EuGH: Anwendbarkeit der EuGVVO bei einer Klage aus Eigentumsvorbehalt gegen den insolventen Käufer („German Graphics Graphische Maschinen GmbH“)

23.12.2009

EuInsVO Art. 4, 7, 25; EuGVVO Art. 1

Anwendbarkeit der EuGVVO bei einer Klage aus Eigentumsvorbehalt gegen den insolventen Käufer („German Graphics Graphische Maschinen GmbH“)

EuGH, Urt. v. 10. 9. 2009 – Rs C-292/08 (Hoge Raad, Niederlande)

Urteilsausspruch (Verfahrenssprache: Niederländisch):

1. Art. 25 Abs. 2 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass die dort verwendete Formulierung „soweit jenes Übereinkommen anwendbar ist“ bedeutet, dass die Anerkennungs- und Vollstreckungsvorschriften der EuGVVO erst dann in Bezug auf andere als die in Art. 25 Abs. 1 EuInsVO genannten Entscheidungen für anwendbar erklärt werden können, wenn zuvor geprüft wurde, ob diese Entscheidungen nicht vom sachlichen Anwendungsbereich der EuGVVO ausgeschlossen sind.

2. Die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b EuGVVO vorgesehene Ausnahme i.V.m. Art. 7 Abs. 1 EuInsVO ist unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der letztgenannten Verordnung dahin auszulegen, dass sie nicht auf eine auf einen Eigentumsvorbehalt gestützte Klage eines Verkäufers gegen einen in Konkurs geratenen Käufer anwendbar ist, wenn sich die vom Eigentumsvorbehalt erfasste Sache zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Käufers im Mitgliedstaat der Verfahrenseröffnung befindet.

Urteil:

[1]  Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 7 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 2 d EuInsVO und des Art. 1 Abs. 2 Buchst. b EuGVVO.

[2]  Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der German Graphics Graphische Maschinen GmbH (im Folgenden: German Graphics) und Frau van der Schee, Konkursverwalterin der Holland Binding BV (im Folgenden: Holland Binding), wegen der Vollstreckung eines Beschlusses eines deutschen Gerichts.

ZIP 49/2009, 2346<zwtitel>Ausgangsverfahren und Vorlagefragen</zwtitel>

[9]  German Graphics, eine Gesellschaft deutschen Rechts, schloss als Verkäuferin mit Holland Binding, einer Gesellschaft niederländischen Rechts, einen Kaufvertrag über Maschinen, der einen Eigentumsvorbehalt zu Gunsten der Verkäuferin enthielt.

[10]  Mit Urteil vom 1. November 2006 eröffnete die Rechtbank Utrecht (Niederlande) das Konkursverfahren über das Vermögen von Holland Binding und ernannte eine Konkursverwalterin.

[11]  Mit Beschluss vom 5. Dezember 2006 gab das LG Braunschweig (Deutschland) dem Antrag von German Graphics auf Erlass von Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf bestimmte Maschinen, die sich in den Geschäftsräumen von Holland Binding in den Niederlanden befanden, statt. Dieser Antrag war auf den erwähnten Eigentumsvorbehalt gestützt.

[12]  Am 18. Dezember 2006 erklärte der Richter im Verfahren der einstweiligen Anordnung in Utrecht den Beschluss des LG Braunschweig für vollstreckbar. Daraufhin legte Frau van der Schee als Konkursverwalterin von Holland Binding gegen diese Entscheidung Rechtsmittel bei der Rechtbank Utrecht ein, die den Beschluss mit Entscheidung vom 28. März 2007 aufhob. German Graphics legte gegen die Entscheidung der Rechtbank Utrecht Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden ein.

[13]  Mit Beschluss vom 20. Juni 2008 hat der Hoge Raad der Nederlanden das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: (s. Rz. 14 und 21.)

Zur ersten Frage

[14]  Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Entscheidung i.S.d. Art. 25 Abs. 2 EuInsVO erst dann nach den Bestimmungen der EuGVVO anerkannt werden kann, wenn das Vollstreckungsgericht zuvor geprüft hat, ob die Entscheidung in den Anwendungsbereich der letztgenannten Verordnung fällt.

[15]  Die Anerkennung von Entscheidungen mit Bezug zu einem Insolvenzverfahren ist in den Art. 16 bis 26 EuInsVO geregelt. In diesem Zusammenhang hat Art. 25 EuInsVO die Anerkennung und Vollstreckbarkeit der Entscheidungen zum Gegenstand, die nicht unmittelbar die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens betreffen.

[16]  Art. 25 befasst sich zum einen in Abs. 1 Unterabs. 1 mit den „zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen“ und zum anderen in Abs. 1 Unterabs. 2 und 3 mit den „Entscheidungen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen“, sowie den Entscheidungen über bestimmte Sicherungsmaßnahmen und in Abs. 2 mit „anderen als den in Absatz 1 genannten Entscheidungen ..., soweit jenes Übereinkommen (d.h. das Brüsseler Übereinkommen) anwendbar ist“.

[17]  Die in Art. 25 Abs. 2 EuInsVO genannten Entscheidungen fallen daher nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung. Überdies ist nicht ausgeschlossen, dass dazu auch Entscheidungen gehören, die weder in den Anwendungsbereich der EuInsVO noch in den der EuGVVO fallen. Insoweit geht aus dem Wortlaut des Art. 25 Abs. 2 hervor, dass die Anwendung der EuGVVO auf eine Entscheidung im Sinne dieser Bestimmung voraussetzt, dass die Entscheidung in den Anwendungsbereich der letztgenannten Verordnung fällt.

[18]  Die EuGVVO ist somit nicht anwendbar, wenn die betreffende Entscheidung sich nicht auf eine Zivil- und Handelssache bezieht oder gem. Art. 1 der Verordnung von deren Anwendungsbereich ausgeschlossen ist.

[19]  Folglich muss das Vollstreckungsgericht, bevor es eine Entscheidung, die nicht in den Anwendungsbereich der EuInsVO fällt, nach den Bestimmungen der EuGVVO anerkennt, prüfen, ob die fragliche Entscheidung in den Anwendungsbereich der EuGVVO fällt.

<zwtitel>Zur zweiten und zur dritten Frage</zwtitel>

[21]  Mit der zweiten und der dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die auf einen Eigentumsvorbehalt gestützte Klage eines Verkäufers gegen einen Käufer aufgrund der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Käufers vom Anwendungsbereich der EuGVVO ausgeschlossen ist, wenn sich die vom Eigentumsvorbehalt erfasste Sache im Mitgliedstaat der Verfahrenseröffnung befindet.

[22]  Um diese Fragen beantworten zu können, sind die Erwägungsgründe der EuGVVO heranzuziehen. Nach dem zweiten Erwägungsgrund erschweren die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Nach dem siebenten Erwägungsgrund der Verordnung sollte sich der sachliche Anwendungsbereich dieser Verordnung auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts erstrecken. Im 15. Erwägungsgrund der Verordnung wird betont, dass im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege vermieden werden müsse, dass in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen.

[23]  Diese Erwägungsgründe zeigen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber den in Art. 1 Abs. 1 EuGVVO enthaltenen Begriff „Zivil- und Handelssachen“ und damit den Anwendungsbereich der Verordnung weit fassen wollte.

[24]  Eine solche Auslegung wird auch durch Satz 1 des sechsten Erwägungsgrundes der EuInsVO bestätigt, wonach diese Verordnung sich gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf Vorschriften beschränken sollte, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen.

[25]  Folglich sollte der Anwendungsbereich der letztgenannten Verordnung nicht weit ausgelegt werden.

[26]  Sodann ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof im Rahmen seiner Rechtsprechung zum Brüsseler Übereinkommen entschieden hat, dass sich eine Klage auf ein Konkursverfahren bezieht, wenn sie unmittelbar aus diesem hervorgeht und sich eng innerhalb des Rahmens eines Konkurs- oder Vergleichsverfahrens hält (vgl. Urt. v. 22.2.1979 – Rs 133/78, Slg. 1979, 733, Rz. 4 – Gourdain). Eine Klage, die derartige Merkmale aufweist, fällt daher nicht in den Anwendungsbereich dieses Übereinkommens (vgl. Urt. v. 12.2.2009 – Rs C-339/07, Slg. 2009, I-0000 = ZIP 2009, 427 (m. Bespr. Mörs-ZIP 49/2009, 2347dorf-Schulte, S. 1456), Rz. 19 – Seagon/Deko Marty Belgium, dazu EWiR 2009, 411 (Müller)).

[27]  Da in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten die EuGVVO nunmehr das Brüsseler Übereinkommen ersetzt, gilt die Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens durch den Gerichtshof auch für die Bestimmungen der Verordnung, soweit die Bestimmungen des Übereinkommens und die der EuGVVO als gleichwertig angesehen werden können. Außerdem geht aus dem 19. Erwägungsgrund der Verordnung hervor, dass bei der Auslegung die Kontinuität zwischen dem Brüsseler Übereinkommen und der Verordnung zu wahren ist (Urt. v. 23.4.2009 – Rs C-167/08, Slg. 2009, I-0000, Rz. 20 – Draka NK Cables u.a.).

[28]  In dem mit der EuGVVO geschaffenen System nimmt deren Art. 1 Abs. 2 Buchst. b denselben Platz ein wie im System des Brüsseler Übereinkommens dessen Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 und erfüllt auch dieselbe Funktion. Darüber hinaus haben die beiden Bestimmungen den gleichen Wortlaut (Urt. v. 2.7.2009 – Rs C-111/08, Slg. 2009, I-0000 = ZIP 2009, 1441, Rz. 23 – SCT Industri).

[29]  Nach alledem entscheidet sich somit nach der Enge der Verbindung, die im Sinne der mit dem Urteil Gourdain begründeten Rechtsprechung zwischen einer gerichtlichen Klage wie derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, und dem Konkursverfahren besteht, ob der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b EuGVVO genannte Ausschluss Anwendung findet.

[30]  In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ist dieser Zusammenhang aber weder unmittelbar genug noch eng genug, um die Anwendung der EuGVVO auszuschließen.

[31]  Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass German Graphics, die Klägerin in dem Verfahren vor dem LG Braunschweig, die Rückgabe der in ihrem Eigentum stehenden Sachen verlangt hat und dass dieses Gericht nur zu klären hatte, wer Eigentümer bestimmter sich in den Geschäftsräumen von Holland Binding in den Niederlanden befindender Maschinen ist. Die Beantwortung dieser Rechtsfrage erfolgt unabhängig von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. German Graphics wollte mit ihrer Klage nur sicherstellen, dass die zu ihren Gunsten vereinbarte Eigentumsvorbehaltsklausel angewandt wird.

[32]  Die auf den Eigentumsvorbehalt gestützte Klage stellt mit anderen Worten eine eigenständige Klage dar, die ihre Grundlage nicht im Insolvenzrecht hat und weder die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens noch die Bestellung eines Insolvenzverwalters voraussetzt.

[33]  Unter diesen Umständen erscheint die bloße Tatsache, dass die Konkursverwalterin an dem Rechtsstreit beteiligt ist, nicht als ausreichend, um das Verfahren vor dem LG Braunschweig als ein Verfahren anzusehen, das unmittelbar aus dem Konkurs hervorgeht und sich eng innerhalb des Rahmens eines Konkursverfahrens hält.

[34]  Eine Klage wie die von German Graphics beim LG Braunschweig ist daher nicht vom Anwendungsbereich der EuGVVO ausgeschlossen.

[35]  Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob sich Art. 7 Abs. 1 EuInsVO auf die Einordnung von Klagen im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren auswirken kann. Diese Vorschrift legt aber lediglich fest, dass „[d]ie Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen den Käufer einer Sache ... die Rechte des Verkäufers aus einem Eigentumsvorbehalt unberührt [lässt], wenn sich diese Sache zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem der Verfahrenseröffnung befindet“. Bei dieser Bestimmung handelt es sich also nur um eine materiellrechtliche Vorschrift, durch die der Verkäufer in Bezug auf die Sachen geschützt werden soll, die sich nicht im Mitgliedstaat der Verfahrenseröffnung befinden.

[36]  Außerdem ist Art. 7 Abs. 1 im Ausgangsverfahren nicht anwendbar, da sich die Sachen von German Graphics zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in den Niederlanden, also im Mitgliedstaat der Verfahrenseröffnung, befanden.

[37]  Zur Frage, ob Art. 4 Abs. 2 Buchst. b EuInsVO für die Antwort des Gerichtshofs bezüglich der Einordnung der im Ausgangsverfahren fraglichen Klage von Bedeutung sein könnte, ist festzustellen, dass es sich bei dieser Vorschrift nur um eine Kollisionsnorm handelt, die vorsieht, dass das Recht des Staates, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wird, anzuwenden ist, um festzustellen, „welche Vermögenswerte zur Masse gehören und wie die nach der Verfahrenseröffnung vom Schuldner erworbenen Vermögenswerte zu behandeln sind“. Diese Vorschrift hat keine Auswirkungen auf den Anwendungsbereich der EuGVVO.

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