LG Schwerin: Anfechtbarkeit von im Wege der Zwangsvollstreckung eingezogenen Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung

08.01.2009

SGB IV § 28e Abs. 1 Satz 2; InsO § 131 Abs. 1 Nr. 1
Anfechtbarkeit von im Wege der Zwangsvollstreckung eingezogenen Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung


LG Schwerin, Urt. vom 28.11.2008 – 6 S 100/08

 

Leitsätze der Redaktion:

1. Trotz der Neuregelung des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV ist die Einziehung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung im Wege der Zwangsvollstreckung nach § 131 InsO anfechtbar.

2. § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV n.F. wirkt inter partes, zwischen Sozialversicherungsträger und Arbeitnehmer. Eine weitergehende Schutzwirkung dahin gehend, dass auch der Sozialversicherungsträger im Fall der Insolvenz eines Arbeitgebers bevorzugt werden soll, ist der streitgegenständlichen Neuregelung nicht zu entnehmen.

Gründe:

I. Der Kläger ist Insolvenzverwalter, die Beklagte eine gesetzliche Krankenkasse. Die Parteien streiten um die Rechtsfrage, ob § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV in der seit 1.1.2008 geltenden Fassung im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers die Anfechtung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gegenüber den Sozialkassen ausschließt (so die Beklagte) oder nicht (so der Kläger). Die Beklagte hat vorprozessual die Hälfte eines im Wege der Zwangsvollstreckung von der Insolvenzschuldnerin eingezogenen Betrags als Arbeitgeberanteile an den Kläger ausgezahlt. Die Parteien streiten um den Restbetrag, nämlich die Arbeitnehmeranteile i.H. v. 2.666,71 €. Der Kläger meint, diese Arbeitnehmeranteile gehörten zum pfändbaren Vermögen der Insolvenzschuldnerin und hätten daher von der Beklagten nicht im Wege der Zwangsvollstreckung eingezogen werden dürfen. Es handele sich um eine anfechtbare inkongruente Rechtshandlung innerhalb eines Monats vor Insolvenzantrag gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO.

Erstinstanzlich hat die Beklagte die Erstattung der Arbeitnehmeranteile mit der Begründung verweigert, § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV stünde der Anfechtung entgegen, weil es sich bei den Arbeitnehmerbeiträgen um Vermögen des Beschäftigten und nicht des Arbeitgebers, also der Insolvenzschuldnerin handele. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass der “Besitzstand” des Arbeitnehmers im Fall der Insolvenz seines Arbeitgebers gewahrt werden solle.

Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben und die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 2.666,71 € nebst Zinsen verurteilt. Der Kläger sei zur Anfechtung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO berechtigt. Er habe durch Vorlage von Kontoauszügen nachgewiesen, dass die Zahlung an die Beklagte aus dem Guthaben der Schuldnerin vorgenommen wurde. Das Guthaben und der daraus folgende Auszahlungsanspruch der Schuldnerin gehörten noch zum pfändbaren Vermögen. § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV stünde der Anfechtung nicht entgegen. Der BGH habe am 27.3.2008 ausdrücklich entschieden, dass § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV nicht lediglich eine Klarstellung, sondern eine Rechtsänderung bewirkt habe. Ob die Neuregelung die nach dem bisherigen Recht entstandenen Anfechtungsrechte beseitigen wollte, habe der BGH indessen ausdrücklich offengelassen. Der Wortlaut der Regelung stelle auf eine “Zahlung” ab, vorliegend sei der Zahlung jedoch eine selbstständig anfechtbare und vom Kläger angefochtene Rechtshandlung der Beklagten, nämlich die Pfändung und Einziehung der Kontoforderung gegen die Bank vorausgegangen. Nach dem Gesetzeswortlaut mache es einen Unterschied, ob die Auskehrung aufgrund einer freiwilligen Leistung des Arbeitgebers oder – wie hier – im Rahmen einer Pfändungs- und Überweisungsverfügung bewirkt werde.
Die Beklagte hat Berufung eingelegt mit dem Ziel der Klageabweisung.

II. Die Berufung ist zulässig, insbesondere in rechter Form und Frist eingelegt. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zahlung gem. § 131 Abs. 1 Nr. 1, § 143 Abs. 1 InsO i.V.m. §§ 819, 818 Abs. 4, § 292 Abs. 1, §§ 989, 990 BGB.

Entgegen der Ansicht der Beklagten handelt es sich hier um die Anfechtung einer inkongruenten Deckung nach § 131 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Die Pfändung und Einziehung des die streitgegenständlichen Arbeitnehmeranteile umfassenden Betrags ist eine selbstständige Rechtshandlung der Beklagten (vgl. BGH, Urt. v. 21.3.2000 – IX ZR 138/99, ZIP 2000, 898 = NJW-RR 2000, 1215, dazu EWiR 2000, 687 (Huber)). Die damit einhergehende Sicherung der Beklagten ist im Wege der Zwangsvollstreckung nicht früher als drei Monate vor Stellung des Insolvenzantrags erlangt und daher inkongruent (vgl. dazu BGH, Urt. v. 17.7.2008 – IX ZR 203/07, ZVI 2008, 433, Rz. 4). Zwischen der Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 17.1.2008 und dem Eingang des Insolvenzantrags bei Gericht am 30.1.2008 liegen nur 13 Tage. Auf die Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin und die Kenntnis des Gläubigers hiervon kommt es im Fall einer Anfechtung nach § 131 InsO entgegen der Ansicht der Beklagten nicht an.

Wie das Amtsgericht geht auch die Kammer davon aus, dass die Vorschrift des – unstreitig in der Neufassung anzuwendenden – § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV der Anfechtung nicht entgegensteht. Die Begründung des Amtsgerichts ist sorgfältig abgewogen und überzeugend. Die Kammer folgt ihr in allen Punkten.

Bereits der Wortlaut des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV – “Zahlung” – trägt die Auslegung der Norm dahin gehend, dass Sicherungen im Wege der Zwangsvollstreckung nicht erfasst sein sollen. Aber auch der Sinn und Zweck der Neuregelung macht die abweichende Rechtsauffassung der Beklagten nicht zwingend.

Zwar hat der BGH festgestellt – darauf weist die Berufung zu Recht hin –, der Gesetzgeber habe eine Anfechtung hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gegenüber den Sozialkassen im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Arbeitgebers, die bisher gegeben war, ausschließen wollen (BGH, Beschl. v. 27.3.2008 – IX ZR 210/07, ZIP 2008, 747 (m. Bespr. Brinkmann/Luttmann, S. 901), Rz. 9, dazu EWiR 2008, 313 (Koza)). Die Intention des Gesetzgebers, die Arbeitnehmerbeiträge im Insolvenzfall des Arbeitgebers als “Besitzstand des Arbeitnehmers” zu sichern (vgl. BT-Drucks. 16/6540, S. 18), wird durch die Fiktion in § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV aber auch dann erreicht, wenn der Sozialversicherungsträger die bereits eingezogenen Beiträge nicht endgültig behalten, sondern ggf. der Insolvenzmasse zur Verfügung stellen muss. Die Fiktion des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV n.F. wirkt jedenfalls inter partes, nämlich zwischen Sozialversicherungsträger und Arbeitnehmer. Eine weitergehende Schutzwirkung dahin gehend, dass auch der Sozialversicherungsträger im Fall der Insolvenz eines Arbeitgebers bevorzugt werden soll, ist der streitgegenständlichen Neuregelung nicht zu entnehmen. Darauf hat das Amtsgericht zu Recht abgestellt.

Für die Richtigkeit dieser Auslegung spricht nicht zuletzt der Umstand, dass der BGH ausdrücklich die in der Literatur bereits diskutierte Frage aufgegriffen und für klärungsbedürftig angesehen hat, ob der Gesetzgeber durch die Neuregelung des § 28e Abs. 1 Satz 2 SGB IV das Ziel, eine Gläubigerbenachteiligung hinsichtlich des Arbeitnehmeranteils in der Insolvenz des Arbeitgebers künftig auszuschließen, erreicht habe (BGH ZIP 2008, 747, Rz. 12). Die Tatsache, dass der BGH hier nur zweifelnde Stimmen aus der Literatur zitiert, wertet die Kammer als deutliches Indiz dafür, dass der BGH diese Zweifel teilen könnte.

Die Kammer hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.

 

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