LG Hannover: Europarechtswidrigkeit der Sperrminorität bei VW nur in Kombination mit Höchststimmrecht

20.04.2009

VW-Gesetz §§ 4, 2 Abs. 1; EG Art. 56

Europarechtswidrigkeit der Sperrminorität bei VW nur in Kombination mit Höchststimmrecht

LG Hannover, Urt. v. 27. 11. 2008 – 21 O 61/08

Leitsatz der Redaktion:

Die in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz niedergelegte Sperrminorität verstößt für sich allein als selbstständige Regelung nicht gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 56 EG. Europarechtswidrig ist einerseits das Entsenderecht der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Niedersachsen gem. § 4 Abs. 1 VW-Gesetz und zum anderen die Kombination des Höchststimmrechts nach § 2 Abs. 1 mit der Sperrminorität. Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Urteil des EuGH vom 23.10.2007 – Rs C-112/05, ZIP 2007, 2068 – VW.

Tatbestand:

Die Klägerinnen verfolgen im Wege der Anfechtungs- und Beschlussfeststellungsklage die Änderung der Satzung der Beklagten (VW AG), wobei im Wesentlichen darum gestritten wird, welche Auswirkungen das Urteil des EuGH zum sog. VW-Gesetz (ZIP 2007, 2068) auf die Satzung der Beklagten hat.

Im Jahre 1959 legten die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen ihre Meinungsverschiedenheiten über die Eigentumsverhältnisse an der Beklagten bei und schlossen einen Staatsvertrag, in dem die Umwandlung der Rechtsform der Beklagten von einer GmbH in eine AG, Beteiligungsrechte, Regelungen betreffend die Satzung der Beklagten, die Gründung der VW-Stiftung etc. vereinbart wurden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Staatsvertrag vom 11./12.11.1959 (BGBl I 1960, 302) verwiesen. Der Staatsvertrag wurde durch Vorschaltgesetz vom 9.5.1960 genehmigt.

Am 6.7.1960 hielt die Bundesrepublik als alleinige Eigentümerin der Beklagten eine Gesellschafterversammlung ab, in der die Beklagte in eine AG umgewandelt und die Satzung der Beklagten beschlossen wurde. Darin wurden auch Vereinbarungen des Staatsvertrages umgesetzt. Am 21.7.1960 trat das sog. VW-Gesetz in Kraft, in welchem ebenfalls Vereinbarungen des Staatsvertrages im Bezug auf den Inhalt der Satzung sowie ein Höchststimmrecht vorgesehen waren. Das Höchststimmrecht wurde mit Gesetz vom 31.7.1970 novelliert.

Nach Veröffentlichung der Tagesordnung für die ordentliche Hauptversammlung der Beklagten am 24.4.2008 beantragte die Klägerin zu 1)) (Porsche Automobilholding SE) in Ergänzung der Tagesordnung zur Umsetzung des EuGH-Urteils über das VW-Gesetz, die Satzung der Beklagten zu ändern, indem die Regelungen über das Entsenderecht, die Höchststimmregelung und die Sperrminorität entfallen und gestrichen werden. Auf der Hauptversammlung vom 24.4.2008 stellte der Versammlungsleiter nach Abstimmung über TOP 9.1 (Antrag der Klägerin zu 1)) fest, dass 60,49 % der abgegebenen Stimmen für und 39,51 % der abgegebenen Stimmen gegen den Antrag der Klägerin zu 1) gestimmt hätten. Die Nebenintervenienten zu 1) (Land Niedersachsen) und 2) (Hannoversche Beteiligungsgesellschaft mbH) der Beklagten stimmten mit „Nein“. Damit war der Antrag abgelehnt.

Mit ihren am 26.5.2008 beim LG Braunschweig eingereichten Klagen tragen die Klägerinnen vor, die Stimmen der Nebenintervenienten zu 1) und 2) der Beklagten hätten bei der Abstimmung nicht gewertet werden dürfen, so dass sich eine Beschlussmehrheit von über 95 % für den Antrag der Klägerin zu 1) ergeben habe. Das LG Braunschweig hat auf Antrag der Klägerinnen die Klagen aufgrund der gem. § 246 Abs. 3, § 142 Abs. 5 AktG i.V.m. § 11 Nr. 7 ZustVO-Justiz in Niedersachsen bestehenden ausschließlichen Zuständigkeit des LG Hannover für Klagen betreffend Beschlüsse der Hauptversammlung einer AG verwiesen.

Die Klägerinnen beantragen: 1. Der Beschluss der Hauptversammlung, mit dem der Beschlussvorschlag zu TOP 9.1 abgelehnt worden ist, wird für nichtig erklärt. 2. Es wird festgestellt, dass die Hauptversammlung zu TOP 9.1 im einzelnen ausformulierte Satzungsänderungen beschlossen hat, mit denen die Regelungen über das Entsenderecht, die Höchststimmregelung und die Sperrminorität entfallen. Hilfsweise: 3. Es wird festgestellt, dass die Regelungen in §§ 12, 24 Abs. 1 Satz 4, § 25 Abs. 4 und § 26 der Satzung der Beklagten nichtig sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klagen sind, soweit sie nicht abgetrennt worden sind, unbegründet.

I. 1. Die Klägerinnen sind gem. § 245 AktG anfechtungsbefugt. Die am 26.5.2008 beim LG Braunschweig eingereichten Klagen haben die Anfechtungsfrist gem. § 246 AktG von einem Monat gewahrt. Die Einreichung einer Klage auch bei einem unzuständigen Gericht wahrt gem. § 167 ZPO bei demnächst erfolgter Zustellung die materielle Anfechtungsfrist (vgl. Zöller, ZPO, § 281 Rz. 15a; Hüffer, AktG, § 246 Rz. 26 m.w.N.). Davon abzuweichen besteht nur Anlass bei missbräuchlicher Klageerhebung vor einem unzuständigen Gericht; dies ist vorliegend nicht gegeben.

2. Es kann für die Entscheidung dieses Rechtsstreits dahingestellt bleiben, ob für die Klageanträge zu 1) überhaupt das erforderliche Feststellungsinteresse gegeben ist (vgl. dazu auch Urteil der Kammer vom heutigen Tag in der Parallelsache 21 O 52/08), ob und inwieweit die Nebenintervenienten der Beklagten zu 1) und 2) zu einer bestimmten Stimmabgabe verpflichtet waren, ihre Stimmabgabe sodann ggf. nichtig bzw. ZIP 2009, Seite 667anfechtbar gewesen wäre oder ob bei – unterstellter – Europarechtswidrigkeit des VW-Gesetzes in dem von den Klägerinnen dargelegten Umfang davon auch die Satzung der Beklagten erfasst werden würde.

Das Begehren der Klägerinnen setzt immer voraus, dass die Entscheidung des EuGH vom 23.10.2007 zum Inhalt hat, dass die in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz niedergelegte Sperrminorität für sich allein als selbstständige Regelung gegen Art. 56 EG verstößt und deshalb nicht mehr anwendbar ist.

Dieser nach Auffassung der Klägerinnen klare und eindeutige Regelungsgehalt kommt der Entscheidung nicht zu. Ihr ist nur zu entnehmen, dass zum einen das Entsenderecht gem. § 4 Abs. 1 VW-Gesetz und zum anderen die Kombination des Höchststimmrechts nach § 2 Abs. 1 in Verbindung mit der Sperrminorität des § 4 Abs. 3 VW-Gesetz gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 56 EG verstoßen.

a) Bei Feststellung des Regelungsgehaltes der Entscheidung ist zunächst auf den Wortlaut des Tenors im Hauptausspruch abzustellen. Dieser ist insoweit klar und kaum anders interpretierbar. Der EuGH hat eine Europarechtswidrigkeit des Entsenderechts (§ 4 Abs. 1 VW-Gesetz) und eine Europarechtswidrigkeit des Höchststimmrechts in Verbindung mit der Sperrminorität festgestellt. Die Wortwahl „in Verbindung mit“ ist nach juristischer Methodik üblicher Weise dahin zu verstehen, dass nur beide Parameter gemeinsam und nicht etwa jede Regelung für sich die tenorierte Feststellung ausfüllen.

b) Der Klägerin zu 1) kann nicht dahin gefolgt werden, der Wortlaut des Tenors sei lediglich als Hinweis darauf zu verstehen, dass die gemeinschaftswidrigen Beschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit der jeweils für sich genommen bereits gemeinschaftswidrigen Regelungen zum Höchststimmrecht und zur Sperrminorität durch deren Zusammenspiel nochmals verstärkt werde.

Der Tenor einer Entscheidung ist nicht lediglich als Hinweis auf etwas zu verstehen, was vermeintlich in den vorangegangenen Erwägungen enthalten sein soll. Der Tenor einer Entscheidung und nicht die Gründe erwachsen üblicherweise in Rechtskraft. Der Tenor und nicht die Gründe legen den Inhalt, die Reichweite der Regelung der Entscheidung fest.

Den Tenor lediglich als Hinweis zu degradieren wird seiner Bedeutung in der Rechtsprechung nicht gerecht und impliziert die Auffassung der Klägerin zu 1), die Große Kammer des EuGH, das faktisch höchste Entscheidungskollegium des höchsten Europäischen Gerichts, sei nicht in der Lage, in der für die Entscheidung maßgeblichen deutschen Fassung im Entscheidungstenor die gewollte Feststellung und den Regelungsgehalt zum Ausdruck zu bringen. Zum einen ist diese wie auch immer motivierte Auffassung der Klägerin zu 1) fernliegend; sie missachtet die fachliche Kompetenz des EuGH. Zum anderen findet sie zur Überzeugung der Kammer keine Stütze in den Entscheidungsgründen der Entscheidung des EuGH. Vielmehr gehen die Entscheidungsgründe mit dem Entscheidungstenor konform.

c) Der EuGH stellt zunächst den rechtlichen Rahmen, das deutsche Aktienrecht und VW-Gesetz dar. Danach macht er den Inhalt der Klage der Kommission deutlich, nämlich dass diese in allen drei Regelungen und zwar jeder für sich eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit sieht. Wenn der EuGH sodann die Prüfung, ob Beschränkungen vorliegen, in Rz. 30 damit einleitet, angesichts des Vorbringens der Parteien zu den ersten beiden Rügen und der kumulativen Wirkungen der beiden damit beanstandeten Bestimmungen des VW-Gesetzes seien diese Rügen gemeinsam zu prüfen, und damit den Begründungsstand der Klage sehenden Auges verlässt, spricht dies bereits deutlich dafür, dass der EuGH entgegen der Argumentation der Kommission eine isolierte Europarechtswidrigkeit der Regelungen zum Höchststimmrecht und der Sperrminorität nicht sieht und deshalb nicht prüft. Genau dies bringt er nochmals in der Zusammenfassung der Prüfungserwägungen in Rz. 56 zum Ausdruck, die lauten: „Daher stellt das Zusammenspiel von § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 3 VW-Gesetz eine Beschränkung des Kapitalverkehrs i.S.v. Art. 56 Abs. 1 EG dar.“

Insbesondere auch dadurch, dass der EuGH anschließend die dritte Rüge (Entsenderecht) im Hinblick auf das Vorbringen der Parteien selbstständig und isoliert prüft, erschließt sich, dass der EuGH keine separate eigenständige Beurteilung der beiden anderen Rügen vorgenommen hat.

d) Die von der Klägerin zu 1) herangezogene Wertung der einzelnen Erwägungsgründe trägt ihre Rechtsauffassung bezüglich einer jeweils isoliert ausgesprochenen Gemeinschaftswidrigkeit des Höchststimmrechts und der Sperrminorität nicht.

In Rz. 50 stellt der EuGH den Rechtszustand zutreffend beschreibend dar, dass die Sperrminorität von 20 % und damit weniger als die im dispositiven § 179 AktG vorgegebenen 25 % geeignet ist, wichtige Entscheidungen der Gesellschaft zu blockieren. Im Wesentlichen aus dieser Erwägungsziffer ableiten zu wollen, damit sei isoliert die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zwingend festgestellt, erscheint der Kammer fernliegend. Denn in Rz. 43 macht der EuGH deutlich, er wolle das Zusammenspiel der beiden Rügen untersuchen, wenn er ausführt, es seien die Wirkungen des Höchststimmrechts in Wechselwirkung mit dem in § 4 Abs. 3 VW-Gesetz vorgesehenen Erfordernis einer Mehrheit von mehr als 80 % des Grundkapitals für bestimmte Beschlüsse der Aktionärshauptversammlung von Volkswagen zu untersuchen.

Wenn unter diesem Ansatz das Ergebnis der geringeren Sperrminorität zutreffend rechtlich wiedergegeben wird (Rz. 50) sowie im Kontext dazu in der nächsten Erwägung (Rz. 51) ausgeführt wird, das Höchststimmrecht vervollständige den Rahmen, der es ermögliche, mit einer geringeren Investition wesentlichen Einfluss auszuüben, und wenn in der nächsten Rz. 52 darauf Bezug nehmend diese Situation als geeignet angesehen wird, Direktinvestitionen zu hindern, erscheint es nicht haltbar, aus Rz. 50 die Feststellung ableiten zu wollen, damit sei klar zum Ausdruck gebracht, die Sperrminorität sei isoliert europarechtswidrig. Rz. 50 gibt lediglich einen Baustein der Erwägungen wieder, die folgerichtig in die oben genannte Ergebnisfeststellung in Rz. 56 und später in den Tenor der Entscheidung münden.

ZIP 2009, Seite 668

e) Entgegen der Auffassung der Klägerin zu 1) ist der EuGH in seiner Entscheidung den Anträgen der Kommission nicht deshalb vollumfänglich gefolgt, weil er in den Rz. 1 und 9 den Antrag der Kommission, nämlich festzustellen, dass § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 und 3 VW-Gesetz gegen Art. 43 und 56 EG verstoßen, aufgeführt hat. In diesen Erwägungsziffern gibt der EuGH lediglich den Inhalt der Klage wieder, nimmt aber keine eigene rechtliche Bewertung vor.

f) Anders als die Klägerin zu 1) meint, kann der Kostenentscheidung des Urteils, mit der der Bundesrepublik Deutschland die Kosten des Verfahrens vollständig auferlegt worden sind, keine Feststellung entnommen werden, die Regelungen zur Sperrminorität und zum Höchststimmrecht seien jede für sich gemeinschaftsrechtswidrig.

Zum einen erscheint es gewagt und zweifelhaft, aus einer Nebenentscheidung zu den Kosten auf diesen Regelungsgehalt des Hauptausspruchs schließen zu wollen, wenn unmittelbar darüber tenoriert worden ist, die Klage werde im Übrigen abgewiesen.

Im Übrigen gilt auch hier, wollte man der Argumentation der Klägerin zu 1) folgen, hieße dies, der EuGH sei nicht in der Lage, im Ausspruch zur Hauptsache die gewollte Regelung zum Ausdruck zu bringen, sondern seine Entscheidungen seien trotz Widerspruchs zum Hauptausspruch – nur – über die Nebenentscheidungen zu den Kosten verständlich.

Des Weiteren hat der EuGH in Rz. 81 seine Kostenentscheidung begründet, indem er ausgeführt hat: „Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.“

Damit steht fest, dass der EuGH im Rahmen seines Ermessens trotz eines teilweisen Unterliegens der Kommission, wie es in Nr. 2 des Tenors ausdrücklich festgestellt worden ist, der Bundesrepublik die Kosten auferlegt hat. Die Kostenentscheidung ist kein Indiz für einen vom Wortlaut der Hauptentscheidung abweichenden Regelungsgehalt.

g) Aus der Abweisung der Klage der Kommission im Übrigen dürfte abzuleiten sein, dass der EuGH damit nicht nur die in Rz. 16 erfolgte Abweisung des Antrages wegen eines zusätzlichen Verstoßes der Regelungen im VW-Gesetz gegen Art. 43 EG, der von der Kommission nicht näher begründet und deshalb nicht näher rechtlich bewertet wurde, erfasst hat. Vielmehr wird die teilweise Klageabweisung auch als Entscheidung zu verstehen sein, damit sei der Antrag der Kommission auf isolierte Feststellung der Europarechtswidrigkeit der drei Regelungen für sich teilweise zurückgewiesen worden. Denn das Ziel des Antrags der Kommission ging dahin, gleich aufgrund welchen Verstoßes gegen den EG-Vertrag, die Nichtanwendbarkeit der drei Regelungen, und zwar isoliert jede für sich, zu erreichen. Einer teilweisen Abweichung des Antrags im Hauptausspruch hätte es daher nicht bedurft, wenn aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 56 EG antragsgemäß jede Regelung für sich für gemeinschaftsgesetzwidrig erklärt worden wäre. Welche rechtlichen Erwägungen dem Klagebegehren, dem Streitgegenstand zum Erfolg verhelfen, ist grundsätzlich ohne Belang. Hingegen erfordert ein teilweises materielles Unterliegen, wie die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit lediglich des Zusammenspiels zweier Regelungen, welches die Kommission lediglich als Verstärkung der bestehenden Rechtswidrigkeit angesehen hat, statt der beantragten Festestellung der Rechtswidrigkeit jeder Regelung isoliert für sich eine Abweisung der Klage im Übrigen.

h) Der Klägerin zu 1) ist grundsätzlich darin zu folgen, dass den Schlussanträgen des Generalanwalts (ZIP 2007, 574) eine besondere Bedeutung bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und auch bei der Würdigung der Entscheidung des Gerichtshofs zukommt. Indes sind die rechtlichen Erwägungen des Generalanwalts vorliegend jedenfalls zu der hier relevanten Frage nicht ausführlicher als die Entscheidung des EuGH; soweit sie zusätzliche Aufschlüsse über den Inhalt der gerichtlichen Entscheidung ermöglichen, geben sie diese nicht in dem Sinne, den die Klägerin zu 1) den Ausführungen des Generalanwaltes beimessen möchte.

Vielmehr hat bereits der Generalanwalt in Rz. 76 f. dargelegt, dass es ihm sachgerecht erscheine, die beiden von der Kommission getrennt untersuchten Punkte in ein und derselben Prüfung zusammenzufassen, und begründet hat er dies in Rz. 81 f. damit, dass nicht die Regelungen jeweils für sich, sondern ihre Folgen eingehender Aufmerksamkeit bedürften; die Kommission mache nur geltend, dass die Bestimmungen jeweils allein den Vertrag verletzten und ihr Zusammenspiel diesen Verstoß noch verstärke.

Zu berücksichtigen ist weiter der Umstand, dass der Generalanwalt trotz zusammengefasster Prüfung vorgeschlagen hat festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 56 Abs. 1 EG verstoßen hat, dass sie § 2 Abs. 1 und § 4 Abs. 1 und 3 des VW-Gesetzes beibehalten hat.

Hingegen hat der EuGH in seiner Entscheidung auch die zusammengefasste Prüfung vorgenommen, aber nicht den vom Generalanwalt vorgeschlagenen Wortlaut des Tenors übernommen, sondern – insoweit konsequent und folgerichtig – aufgrund der vorgenommenen rechtlichen Erwägungen mit zusammengefasster Prüfung im Tenor ausdrücklich die Verbindung beider Regelungen des VW-Gesetzes als europarechtswidrig angesehen. Diese Abweichung ist signifikant und spricht in erheblichem Maße dafür, dass gerade nicht jede Regelung für sich, sondern nur deren Kombination als gemeinschaftsrechtswidrig nicht mehr anwendbar sein soll.

i) Soweit die Klägerin zu 1) die Auffassung vertritt, die Entscheidung des EuGH zum VW-Gesetz liege auf der grundsätzlichen Linie zur sog. Golden-Share-Rechtsprechung des EuGH, daher stelle die Sperrminorität von 20 % ein Verstoß gegen Art. 56 EG dar, kann dem nicht gefolgt werden.

Die Golden-Share-Rechtsprechung geht dahin, einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit dann anzunehmen, wenn dem Staat ein Sonderrecht eingeräumt wird, das es ihm ermöglicht, einen über seine Investition hinausgehenden Einfluss auszuüben (vgl. EuGH, Urt. v. 4.6.2002 – Rs C-376/98 – Kommission gegen Portugal, behördliche Genehmigungserfordernisse; EuGH, Urt. v. 28.9.2006 – Rs C-282/04 und Rs C-283/04, ZIP 2007, 221 (m. Bespr. Möslein, S. 208) – Kommission gegen Niederlande, Kontrollbeteiligung, vorherige Zu-ZIP 2009, Seite 669stimmung; EuGH, Urt. v. 6.12.2007 – Rs C-463/04 und Rs C-464/04, ZIP 2008, 21 – Kommission gegen Italien, Bestellung von Verwaltungsratsmitgliedern). Anders als bei der Regelung betreffend das Entsenderecht und betreffend das Höchststimmrecht ist ein derartiges Sonderrecht bei der Sperrminorität von 20 % nicht gegeben.

Wie der EuGH in seiner Entscheidung vom 6.12.2007 (Rs C-463/04 und Rs C-464/04, ZIP 2008, 21) deutlich macht, sieht er einen ggf. rechtswidrigen Sondervorteil immer dann, wenn eine Einflussnahme auf die Entscheidung der Gesellschaft außer Verhältnis zum wirtschaftlichen Wert der Investition, der Beteiligung an dem Unternehmen steht. Demgemäß verweist er in Rz. 22 ff. nicht etwa auf die Entscheidungsgründe der VW-Gesetz-Entscheidung betreffend die gemeinsame Prüfung von Höchststimmrecht und Sperrminorität, sondern nur auf die Erwägungen der Großen Kammer in der VW-Gesetz-Entscheidung betreffend das Entsenderecht in den Rz. 62 ff. und führt in diesem Zusammenhang aus, den öffentlichen Anteilseignern werde ein Instrument bereitgestellt, das es ihnen ermögliche, einen Einfluss auszuüben, der über ihre Investition hinausgeht, nämlich die unmittelbare Bestimmung von Verwaltungsratsmitgliedern, die anderen Aktionären nicht möglich ist.

Gleiches hat der EuGH bereits im Rahmen seiner vorangegangenen Entscheidungen z.B. in Bezug auf Sonderaktien des niederländischen Staates ausgeführt, die diesem ermöglichten, mittels vorheriger Zustimmung sehr wichtige Entscheidungen der privatisierten Gesellschaften von seiner Willensbildung abhängig zu machen und zu blockieren, wobei zudem die Einziehung dieser Sonderaktien nur im Einverständnis des niederländischen Staates möglich war. Der EuGH macht deutlich, dass dann, wenn Entscheidungen von gravierender Bedeutung innerhalb der Gesellschaft von der vorherigen Zustimmung durch den niederländischen Staat abhängig sind, dadurch die Möglichkeit der anderen Aktionäre beschränkt wird, sich tatsächlich angemessen an der Verwaltung der Gesellschaft zu beteiligen (Rz. 21 ff.).

Vergleichbares gilt für die Sperrminorität von 20 % nicht. Die Sperrminorität von 20 % gilt für jeden Aktionär, der eine wirtschaftliche Beteiligung an der Beklagten in dieser Höhe hält, und begründet daher kein Sonderrecht des Landes Niedersachsen. Würde sich das Land Niedersachsen von seiner Beteiligung trennen, käme die Sperrminorität dem Erwerber einer 20 %igen Beteiligung zu bzw. „ginge verloren“, wenn die Beteiligung im freien Handel an eine Vielzahl von Aktionären veräußert werden würde.

k) Zusammengefasst ist daher festzustellen, dass bei eingehender sachgerechter Auslegung sowohl der Anträge der Kommission und des Generalanwalts sowie deren dazu vorgenommenen rechtlichen Würdigungen als auch des Tenors und der Entscheidungsgründe des EuGH nicht erkennbar ist, dass das Höchststimmrecht gem. § 2 Abs. 1 VW-Gesetz und die Absenkung der Sperrminorität gem. § 4 Abs. 3 VW-Gesetz jeweils für sich genommen europarechtswidrig sind, sondern dass nach der Entscheidung des EuGH nur deren gemeinsame Wirkungen einen Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit gem. Art. 56 EG darstellen.

3. Der Anregung der Klägerin zu 1), die Sache dem EuGH zur Entscheidung von Fragen der Zulässigkeit der Sperrminorität im VW-Gesetz und der Satzung der Beklagten vorzulegen, war nicht zu folgen.

Zum einen ist eine Entscheidung über den Antrag, ob die Bundesrepublik Deutschland isoliert in dem speziellen VW-Gesetz eine vom normalen Aktienrecht abweichende Sperrminorität von 20 % festschreiben kann, durch die Entscheidung des EuGH vom 23.10.2007 bereits getroffen. Diese Frage dem EuGH erneut vorzulegen ist nicht zulässig. Sie liefe im Ergebnis darauf hinaus, den EuGH zu einer Erläuterung seiner Entscheidung über den bereits beschiedenen Antrag der Kommission aufzufordern.

Des Weiteren ist für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht erheblich, ob § 4 Abs. 3 VW-Gesetz gemeinschaftsrechtswidrig ist oder nicht, wenn er die Beschlussfassung der Aktionäre der Beklagten in Abweichung von § 179 AktG hinderte, die Sperrminorität davon abweichend herauf- oder herabzusetzen. Dieser Beschluss hat auch nach dem Vorbringen der Klägerinnen rechtmäßig keine Mehrheit gefunden, weil aus oben genannten Gründen die Nebenintervenienten 1) und 2) nicht in ihrer Stimmabgabe beschränkt waren.

Im Übrigen weist die Kammer darauf hin, dass ungeachtet der Frage, ob die satzungsgebende Gesellschafterversammlung der Beklagten am 6.7.1960 eine staatliche Maßnahme war, ein Gleichklang von VW-Gesetz und Satzung in dem Sinne, dass bei Europarechtswidrigkeit des § 4 Abs. 3 VW-Gesetz zugleich § 26 Abs. 2 der Satzung unwirksam sei, zweifelhaft erscheint. Da Art. 56 EG erst nach der Schaffung des VW-Gesetzes und der Satzung seine Wirkungen entfaltete, hat der EuGH ausgeführt, dass der Verstoß der Bundesrepublik Deutschland darin liege, die Regelungen im VW-Gesetz beibehalten zu haben. Die Satzung der Beklagten unterliegt aber grundsätzlich nur dem Einfluss der Bundesrepublik Deutschland, soweit eine besondere Sperrminorität für die Beklagte vorgegeben und damit der freien Beschlussfassung der Aktionäre entzogen ist oder werden soll. Abstrakte Regelungen eines Privatrechtssubjekts, der Beklagten, die ursprünglich der deutschen Rechtslage entsprachen und auch heute noch dem deutschen Aktienrecht entsprechen, per se als unwirksam anzusehen, weil sie nach Inkrafttreten des ranghöheren Europarechts nicht noch einmal von der Aktionärsmehrheit (welcher? qualifiziert oder einfach? mit oder ohne Stimmen des Landes, der Bundesrepublik Deutschland oder anderer öffentlicher Institutionen?) bestätigt worden sind, erscheint zweifelhaft. Denn vielmehr wird eine Regelung in der Satzung ohne jede neue Beschlussfassung der Aktionäre beizubehalten sein, die nach dem heute geltenden Aktienrecht grundsätzlich zulässig ist.

Die Satzung der Beklagten ist nicht allein deshalb makelbehaftet, weil sie einem Gesetz entsprach, das durch Inkrafttreten späterer höherrangiger gesetzlicher Regelungen nunmehr unzulässige Bestimmungen enthalten mag. Vielmehr ist auch im Interesse aller Aktionäre (nicht lediglich der Klägerin zu 1) oder der Nebenintervenienten zu 1) und 2)) die Frage zu klären, ob nach heutigem Gemeinschaftsrecht die öffentliche Hand, beispielsweise bei einer Privatisierung oder auch bei der vorübergehenden Übernahme der qualifizierten Aktienmehr-ZIP 2009, Seite 670heit, in der Satzung einer AG eine Sperrminorität von 20 % vorsehen kann, die selbstverständlich für jeden Aktionär gilt. Diese Frage ist insbesondere im Hinblick auf die nach deutschem Recht zulässige Sperrminorität von 25 % zu beantworten. Dabei ist sodann zugrunde zu legen, dass jede Sperrminorität, seien es 20 % oder 25 % oder 33 %, eine Beschränkung des Kapitalverkehrs darstellen kann, da diese Beschränkung geeignet ist, die Beherrschung eines Unternehmens durch ein anderes zu hindern, auf der anderen Seite im Ergebnis bei Erwerb der qualifizierten Mehrheit der Kapitalverkehr betreffend das beherrschte Unternehmen zum Erliegen kommt.

Diese Fragestellungen dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen erübrigt sich jedoch, weil aufgrund seiner Entscheidung vom VW-Gesetz gerade nicht feststeht, dass die abstrakte Regelung mit einer Sperrminorität von 20 % gegen Art. 56 EG verstößt, sondern aus der Abweisung der Klage der Kommission in diesem Punkt das Gegenteil abzuleiten ist.

II. Aufgrund der Abweisung der Klageanträge zu 1) und 2) wäre nunmehr über den Hilfsantrag der Klägerinnen zu entscheiden. Zu einer Entscheidung über diese Anträge ist das LG Hannover nicht zuständig. Seine Zuständigkeit ist lediglich und ausschließlich für Beschlussanfechtungsklagen gem. § 246 AktG gegeben, weil das Land Niedersachsen durch § 11 Nr. 7 ZustVO-Justiz von der Möglichkeit gem. § 246 Abs. 3, § 142 Abs. 5 AktG Gebrauch gemacht hat, das LG Hannover dafür als das landesweit ausschließlich zuständige Gericht zu bestimmen. Die ausschließliche Zuständigkeit begründet keine Annexzuständigkeit für Streitigkeiten der Parteien insbesondere im Zusammenhang mit den Hauptversammlungsbeschlüssen. Daher verbleibt es bei der grundsätzlich am Sitz der Beklagten gegebenen Zuständigkeit des LG Braunschweig für die übrigen Streitgegenstände.

Die Verweisungsbeschlüsse LG Braunschweig vom 11.6.2008 bzw. 4.7.2008 entfalten nach ihrem Wortlaut und Inhalt lediglich für die seinerzeit rechtshängigen Beschlussanfechtungsklagen Bindungswirkung und erfassten nicht die nur bedingt rechtshängigen Streitgegenstände der Hilfsanträge. Demgemäß ist eine Zuständigkeit des LG Hannover über § 281 Abs. 2 ZPO nicht eingetreten und die Kammer hat nunmehr ihre Zuständigkeit zur Entscheidung darüber zu verneinen und den Rechtsstreit insoweit an das LG Braunschweig zurückzugeben.

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