EuGH: Vereinbarkeit von Wegzugsbeschränkungen mit der Niederlassungsfreiheit ("Cartesio")

12.01.2009

EG Art. 43, 48, 234
Vereinbarkeit von Wegzugsbeschränkungen mit der Niederlassungsfreiheit (“Cartesio”)


EuGH, Urt. vom 16.12.2008 – Rs C-210/06

Urteilsausspruch:

1. Ein Gericht wie das vorlegende, bei dem eine Berufung gegen die Entscheidung eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts anhängig ist, das einen Antrag auf Änderung einer Angabe in diesem Register abgelehnt hat, ist als Gericht anzusehen, das nach Art. 234 EG zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist, obwohl weder die Entscheidung des Handelsregistergerichts in einem streitigen Verfahren ergeht noch die Prüfung der Berufung durch das vorlegende Gericht in einem solchen erfolgt.

2. Ein Gericht wie das vorlegende, dessen in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens ergangene Entscheidungen Gegenstand einer Revision sein können, kann nicht als Gericht i.S.v. Art. 234 Abs. 3 EG angesehen werden, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.

3. Art. 234 Abs. 2 EG ist bei nationalen Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, dahin auszulegen, dass die mit dieser Vertragsbestimmung den nationalen Gerichten eingeräumte Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nicht durch die Anwendung dieser Rechtsvorschriften in Frage gestellt werden darf, nach denen das Rechtsmittelgericht die Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof beschlossen wird, abändern, außer Kraft setzen und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgeben kann, das nationale Verfahren, das ausgesetzt worden war, fortzusetzen.

4. Die Art. 43 und 48 EG sind beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, nach dessen Recht sie gegründet wurde, zu behalten.

Urteil:

[1] Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 43, 48 und 234 EG.

[2] Es ergeht im Rahmen eines Rechtsmittels der Cartesio Oktató és Szolgáltató bt. (im Folgenden: Cartesio), einer Gesellschaft mit Sitz in Baja (Ungarn), gegen die Entscheidung, mit der ihr Antrag aufEintragung der Verlegung ihres Sitzes nach Italien in das Handelsregister abgelehnt worden war.

[3] – [20] Nationales Recht

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
[21] Cartesio wurde am 20. Mai 2004 in der Rechtsform einer “betéti társaság” (KG) ungarischen Rechts gegründet. Als ihr Sitz wurde Baja (Ungarn) festgelegt. Sie wurde am 11. Juni 2004 ins Handelsregister eingetragen.

[22] Kommanditist – der nur zur Kapitaleinlage verpflichtet ist – und Komplementär – der unbeschränkt für die Schulden der Gesellschaft haftet – der Gesellschaft sind zwei natürliche Personen, die in Ungarn ansässig sind und die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Gesellschaft ist u.a. in den Bereichen Humanressourcen, Sekretariat, Übersetzung, Unterricht und Bildung tätig.

[23] Am 11. November 2005 stellte Cartesio beim Bács-Kiskun Megyei Bíróság (Bezirksgericht Bács-Kiskun) als Cégbíróság (Handelsregistergericht) einen Antrag, die Verlegung ihres Sitzes nach Gallerate (Italien) zu bestätigen und die Sitzangabe im Handelsregister entsprechend zu ändern.

[24] Mit Entscheidung vom 24. Januar 2006 wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach geltendem ungarischem Recht ihren Sitz nicht unter Beibehaltung des ungarischen Personalstatuts ins Ausland verlegen könne.

[25] Cartesio hat gegen diese Entscheidung Berufung beim Szegedi Ítélotábla (Regionalgericht Szeged ZIP 2006, 1536, dazu EWiR 2006, 459 (Neye)) eingelegt.

[26] Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 13. Dezember 2005 – Sevic Systems (Rs C-411/03, Slg. 2005, I-10805 = ZIP 2005, 2311 (m. Bespr. Bayer/Schmidt, ZIP 2006, 210 u. Teichmann, ZIP 2006, 355), dazu EWiR 2006, 25 (Drygala)), machte Cartesio vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass das ungarische Gesetz insoweit, als es Handelsgesellschaften unterschiedlich behandele, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sich ihr Sitz befinde, gegen die Art. 43 und 48 EG verstoße. (Wird ausgeführt; wegen Einzelheiten s. die Vorlageentscheidung ZIP 2006, 1536.)

[40] Da das Szegedi Ítélotábla der Auffassung ist, dass das Ergebnis des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhängt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist ein Gericht des zweiten Rechtszugs, das über ein Rechtsmittel gegen den Beschluss eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts in einem Verfahren betreffend die Änderung von Registereintragungen zu entscheiden hat, befugt, ein Vorabentscheidungsersuchen i.S.v. Art. 234 EG einzureichen, wenn weder das Verfahren, in dem der Beschluss des erstinstanzlichen Gerichts ergeht, noch das Rechtsmittelverfahren streitigen Charakter haben?

2. Falls das Gericht des zweiten Rechtszugs unter den Begriff des Gerichts fällt, das nach Art. 234 EG zur Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage befugt ist, handelt es sich dann bei diesem Gericht um ein letztinstanzlich entscheidendes Gericht, das gem. Art. 234 EG bei Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet ist, den Gerichtshof anzurufen?

3. Kann und darf die – unmittelbar aus Art. 234 EG abgeleitete – Befugnis der ungarischen Gerichte zur Vorlage von Vorabentscheidungsfragen durch eine einzelstaatliche Bestimmung eingeschränkt werden, aufgrund deren gegen einen Vorlagebeschluss Rechtsmittel nach nationalen Rechtsvorschriften eingelegt werden kann, wenn das mit dem Rechtsmittel befasste höhere nationale Gericht diesen Beschluss abändern, das Vorabentscheidungsersuchen außer Kraft setzen und das Gericht, das den Vorlagebeschluss erlassen hat, anweisen kann, das ausgesetzte nationale Verfahren fortzusetzen?

4. a) Handelt es sich bei der Absicht einer in Ungarn nach ungarischem Gesellschaftsrecht gegründeten und in das ungarische Handelsregister eingetragenen Gesellschaft, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat der EU zu verlegen, um eine Frage, deren Regelung unter das Gemeinschaftsrecht fällt, oder ist mangels Harmonisierung der Rechtsvorschriften ausschließlich das nationale Recht anwendbar?
b) Kann sich eine ungarische Gesellschaft bei der Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat der EU unmittelbar auf das Gemeinschaftsrecht (hier die Art. 43 und 48 EG) berufen? Wenn ja, kann die Sitzverlegung – sei es durch den Herkunftsstaat, sei es durch den Aufnahmestaat – von einer Bedingung oder einer Genehmigung abhängig gemacht werden?
c) Sind die Art. 43 und 48 EG dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung oder Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, wonach Handelsgesellschaften in Bezug auf die Ausübung ihrer Rechte unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, in welchem Mitgliedstaat sie ansässig sind?
d) Sind die Art. 43 und 48 EG dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung oder Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, wonach es einer Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats verwehrt ist, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat der EU zu verlegen?

[41] (Zur Ablehnung des Antrags auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens.)

Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage

[54] Mit dieser Frage wird der Gerichtshof danach gefragt, ob ein Gericht wie das vorlegende, bei dem eine Berufung gegen die Entscheidung eines mit der Führung des Handelsregisters betrauten Gerichts anhängig ist, mit der ein Antrag auf Änderung einer Angabe in diesem Register abgelehnt wird, als ein nach Art. 234 EG zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugtes Gericht anzusehen ist, obwohl weder die Entscheidung des Handelregistergerichts in einem streitigen Verfahren ergeht, noch die Prüfung der Berufung gegen diese Entscheidung durch das vorlegende Gericht in einem solchen erfolgt.

[55] Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein Gericht i.S.v. Art. 234 EG handelt, auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab, wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständiger Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch diese Einrichtung sowie deren Unabhängigkeit (vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 27.4.2006 – Rs C-96/04, Slg. 2006, I-3561, Rz. 12 – Standesamt Stadt Niebüll, und die dort angeführte Rechtsprechung).

[56] Was den streitigen Charakter des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht angeht, hängt die Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 234 EG jedoch nicht davon ab, ob dieses Verfahren streitigen Charakter hat. Aus diesem Artikel ergibt sich aber, dass die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (vgl. in diesem Sinne insbesondere EuGH, Urt. v. 15.1.2002 – Rs C-182/00, Slg. 2002, I-547, Rz. 13 – Lutz u.a., und die dort angeführte Rechtsprechung).

[57] Handelt ein mit der Führung eines Registers betrautes Gericht als Verwaltungsbehörde, ohne dass es gleichzeitig einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass es eine Rechtsprechungstätigkeit ausübt. Das ist z.B. der Fall, wenn es über den Antrag auf Eintragung einer Gesellschaft im Register in einem Verfahren entscheidet, das nicht die Aufhebung eines Rechtsakts zum Gegenstand hat, von dem geltend gemacht wird, dass er ein Recht des Antragstellers verletze (vgl. in diesem Sinne insbesondere EuGH Slg. 2002, I-547, Rz. 14 – Lutz u.a., und die dort angeführte Rechtsprechung).

[58] Dagegen ist bei einem Gericht, das mit einer Berufung gegen die Entscheidung eines vorinstanzlichen Gerichts befasst ist, das mit der Führung eines Registers betraut ist und einem solchen Eintragungsantrag nicht stattgeben will, ein Rechtsstreit anhängig, und es übt eine Rechtsprechungstätigkeit aus, weil diese Berufung die Aufhebung eines Rechtsakts zum Gegenstand hat, der ein Recht des Antragstellers verletzen soll.

[59] Daher ist das Berufungsgericht in einem solchen Fall grundsätzlich als Gericht i.S.v. Art. 234 EG anzusehen, das zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens befugt ist (vgl. zu diesen Fallkonstellationen insbesondere EuGH, Urt. v. 15.5.2003 – Rs C-300/01, Slg. 2003, I-4899 – Salzmann, dazu EWiR 2003, 705 (Rohde); EuGH Slg. 2005, I-10805 = ZIP 2005, 2311 – Sevic Systems, und EuGH, Urt. v. 11.10.2007 – Rs C-117/06, Slg. 2007, I-8361 – Möllendorf u.a.).

[60] Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren als Berufungsgericht über die Anfechtungsklage gegen eine Entscheidung befindet, mit der ein mit der Führung des Handelsregisters betrautes vorinstanzliches Gericht den Antrag einer Gesellschaft auf Eintragung der Verlegung ihres Sitzes in diesem Register, was die Änderung einer Registereintragung erfordert, abgelehnt hat.

[61] Demnach ist im Ausgangsverfahren beim vorlegenden Gericht ein Rechtsstreit anhängig, und es übt eine Rechtsprechungstätigkeit aus, obwohl das Verfahren keinen streitigen Charakter hat.

[62] Das vorlegende Gericht ist daher in Anbetracht der in den Rz. 55 und 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung als “Gericht” i.S.v. Art. 234 EG anzusehen.

[63] (s. Urteilsausspruch Nr. 1)


Zur zweiten Frage
[64] Mit dieser Frage wird der Gerichtshof danach gefragt, ob ein Gericht wie das vorlegende, dessen in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens ergangene Entscheidungen Gegenstand einer Revision sein können, als Gericht i.S.v. Art. 234 Abs. 3 EG anzusehen ist, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können.


Zur Zulässigkeit
[65] Die EU-Kommission trägt vor, diese Frage sei unzulässig, da sie offensichtlich insoweit nicht entscheidungserheblich sei, als das Vorabentscheidungsersuchen dem Gerichtshof bereits vorgelegt worden sei, so dass es irrelevant sei, ob die Vorlage zwingend sei oder nicht.

[66] Dieser Einwand ist zurückzuweisen.

[67] Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 7.6.2007 – Rs C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Rz. 22 – van der Weerd u.a., und die dort angeführte Rechtsprechung).

[68] Wie in Rz. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hat Cartesio vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht, dass dieses verpflichtet sei, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, weil es als ein Gericht i.S.v. Art. 234 Abs. 3 EG anzusehen sei, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könnten.

[69] Wegen seiner Zweifel hinsichtlich dieses Vorbringens hat das vorlegende Gericht beschlossen, dem Gerichtshof eine entsprechende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.

[70] Es wäre jedoch mit dem Geist der Zusammenarbeit, der den Beziehungen zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof zugrunde liegen soll, und dem Gebot der Verfahrensökonomie unvereinbar, wenn das nationale Gericht zunächst allein die Frage, ob es zu den in Art. 234 Abs. 3 EG genannten Gerichten gehört, zur Vorabentscheidung vorlegen müsste, um dann ggf. mit einem zweiten Vorabentscheidungsersuchen Fragen zu den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen vorzulegen, auf die es für die Begründetheit der bei ihm anhängigen Klage ankommt.

[71] Außerdem hat der Gerichtshof bereits eine Frage zur Art des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf Art. 234 Abs. 3 EG in einem Zusammenhang beantwortet, der eindeutige Ähnlichkeiten mit dem hier vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufweist, ohne dass er die Zulässigkeit dieser Frage bezweifelt hätte (EuGH, Urt. v. 4.6.2002 – Rs C-99/00, Slg. 2002, I-4839 – Lyckeskog).

[72] Unter diesen Umständen erweist sich nicht oder ist zumindest nicht offensichtlich, dass die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.

[73] Die für Vorabentscheidungsersuchen sprechende Vermutung der Entscheidungserheblichkeit wird daher in Bezug auf die erste Frage durch den Einwand der Kommission nicht widerlegt (vgl. insbesondere EuGH Slg. 2007, I-4233, Rz. 22 und 23 – van der Weerd u.a.).

[74] Die zweite Vorlagefrage ist somit zulässig.


Antwort auf die zweite Frage
[75] Die vorliegende Frage geht also dahin, ob das vorlegende Gericht i.S.v. Art. 234 Abs. 3 EG als ein “einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können”, anzusehen ist. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass diese Frage im Hinblick auf den Umstand, dass Berufungsentscheidungen dieses Gerichts nach ungarischem Recht zwar Gegenstand eines außerordentlichen Rechtsmittels sein können, nämlich einer Revision vor dem Legfelsobb Bíróság, die die Einheit der Rechtsprechung gewährleisten soll, dass die Möglichkeiten zur Einlegung eines solchen Rechtsmittels jedoch beschränkt sind, insbesondere durch die Zulässigkeitsvoraussetzung, dass eine Rechtsverletzung geltend gemacht werden muss, sowie im Hinblick auf die ebenfalls in der Vorlageentscheidung angeführte Tatsache gestellt wird, dass die Einlegung einer Revision nach ungarischem Recht grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung hat.

[76] Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Entscheidungen eines nationalen Rechtsmittelgerichts, die von den Parteien bei einem obersten Gericht angefochten werden können, nicht von einem “einzelstaatlichen Gericht ..., dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können”, wie es in Art. 234 EG heißt, stammen. Der Umstand, dass eine solche Anfechtung nur nach vorheriger Zulassungserklärung durch das oberste Gericht in der Sache geprüft werden kann, bewirkt nicht, dass den Parteien das Rechtsmittel entzogen wird (EuGH Slg. 2002, I-4839, Rz. 16 – Lyckeskog).

[77] Dies gilt umso mehr für ein Verfahren wie das, in dem über den Ausgangsrechtsstreit entschieden werden muss, weil es keine solche vorherige Zulassungserklärung durch das oberste Gericht kennt, sondern lediglich Beschränkungen insbesondere hinsichtlich der Art der Rechtsmittelgründe vorsieht, die vor diesem Gericht geltend gemacht werden können, nämlich, dass eine Rechtsverletzung gerügt werden muss.

[78] Solche Beschränkungen führen ebenso wenig wie die fehlende aufschiebende Wirkung der Revision vor dem Legfelsobb Bíróság dazu, dass den Parteien, die vor einem Gericht aufgetreten sind, dessen Entscheidungen mit einer solchen Revision angegriffen werden können, die Möglichkeit genommen wird, ihr Recht, gegen die Entscheidung dieses über einen Rechtsstreit wie den des Ausgangsverfahrens befindenden Gerichts ein solches Rechtsmittel einzulegen, wirksam auszuüben. Diese Beschränkungen und die fehlende aufschiebende Wirkung bedeuten daher nicht, dass dieses Gericht als ein Gericht zu betrachten ist, gegen dessen Entscheidungen kein Rechtsmittel eingelegt werden kann.

[79] (s. Urteilsausspruch Nr. 2)

Zur dritten Frage
Zur Zulässigkeit

[80] Irland macht geltend, die Frage sei insoweit hypothetisch und damit unzulässig, als eine Antwort auf diese Frage dem vorlegenden Gericht nicht zweckdienlich sein könne, weil gegen die Vorlageentscheidung keine Revision eingelegt worden sei.

[81] Auch die Kommission fordert den Gerichtshof auf, festzustellen, dass diese Frage wegen ihres hypothetischen Charakters nicht zu beantworten sei, weil die Vorlageentscheidung rechtskräftig geworden und beim Gerichtshof eingegangen sei.

[82] Diesen Einwänden kann nicht gefolgt werden.

[83] Die für Vorabentscheidungsersuchen sprechende Vermutung der Entscheidungserheblichkeit kann zwar, wie in Rz. 67 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unter bestimmten Umständen widerlegt werden, insbesondere wenn der Gerichtshof feststellt, dass das Problem hypothetischer Natur ist.

[84] Irland und die Kommission tragen vor, das mit der dritten Frage aufgeworfene Problem der etwaigen Unvereinbarkeit der nationalen Vorschriften über die Berufung gegen eine Entscheidung, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten, mit Art. 234 Abs. 2 EG sei hypothetischer Natur, weil hier keine Berufung gegen die Vorlageentscheidung eingelegt worden sei, so dass sie rechtskräftig geworden sei.

[85] Weder diese Entscheidung noch die dem Gerichtshof übermittelten Akten lassen jedoch die Feststellung zu, dass gegen diese Entscheidung keine Berufung eingelegt worden ist oder mehr eingelegt werden könnte.

[86] In Anbetracht der in Rz. 67 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist in einer solchen Situation der Ungewissheit, da die Richtigkeit der Bestimmung des rechtlichen und tatsächlichen Rahmens der Vorlagefrage in der Verantwortung des nationalen Richters liegt, die für die vorliegende Vorlagefrage sprechende Vermutung der Entscheidungserheblichkeit nicht widerlegt.

[87] Die dritte Vorlagefrage ist daher zulässig.

Antwort auf die dritte Frage
[88] Nach Art. 234 EG sind die nationalen Gerichte zur Vorlage berechtigt und ggf. verpflichtet, wenn sie von Amts wegen oder auf Anregung der Parteien feststellen, dass es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf eine der in Art. 234 Abs. 1 genannten Fragen ankommt. Daraus folgt, dass die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen (EuGH, Urt. v. 16.1.1974 – Rs 166/73, Slg. 1974, 33, Rz. 3 – Rheinmühlen-Düsseldorf).

[89] Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich auch, dass Art. 234 EG im Hinblick auf ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht ausschließt, dass gegen die Entscheidungen, mit denen ein solches Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht, die normalen Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben sind. Der Gerichtshof ist jedoch im Interesse der Klarheit und der Rechtssicherheit an die Vorlageentscheidung gebunden; diese muss ihre Wirkungen entfalten, solange sie nicht aufgehoben ist (EuGH Slg. 1974, 139, Rz. 3 – Rheinmühlen-Düsseldorf).

[90] Der Gerichtshof hat weiter entschieden, dass das System, das mit Art. 234 EG geschaffen wurde, um die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, eine unmittelbare Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten durch ein Verfahren einführt, das der Parteiherrschaft entzogen ist (EuGH, Urt. v. 12.2.2008 – Rs C-2/06, Slg. 2008, I-411, Rz. 41 – Kempter).

[91] Die Vorlage zur Vorabentscheidung beruht nämlich auf einem Dialog des einen mit dem anderen Gericht, dessen Aufnahme ausschließlich von der Beurteilung der Erheblichkeit und der Notwendigkeit der Vorlage durch das nationale Gericht abhängt (EuGH Slg. 2008, I-411, Rz. 42 – Kempter).

[92] Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, selbstständig mit der Berufung angefochten werden kann, wobei das Ausgangsverfahren jedoch insgesamt bei dem Gericht anhängig bleibt, das diese Entscheidung erlassen hat, und bis zur Verkündung des Urteils durch den Gerichtshof ausgesetzt wird. Das so angerufene Berufungsgericht kann nach ungarischem Recht die Entscheidung abändern, das Vorabentscheidungsersuchen außer Kraft setzen und dem erstinstanzlichen Richter aufgeben, das ausgesetzte nationale Verfahren fortzusetzen.

[93] Wie sich aus der in den Rz. 88 und 89 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, schließt Art. 234 EG im Hinblick auf ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht aus, dass gegen die Entscheidungen, mit denen dieses Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht, die normalen Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben sind. Die Entscheidung über ein solches Rechtsmittel kann jedoch nicht die dem vorlegenden Gericht durch Art. 234 EG eingeräumte Befugnis einschränken, den Gerichtshof anzurufen, wenn es meint, dass eine bei ihm anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, die eine Entscheidung des Gerichtshofs erfordern.

[94] Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es einem erstinstanzlichen Gericht in dem Fall, dass es nach Aufhebung eines von ihm erlassenen Urteils durch ein höchstrichterliches Gericht ein zweites Mal mit einer Rechtssache befasst ist, unbenommen bleibt, den Gerichtshof nach Art. 234 EG anzurufen, auch wenn eine innerstaatliche Rechtsnorm besteht, die die Gerichte an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten Gerichts bindet (EuGH Slg. 1974, 139 – Rheinmühlen-Düsseldorf).

[95] Bei Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über das Recht, gegen eine Entscheidung, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, Rechtsmittel einzulegen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das Ausgangsverfahren insgesamt beim vorlegenden Gericht anhängig bleibt und nur die Vorlageentscheidung Gegenstand eines beschränkten Rechtsmittels ist, wäre die dem erstinstanzlichen Gericht durch Art. 234 EG eingeräumte selbstständige Befugnis, den Gerichtshof anzurufen, in Frage gestellt, wenn das Berufungsgericht dadurch, dass es die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, abändert, außer Kraft setzt und dem Gericht, das diese Entscheidung erlassen hat, aufgibt, das ausgesetzte Verfahren fortzusetzen, das vorlegende Gericht daran hindern könnte, von der ihm durch den Vertrag eingeräumten Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs Gebrauch zu machen.

[96] Nach Art. 234 EG liegt die Beurteilung der Erheblichkeit und der Erforderlichkeit der Vorabentscheidungsfrage nämlich in der alleinigen Verantwortung des Gerichts, das das Vorabentscheidungsersuchen beschließt, vorbehaltlich der eingeschränkten Überprüfung, die der Gerichtshof nach der in Rz. 67 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vornimmt. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die Konsequenzen aus dem Urteil über das Rechtsmittel gegen die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen wird, zu ziehen und ggf. festzustellen, dass sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten, abzuändern oder zurückzuziehen ist.

[97] Daraus ergibt sich, dass der Gerichtshof in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, auch im Interesse der Klarheit und der Rechtssicherheit, an die Entscheidung, mit der das Vorabentscheidungsersuchen beschlossen worden ist, gebunden ist; diese muss ihre Wirkungen entfalten, solange sie nicht von dem Gericht, das sie erlassen hat, aufgehoben oder geändert worden ist, denn nur dieses Gericht kann eine solche Aufhebung oder Änderung beschließen.

[98] (s. Urteilsausspruch Nr. 3)


Zur vierten Frage
[99] Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 43 und 48 EG dahin auszulegen sind, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es einer nach dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft verwehren, ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, und dabei ihre Eigenschaft als Gesellschaft, die dem innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats unterliegt, nach dessen Recht sie gegründet wurde, behält.

[100] Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Cartesio, eine nach ungarischem Recht gegründete Gesellschaft, die bei ihrer Gründung ihren Sitz in Ungarn genommen hat, diesen nach Italien verlegt hat, dabei aber ihre Eigenschaft als Gesellschaft ungarischen Rechts behalten möchte.

[101] Nach dem Gesetz über die Handelsregistereintragung befindet sich der Sitz einer Gesellschaft ungarischen Rechts an dem Ort, an dem sich die Hauptverwaltung befindet.

[102] Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Antrag von Cartesio auf Eintragung der Änderung ihres Sitzes im Handelsregister vom Handelsregistergericht abgelehnt worden sei, weil eine in Ungarn gegründete Gesellschaft nach ungarischem Recht nicht ihren Sitz, wie er in dem genannten Gesetz definiert sei, ins Ausland verlegen und zugleich das ungarische Recht als Personalstatut behalten könne.

[103] Eine solche Verlegung erfordere, dass die Gesellschaft zunächst zu bestehen aufhöre und dann nach dem Recht des Landes, in das der Sitz verlegt werden solle, neu gegründet werde.

[104] In dieser Hinsicht hat der Gerichtshof in Rz. 19 des Urteils Daily Mail and General Trust ausgeführt, dass eine aufgrund einer nationalen Rechtsordnung gegründete Gesellschaft jenseits der nationalen Rechtsordnung, die ihre Gründung und ihre Existenz regelt, keine Realität hat.

[105] In Rz. 20 des genannten Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass hinsichtlich dessen, was für die Gründung einer Gesellschaft an Verknüpfung mit dem nationalen Gebiet erforderlich ist, wie hinsichtlich der Möglichkeit einer nach einem nationalen Recht gegründeten Gesellschaft, diese Verknüpfung nachträglich zu ändern, erhebliche Unterschiede im Recht der Mitgliedstaaten bestehen. In einigen Mitgliedstaaten muss nicht nur der satzungsmäßige, sondern auch der wahre Sitz, also die Hauptverwaltung der Gesellschaft, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegen; die Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Gebiet hinaus setzt somit die Liquidierung der Gesellschaft mit allen Folgen voraus, die eine solche Liquidierung auf gesellschaftsrechtlichem Gebiet mit sich bringt. Andere Mitgliedstaaten gestehen den Gesellschaften das Recht zu, ihre Geschäftsleitung ins Ausland zu verlegen, aber einige beschränken dieses Recht; die rechtlichen Folgen der Verlegung sind in jedem Mitgliedstaat anders.

[106] Der Gerichtshof hat in Rz. 21 des Urteils Daily Mail and General Trust weiter ausgeführt, dass der EWG-Vertrag diesen Unterschieden im nationalen Recht Rechnung trägt. Bei der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in Art. 58 EWG-Vertrag (zunächst Art. 58 EGV, jetzt Art. 48 EG) werden der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung gleich geachtet.

[107] Im Urteil vom 5. November 2002 – Überseering (Rs C-208/00, Slg. 2002, I-9919 = ZIP 2002, 2037 (m. Bespr. Eidenmüller, S. 2233), Rz. 70, dazu EWiR 2002, 1003 (Neye)) hat der Gerichtshof unter Bestätigung dieser Erwägungen festgestellt, dass sich die Möglichkeit für eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, ihren satzungsmäßigen Sitz oder ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, ohne die ihr durch die Rechtsordnung des Gründungsmitgliedstaats zuerkannte Rechtspersönlichkeit zu verlieren, und ggf. die Modalitäten dieser Verlegung nach den nationalen Rechtsvorschriften beurteilen, nach denen diese Gesellschaft gegründet worden ist. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass ein Mitgliedstaat die Möglichkeit hat, einer nach seiner Rechtsordnung gegründeten Gesellschaft Beschränkungen hinsichtlich der Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes aus seinem Hoheitsgebiet aufzuerlegen, damit sie die ihr nach dem Recht dieses Staates zuerkannte Rechtspersönlichkeit beibehalten kann.

[108] Zu diesem Schluss ist der Gerichtshof auch auf der Grundlage des Art. 58 EWG-Vertrag gelangt. Denn bei der Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, in dieser Vorschrift betrachtet der EWG-Vertrag die Unterschiede, die die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der für ihre Gesellschaften erforderlichen Anknüpfung sowie der Möglichkeit und ggf. der Modalitäten einer Verlegung des satzungsmäßigen oder wahren Sitzes einer Gesellschaft nationalen Rechts von einem Mitgliedstaat in einen anderen aufweisen, als Probleme, die durch die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit nicht gelöst sind, sondern einer Lösung im Wege der Rechtsetzung oder des Vertragsschlusses bedürfen; dazu ist es jedoch bisher noch nicht gekommen (vgl. in diesem Sinne EuGH Slg. 1988, 5483, Rz. 21 bis 23 – Daily Mail and General Trust, und EuGH Slg. 2002, I-9919 = ZIP 2002, 2037, Rz. 69 – Überseering).

[109] In Ermangelung einer einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Definition der Gesellschaften, denen die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, anhand einer einheitlichen Anknüpfung, nach der sich das auf eine Gesellschaft anwendbare Recht bestimmt, ist die Frage, ob Art. 43 EG auf eine Gesellschaft anwendbar ist, die sich auf die dort verankerte Niederlassungsfreiheit beruft, ebenso wie im Übrigen die Frage, ob eine natürliche Person ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist und sich aus diesem Grund auf diese Freiheit berufen kann, daher gem. Art. 48 EG eine Vorfrage, die beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nur nach dem geltenden nationalem Recht beantwortet werden kann. Nur wenn die Prüfung ergibt, dass dieser Gesellschaft in Anbetracht der in Art. 48 EG genannten Voraussetzungen tatsächlich die Niederlassungsfreiheit zugute kommt, stellt sich die Frage, ob sich die Gesellschaft einer Beschränkung dieser Freiheit i.S.d. Art. 43 EG gegenübersieht.

[110] Ein Mitgliedstaat kann somit sowohl die Anknüpfung bestimmen, die eine Gesellschaft aufweisen muss, um als nach seinem innerstaatlichen Recht gegründet angesehen werden und damit in den Genuss der Niederlassungsfreiheit gelangen zu können, als auch die Anknüpfung, die für den Erhalt dieser Eigenschaft verlangt wird. Diese Befugnis umfasst die Möglichkeit für diesen Mitgliedstaat, es einer Gesellschaft seines nationalen Rechts nicht zu gestatten, diese Eigenschaft zu behalten, wenn sie sich durch die Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat dort neu organisieren möchte und damit die Anknüpfung löst, die das nationale Recht des Gründungsmitgliedstaats vorsieht.

[111] Der Fall einer solchen Verlegung des Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat ohne Änderung des für sie maßgeblichen Rechts ist jedoch von dem Fall zu unterscheiden, dass eine Gesellschaft aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat unter Änderung des anwendbaren nationalen Rechts verlegt und dabei in eine dem nationalen Recht des zweiten Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaftsform umgewandelt wird.

[112] Denn in diesem zweiten Fall kann die in Rz. 110 des vorliegenden Urteils angesprochene Befugnis – die keinesfalls irgendeine Immunität des nationalen Rechts über die Gründung und Auflösung von Gesellschaften im Hinblick auf die Vorschriften des EG-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit impliziert – insbesondere nicht rechtfertigen, dass der Gründungsmitgliedstaat die Gesellschaft dadurch, dass er ihre Auflösung und Liquidation verlangt, daran hindert, sich in eine Gesellschaft nach dem nationalen Recht dieses anderen Mitgliedstaats umzuwandeln, soweit dies nach diesem Recht möglich ist.

[113] Ein solches Hemmnis für die tatsächliche Umwandlung, ohne vorherige Auflösung und Liquidation, einer solchen Gesellschaft in eine Gesellschaft des nationalen Rechts des Mitgliedstaats, in den sie sich begeben möchte, stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit der betreffenden Gesellschaft dar, die, wenn sie nicht zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht, nach Art. 43 EG verboten ist (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil CaixaBank France, Rz. 11 und 17).

[114] Darüber hinaus ist festzustellen, dass die in den Art. 44 Abs. 2 Buchst. g und Art. 293 EG vorgesehenen legislativen und vertraglichen Arbeiten im Bereich des Gesellschaftsrechts seit den Urteilen Daily Mail and General Trust und Überseering bisher nicht die in diesen Urteilen aufgezeigten Unterschiede der nationalen Rechtsvorschriften betroffen haben, so dass diese nach wie vor bestehen.

[115] Die Kommission trägt jedoch vor, das vom Gerichtshof in Rz. 23 des Urteils Daily Mail and General Trust festgestellte Fehlen einer entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Regelung sei durch Gemeinschaftsvorschriften über die Sitzverlegung in einen anderen Mitgliedstaat ausgeglichen worden, die in Verordnungen wie den VO Nr. 2137/85 und 2157/2001 über die EWIV bzw. die Europäische Gesellschaft oder der VO (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) (ABl L 207, S. 1) sowie in den nach diesen Verordnungen erlassenen ungarischen Rechtsvorschriften enthalten seien.

[116] Diese Regeln könnten, ja müssten entsprechende Anwendung auf die grenzüberschreitende Verlegung des wahren Sitzes einer nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft finden.

[117] Hierzu ist festzustellen, dass diese auf der Grundlage von Art. 308 EG erlassenen Verordnungen zwar tatsächlich eine Regelung enthalten, wonach die mit ihnen eingeführten neuen Rechtsformen ihren satzungsmäßigen Sitz und damit auch ihren wahren Sitz, die nämlich in demselben Mitgliedstaat gelegen sein müssen, in einen anderen Mitgliedstaat verlegen können, ohne dass dies zur Auflösung der ursprünglichen juristischen Person und zur Schaffung einer neuen juristischen Person führt, dass eine solche Verlegung aber dennoch zwangsläufig die Änderung des auf die betreffende Einheit anwendbaren nationalen Rechts mit sich bringt.

[118] Dies ergibt sich z.B. für eine Europäische Gesellschaft aus den Art. 7 bis 9 Abs. 1 Buchst. c Ziff. ii der VO Nr. 2157/2001.

[119] Im vorliegenden Fall möchte Cartesio jedoch nur ihren wahren Sitz von Ungarn nach Italien verlegen und zugleich eine Gesellschaft ungarischen Rechts bleiben, also ohne dass sich das anwendbare nationale Recht änderte.

[120] Eine entsprechende Anwendung der von der Kommission angeführten Gemeinschaftsvorschriften, selbst wenn sie im Fall der grenzüberschreitenden Verlegung des Sitzes einer Gesellschaft des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats geboten sein sollte, kann daher in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens jedenfalls nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen.

[121] Darüber hinaus ist zur Bedeutung des Urteils Sevic Systems für den in den Urteilen Daily Mail and General Trust und Überseering aufgestellten Grundsatz festzustellen, dass diese Urteile nicht dasselbe Problem behandeln, so dass nicht geltend gemacht werden kann, dass das erstgenannte die Tragweite der beiden letztgenannten präzisiert habe.

[122] Die Rechtssache Sevic Systems betraf nämlich die Anerkennung – im Mitgliedstaat der Gründung einer Gesellschaft – der Niederlassung dieser Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat im Wege einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, eine Fallkonstellation, die sich grundlegend von der der Rechtssache Daily Mail and General Trust unterscheidet. Damit ähnelt der Fall, um den es in der Rechtssache Sevic Systems ging, anderen Urteilen des Gerichtshofs zugrunde liegenden Fällen (vgl. Urt. v. 9.3.1999 – Rs C-212/97, Slg. 1999, I-1459 = ZIP 1999, 438 (m. Bespr. Roth, S. 861, u. Werlauff, S. 867) – Centros, dazu EWiR 1999, 259 (Neye); EuGH Slg. 2002, I-9913 = ZIP 2002, 2037 – Überseering; Urt. v. 30.9.2003 – Rs C-167/01, Slg. 2003, I-10155 = ZIP 2003, 1885 (m. Bespr. Ziemons, S. 1913) – Inspire Art, dazu EWiR 2003, 1029 (Drygala)).

[123] In solchen Fällen stellt sich jedoch nicht die in Rz. 109 des vorliegenden Urteils angeführte Vorfrage, ob die betreffende Gesellschaft als eine Gesellschaft anzusehen ist, die die Nationalität des Mitgliedstaats hat, nach dessen Recht sie gegründet wurde, sondern vielmehr, ob sich diese Gesellschaft, die unstreitig eine Gesellschaft des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats ist, in der Ausübung ihres Rechts auf Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat einer Beschränkung gegenübersieht oder nicht.

[124] (s. Urteilsausspruch Nr. 4)

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