OLG Stuttgart: Zuständigkeit des Insolvenzgerichts am Satzungssitz trotz Abwicklungstätigkeiten an anderem Ort im Rahmen gewerbsmäßiger Unternehmensbestattung

20.10.2009

InsO § 3 Abs. 1, § 5; ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281

Zuständigkeit des Insolvenzgerichts am Satzungssitz trotz Abwicklungstätigkeiten an anderem Ort im Rahmen gewerbsmäßiger Unternehmensbestattung

OLG Stuttgart, Beschl. v. 8. 1. 2009 – 8 AR 32/08

Leitsätze des Gerichts:

1. Ein Verweisungsbeschluss gem. § 281 ZPO ist beim Vorliegen objektiver Willkür nicht verbindlich. Hierzu zählen nicht nur die Gehörsverletzung und die völlige Gesetzlosigkeit, sondern auch die Fälle, bei denen mangels Begründung nicht nachvollziehbar ist, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Verweisung erfolgt.

2. Im Insolvenzverfahren ist dieser Begründungspflicht eine Amtsermittlungspflicht (§ 5 InsO) vorgeschaltet, wel-ZIP Heft 40/2009, Seite 1929che sich auf die die Zuständigkeit begründenden Umstände erstreckt.

3. Die Verletzung dieser Ermittlungs- und Begründungspflicht führt zur fehlenden Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses und der Möglichkeit der gerichtlichen Bestimmung des zuständigen Insolvenzgerichts gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO.

4. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei einer „gewerbsmäßigen Unternehmensbestattung“ im Hinblick auf den Normzweck der Zuständigkeitsregelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechende Abwicklungstätigkeiten nicht als „selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit“ zu qualifizieren sind mit der Folge, dass allein zuständiges Insolvenzgericht das Gericht am Satzungssitz ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 InsO).

Gründe:

I. Beim AG – Insolvenzgericht – Stuttgart ging am 9. September 2008 ein Insolvenzantrag der Gläubigerin bezüglich der Schuldnerin ein. Diese ist derzeit noch im Handelsregister des AG Stuttgart mit Sitz in S. eingetragen. Die Zustellung an den Geschäftsführer der persönlich haftenden Gesellschafterin erfolgte am 19. September 2008 unter der Anschrift Berlin. Dieser teilte am 10. November 2008 telefonisch mit, dass er seinen privaten Wohnsitz sowie den Sitz der Gesellschaft bereits im Juli 2008 nach Berlin verlegt habe. Der Geschäftsbetrieb in S. sei seit diesem Zeitpunkt geschlossen. Die Abwicklung/Verwaltung erfolge nunmehr in Berlin (laut Handelsregisterauszug wurde der Sitz gemäß Beschluss vom 1. August 2008 nach Berlin verlegt). Er habe dort einen Eigenantrag gestellt. Entsprechende Unterlagen würden binnen einer Woche nachgereicht.

Weitere Ermittlungen durch das AG Stuttgart wurden nicht durchgeführt, vielmehr auf Antrag der Gläubigerin vom 27. November 2008 am 1. Dezember 2008 die Insolvenzsache an das AG Berlin-Charlottenburg. verwiesen. Mit Beschluss vom 15. Dezember 2008 erklärte sich das AG Charlottenburg für örtlich nicht zuständig und legte das Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung dem OLG Stuttgart vor.

II. 1. Die Vorlage des AG Charlottenburg ist zulässig.

Das OLG Stuttgart ist zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonfliktes zwischen dem zunächst befassten AG Stuttgart und dem AG Charlottenburg gem. § 4 InsO i.V.m. § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2, § 37 ZPO berufen.

Die Voraussetzungen für die gerichtliche Bestimmung des zuständigen Gerichts gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das AG Stuttgart als auch das AG Charlottenburg haben sich rechtskräftig für unzuständig erklärt. Letzteres hat die Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts gem. § 36 Abs. 2 ZPO vorgelegt.

2. Als zuständiges Insolvenzgericht war das AG Stuttgart zu bestimmen, weil dessen Verweisungsbeschluss entgegen § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO (i.V.m. § 4 InsO) ausnahmsweise nicht bindend ist. Der Amtsrichter hat den ihm obliegenden Ermittlungspflichten nach § 5 InsO, die sich auch auf die stets von Amts wegen zu prüfenden Voraussetzungen der Zuständigkeit beziehen, nicht im hier gebotenen Umfang entsprochen, die Schuldnerin zum Verweisungsantrag der Gläubigerin nicht angehört und außerdem seine Entscheidung über die eigene Unzuständigkeit nicht begründet.

a) Seit langem ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein – grundsätzlich bindender und unanfechtbarer – Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO ausnahmsweise dann nicht verbindlich ist, wenn sich die Verweisung so weit von der gesetzlichen Grundlage entfernt, dass sie im Hinblick auf das Gebot des gesetzlichen Richters und auf das Willkürverbot des Grundgesetzes nicht mehr hingenommen werden kann (so BayObLG, Beschl. v. 25.7.2003 – 1Z AR 72/03; BayObLG, Beschl. v. 13.8.2003 – 1Z AR 84/03 und BayObLG, Beschl. v. 19.9.2003 – 1Z AR 102/03 in die Salida GmbH betreffenden Parallelfällen; BGH NJW 1993, 1273; BGH NJW 2004, 3201 („ständige Rechtsprechung“); BayObLGZ 1993, 317; KGReport 2002, 296; Zöller/Greger, ZPO, 27. Aufl., 2009, § 281 Rz. 17 m.w.N.). Dabei sind die Voraussetzungen für die Annahme von objektiver Willkür und damit von Unverbindlichkeit niedriger angesetzt als im Falle der Rechtswegverweisung nach § 17a GVG, weil Letztere gesondert anfechtbar ist (vgl. BGH v. 8.7.2003 – X ARZ 138/03; BGHZ 144, 21 = ZIP 2000, 598, dazu EWiR 2000, 529 (Greger/Heinemann)).

Als Fälle objektiver Willkür werden nicht nur diejenigen der Gehörsverletzung und der völligen Gesetzlosigkeit angesehen, sondern auch solche, in denen mangels Begründung nicht nachvollziehbar ist, auf welcher gesetzlichen Grundlage die Verweisung erfolgt ist. Dazu gehört nicht nur die formelhafte Benennung einer gesetzlichen Vorschrift, sondern auch die Ermittlung und Darlegung der Umstände, aus denen sich die Unzuständigkeit des verweisenden Gerichts ergeben soll. Soweit die Zuständigkeitsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beantwortet wird, erfordert dies auch eine nachvollziehbare Auseinandersetzung, warum das Gericht der eine Verweisung befürwortenden Meinung folgt. Ist eine solche Prüfung und Begründung allerdings erfolgt, tritt die Verbindlichkeit der Verweisung ein, und zwar auch dann, wenn sie vom „angewiesenen“ Gericht für unzutreffend erachtet wird.

Diese Anforderungen an die Ermittlungs- und Begründungspflicht gelten insbesondere im Insolvenzverfahren, das – im Gegensatz zum Zivilprozess – vom Amtsermittlungsprinzip (§ 5 InsO) bestimmt ist. An die Ermittlungen der die Zuständigkeit begründenden Umstände sind vor allem dann höhere Ansprüche zu stellen, wenn Anhaltspunkte erkennbar sind, dass über die Bindungswirkung des § 281 ZPO möglicherweise ein Gerichtsstand bei einem an sich unzuständigen Gericht erreicht werden soll.

b) Das AG Stuttgart hat diese Ermittlungs- und Begründungspflichten nicht erfüllt und zusätzlich der Schuldnerin auf den am 28. November 2008 eingegangenen Verweisungsantrag der Gläubigerin kein rechtliches Gehör gewährt, so dass hier Unverbindlichkeit der Verweisung wegen objektiver Willkür gegeben ist. Die Verletzung der Ermittlungs- und Begründungspflicht ergibt sich dabei aus den folgenden Erwägungen:

aa) In § 3 InsO ist die örtliche Zuständigkeit unter Anlehnung an § 71 KO neu formuliert worden. Dadurch hat sich schärfer als früher die Streitfrage gestellt, ob nach Beendigung der aktiven gewerblichen Tätigkeit noch eine Zuständigkeitsveränderung nach § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO dadurch herbeigeführt werden kann, dass die verbliebenen Geschäftsunterlagen vom Sitz ZIP Heft 40/2009, Seite 1930der Schuldnerin als allgemeinem Gerichtsstand (§ 17 ZPO) an einen Ort außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Insolvenzgerichts verbracht werden. Dabei hat sich das Zuständigkeitsproblem auf die Frage zugespitzt, ob „reine Abwicklungstätigkeit“ noch als „selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit“ i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO angesehen werden kann, die eine Verlagerung der Zuständigkeit rechtfertigt.

bb) Die überwiegende Meinung hat sich auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass nach Einstellung der aktiven Betriebstätigkeit bzw. Eintritt der Insolvenzreife eine wirksame Verlegung des Mittelpunkts der wirtschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen ist mit der Folge, dass allein zuständiges Insolvenzgericht das Gericht am Satzungssitz (§ 3 Abs. 1 Satz 1 InsO) ist (BayObLG ZIP 1999, 1714 = NJW-RR 2000, 349; BayObLG ZIP 2003, 1305 = ZInsO 2001, 517; BayObLG ZIP 2003, 676; OLG Düsseldorf NZI 2000, 601; OLG Köln ZIP 2000, 672, dazu EWiR 2000, 535 (v. Gerkan); OLG Celle OLGReport2000, 205; OLG Hamm ZInsO 1999, 533; OLG Hamm NZI 2000, 220; OLG Braunschweig OLGReport2000, 105; OLG Braunschweig ZIP 2000, 1118 = NZI 2000, 266, dazu EWiR 2000, 1021 (Voss); OLG Naumburg InVo 2000, 12; OLG Naumburg ZIP 2001, 753, dazu EWiR 2001, 875 (Voss); OLG Zweibrücken InVo 2002, 367).

cc) Andererseits ist die Ansicht, dass auch eine solche Abwicklungstätigkeit – ggf. unter Fortführung der Geschäftsbücher – als „wirtschaftliche Tätigkeit“ angesehen werden kann (vgl. BGHZ 132, 195 = ZIP 1996, 847, dazu EWiR 1996, 741 (Paulus) zum früheren Recht), zumindest als vertretbar qualifiziert worden, so dass eine Verweisung an das Insolvenzgericht am Abwicklungsort als bindend erachtet wurde (z.B. OLG Köln ZIP 2000, 672; OLG Celle OLGReport2000, 205; anders OLG Celle ZIP 2004, 581 = NZI 2004, 260, dazu EWiR 2004, 809 (Voss); OLG Frankfurt/M. NZI 2000, 523; OLG Naumburg InVo 2000, 12 sowie die Beschlüsse des OLG Karlsruhe v. 16.10.2003 – 15 AR 35/03, ZIP 2004, 1476 (LS), des OLG Brandenburg v. 8.8.2003 – 1 AR 60/03 und des OLG Schleswig v. 28.7.2003 – 2 W 117/03; anders OLG Schleswig ZIP 2004, 1476 (LS) = NZI 2004, 264).

dd) Vielfach sind allerdings auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen an das abgebende Gericht im Hinblick auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs, auf die Begründung des Abgabebeschlusses oder den Umfang der vorher erforderlichen Ermittlungen strenger geprüft worden mit der Folge, dass – jeweils als Einzelfallentscheidung – die Verbindlichkeit der Verweisung verneint wurde (z.B. BayObLG ZIP 2003, 1305 = ZInsO 2001, 517; KG NZI 1999, 499; OLG Hamm ZInsO 1999, 533; OLG Hamm NZI 2000, 220; OLG Braunschweig OLGReport2000, 105; OLG Rostock ZInsO 2001, 1064; OLG Naumburg ZIP 2001, 753; OLG Frankfurt/M. ZIP 2002, 1956 = ZVI 2002, 319 sowie die Beschlüsse des BayObLG v. 25.7.2003 (1Z AR 72/03), v. 13.8.2003 (1Z AR 84/03) und v. 19.9.2003 (1Z AR 102/03), des OLG Hamm (1Sbd 71/03) v. 31.7.2003, des OLG Rostock (3 UH 10/03 und 3 UH 11/03) jeweils v. 11.8.2003 und des OLG Dresden (1 AR 69/03) v. 9.9.2003).

ee) Im Falle der „gewerbsmäßigen Unternehmensbestattung“ können im Hinblick auf den Normzweck der Zuständigkeitsregelung des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechende Abwicklungstätigkeiten nicht als „selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit“ qualifiziert werden, weil sonst einer – in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig abgelehnten – rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung Vorschub geleistet würde. Der ausdrückliche Verzicht auf eine formelle Sitzverlegung darf nicht dazu führen, die zur missbräuchlichen Sitzverlegung entwickelten Kriterien zu unterlaufen (vgl. zum Ganzen: MünchKomm-Ganter, InsO, 2. Aufl., 2007, § 3 Rz. 38 ff.; BayObLG NZI 2004, 148; OLG Schleswig ZIP 2004, 1476 (LS) = NZI 2004, 264).

c) Der durch Ermittlungen näher zu prüfende Verdacht einer rechtsmissbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung bzw. die nicht festgestellte Art der wirtschaftlichen Tätigkeit des Geschäftsführers der Verwaltungs-GmbH für die Schuldnerin in Berlin musste vom Amtsrichter vor einer Verweisung an das AG Charlottenburg im Einzelnen abgeklärt werden. Dies wurde unterlassen und allein von der telefonischen Angabe des Geschäftsführers zur „Abwicklung/Verwaltung“ in Berlin ausgegangen, was gerade nicht ausreicht, um die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 2 InsO als erfüllt annehmen zu können.

Zudem fehlt jegliche Begründung des Verweisungsbeschlusses und die Auseinandersetzung mit der zuvor dargestellten Zuständigkeitsproblematik. Hinzu kommt die Gehörsverletzung auf Seiten der Schuldnerin bezüglich des Verweisungsantrags der Gläubigerin.

d) Da aus diesen Gründen der Verweisungsbeschluss des AG Stuttgart vom 1. Dezember 2008 wegen objektiver Willkür keine Bindungswirkung zu entfalten vermag, war der Zuständigkeitsstreit zwischen den beiden Insolvenzgerichten dahin zu entscheiden, dass das AG Stuttgart zum zuständigen Insolvenzgericht bestimmt wird.

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