ausdehnung erreichten, effektiver zu gestalten und dadurch auch eine effiziente Nutzung von Photovoltaik- und sonstigen Solaranlagen, die auf Gebäudedächern und -fassaden angebracht sind, zu ermöglichen. Grundstückseigentümer sollten länger die Möglichkeit haben, gegen solche Bepflanzungen des Nachbargrundstücks vorzugehen und so auch Hindernisse für eine effektive Solarnutzung auf dem eigenen Grundstück zu beseitigen. Das sollte dazu beitragen, dass die Nutzung von Solarenergie auf Privatgrundstücken weiter zunehme (Entwurfsbegründung des Gesetzes zur Änderung des Nachbarrechtsgesetzes BW, LT-Drucks. 15/4384 S. 8, 10, 14).

[32] bb) Dieses Ziel würde verfehlt, wenn der Begriff der "Beseitigungsansprüche nach diesem Gesetz" i.S.d. § 26 NRG BW dahingehend ausgelegt würde, dass damit nur die in §§ 23 und 25 NRG BW ausdrücklich in dieser Weise formulierten Beseitigungsansprüche gemeint, Abstandsvorschriften wie etwa § 16 Abs. 1 NRG BW dagegen nicht erfasst seien. Denn dann hätte § 26 Abs. 1 Satz 2 NRG BW keinen Anwendungsbereich; insbesondere könnte nach Ablauf von fünf Jahren die Beseitigung von grenzunterschreitenden großwüchsigen Arten i.S. von § 16 Abs. 1 Nr. 5 NRG BW, auf die sich auch nicht die Verkürzungspflicht nach § 16 Abs. 3 NRG BW bezieht, nicht verlangt werden, obwohl sich gerade solche Gewächse besonders verschattend auf das Nachbargrundstück auswirken können und sie aus diesem Grunde ausdrücklich von der längeren Verjährungsfrist erfasst werden sollen (vgl. Vetter/Karremann/Kahl/Kaiser/Kaiser, Nachbarrecht Baden-Württemberg, 19. Aufl., Erl. § 26 Rn. 2; Pelka, das Nachbarrecht in Baden-Württemberg, 22. Aufl., VII, S. 142; Bruns, Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg, 4. Aufl., § 26 Rn. 15; Birk, Nachbarrecht für Baden-Württemberg, 6. Aufl., S. 228). Das aber wäre mit dem von dem Landesgesetzgeber ausdrücklich verfolgten Ziel, durch Stärkung des Rechtsschutzes Hindernisse für eine effiziente Nutzung solarer Energie auf dem eigenen Grundstück zu beseitigen, nicht in Einklang zu bringen.

[33] c) Dem Ergebnis, dass § 16 Abs. 1 NRG BW einen Beseitigungsanspruch gewährt, steht nicht entgegen, dass in anderen Vorschriften, namentlich in § 23 Abs. 1 und § 25 Abs. 1 NRG BW, ausdrücklich von einem Beseitigungsverlangen die Rede ist, während § 16 Abs. 1 NRG BW nur als Gebotsnorm formuliert ist. Daraus lässt sich nicht - wie die Revision meint - die Schlussfolgerung ziehen, dass der Landesgesetzgeber durch entsprechende Formulierung klar zu erkennen gegeben habe, wenn er selbständige landesrechtliche Beseitigungsansprüche habe schaffen wollen. Die Vorschriften der § 23 Abs. 1 und § 25 Abs. 1 NRG BW treffen eine Regelung für herüberragende Zweige "abweichend von § 910 Abs. 1 BGB" und knüpfen damit notwendigerweise an den in § 910 Abs. 1 BGB enthaltenen Begriff der "Beseitigung" an. Dessen Verwendung lässt daher keine Schlussfolgerung über die Qualifizierung der übrigen gesetzlichen Regelungen zu.

[34] d) Entgegen der Auffassung der Revision hatte der Landesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz, über die bloße Festlegung von Grenzabständen hinaus in § 16 Abs. 1 NRG BW einen Beseitigungsanspruch gesetzlich zu regeln. Dies folgt aus Art. 124 EGBGB, der den Landesgesetzgeber ermächtigt, das Eigentum an Grundstücken zu Gunsten der Nachbarn noch anderen als den im Bürgerlichen Gesetzbuch bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen. Eine solche Beschränkung kann auch in der Regelung von Rechten und Pflichten eines Nachbarn bei der Nichteinhaltung von Grenzabständen bestehen. Nicht berechtigt wäre der Landesgesetzgeber allerdings, Inhalt und Umfang des Anspruchs wegen einer unmittelbar von § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB erfassten Eigentumsbeeinträchtigung abweichend vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu regeln (vgl. Senat, Urteil vom 22. Februar 2019 - V ZR 136/18, NJW-RR 2019, 590 Rn. 21). Eine solche Regelung hat der Landesgesetzgeber aber nicht getroffen.

[35] 2. Rechtsfehlerfrei und von der Revision nicht angegriffen nimmt das Berufungsgericht an, dass die Voraussetzungen für einen Beseitigungsanspruch gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe a NRG BW erfüllt sind, da es sich bei den auf dem Grundstück der Beklagten befindlichen Zypressen um Gewächse im Sinne dieser Vorschrift handelt, die den vorgeschriebenen Grenzabstand von 4 Metern nicht einhalten.

[36] 3. Rechtlich zutreffend ist auch die Auffassung des Berufungsgerichts, dass der Kläger die grenzunterschreitende Bepflanzung nicht aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zu dulden hat.

[37] a) Nach der Rechtsprechung des Senats wirkt sich der Gedanke von Treu und Glauben im Rahmen eines nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses hauptsächlich als Schranke der Rechtsausübung aus. Dies kann u.a. dazu führen, dass der Grundstückseigentümer eine bestimmte Nutzung seines Grundstücks durch den Nachbarn dulden muss. Allerdings haben die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn insbesondere durch die Vorschriften der §§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Daneben kommt eine allgemeine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme aus dem Gesichtspunkt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses nur zum Tragen, wenn ein über die gesetzlichen Regelungen hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint (vgl. Senat, Urteil vom 8. Februar 2013 - V ZR 56/12, NJW-RR 2013, 650 Rn. 6; Urteil vom 20. September 2019 - V ZR 218/18, BGHZ 223, 155 Rn. 21). Von diesen Grundsätzen geht das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei aus.

[38] b) Entgegen der Ansicht der Revision ist ein Beseitigungsanspruch aus § 16 Abs. 1 NRG BW nicht im Hinblick auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis ausgeschlossen, wenn es an einer - über die Nichteinhaltung des gesetzlichen Mindestabstandes hinausgehenden - Eigentumsbeeinträchtigung i.S.d. § 1004 Abs. 1 BGB des Nachbargrundstücks fehlt. Ein solches Erfordernis besteht für den Beseitigungsanspruch aus § 16 Abs. 1 NRG BW gerade nicht und kann auch nicht unter Hinweis auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis als zusätzliches Tatbestandsmerkmal verlangt werden. Denn die Grundsätze des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses dienen nicht dazu, eine gesetzgeberische Entscheidung zu korrigieren. Daher vermag allein der Umstand, dass dem Kläger an dem zur Grenze hin gelegenen, im Miteigentum aller Wohnungseigentümer stehenden Grundstücksteil kein Nutzungsrecht zusteht, eine Beschränkung des Beseitigungsanspruchs nicht zu rechtfertigen.

[39] Das Berufungsgericht überspannt auch nicht - wie die Revision meint - die Substantiierungsanforderungen, wenn es annimmt, ein zwingender Ausnahmefall, der das Recht des Klägers auf Einhaltung des Grenzabstandes beschränken könnte, sei nicht vorgetragen. Soweit die Revision auf das vorinstanzliche Vorbringen der Beklagten verweist, die Bäume seien äußerst schmal und ein Schattenwurf sei aufgrund ihrer Lage nicht zu befürchten, geht das Berufungsgericht, dessen tatrichterliche Würdigung im Revisionsverfahren nur eingeschränkt nachprüfbar ist (vgl. Senat, Urteil vom 8. Februar 2013 - V ZR 56/12, NJW-RR 2013, 650 Rn. 8; Urteil vom 13. Juli 2018 - V ZR 308/17, NJW-RR 2019, 78 Rn. 13), rechtsfehlerfrei davon aus, dass sich aus diesem Vorbringen ein zwingender Ausnahmefall nicht ergibt.

[40] 4. Der Beseitigungsanspruch nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW ist nicht verjährt; denn die zehnjährige Verjährungsfrist des § 26 NRG BW ist noch nicht abgelaufen. Ohne Rechtsfehler und von der Revision auch nicht beanstandet nimmt das Berufungsgericht schließlich an, dass der Anspruch nicht verwirkt ist und auch kein Verstoß gegen das Schikaneverbot gemäß § 226 BGB vorliegt.

[41] 5. Da dem Kläger bereits ein Beseitigungsanspruch aus § 16 Abs. 1 Nr. 4 NRG BW zusteht, hat das Berufungsgericht zu Recht offengelassen, ob daneben auch die Voraussetzungen des in § 1004 Abs. 1 BGB geregelten Beseitigungsanspruchs vorliegen, der eine - nicht schon durch die Unterschreitung eines bestimmten Grenzabstandes begründete (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juni 2005 - V ZR 251/04, ZMR 2013, 395 Rn. 12; Beschluss vom 4. März 2010

- V ZB 130/09, NJW-RR 2010, 807 Rn. 24; Staudinger/Albrecht, BGB [2018], Art. 124 EGBGB Rn. 35; a.A. Staudinger/Thole, BGB [2019], § 1004 Rn. 128 u. 198; BeckOGK/Spohnheimer, BGB [01.02.2021], § 1004 Rn. 97) - Eigentumsbeeinträchtigung verlangt.

[42] III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

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