Die Hauptversammlungssaison 2023 steht bevor. Für uns gibt Dr. Hendrik Schäfer, Co-Autor im "Handbuch Vorstand und Aufsichtsrat" und Head of Corporate & Commercial Legal der Deutsche Börse AG, einen Ausblick auf die Trends und Themen der kommenden Investorentreffen.

RWS: Wie viel Wert legen Aktionärinnen und Aktionäre auf Präsenz? Die Quote der digital durchgeführten Hauptversammlungen ist vermutlich weiter hoch?

Dr. Hendrik Schäfer: Aktuell gehe ich davon aus, dass die überwiegende Zahl der Hauptversammlungen 2023 virtuell durchgeführt wird. Bei Umfragen sah die Mehrzahl der Investoren auch keine grundsätzlichen Probleme mit dem virtuellen Format, sofern die Aktionärsrechte gewahrt werden. Aber sicherlich gibt es auch deutlich vernehmbare kritische Stimmen zur virtuellen HV, gerade in Deutschland. Zugleich tun sich hier die Unternehmen schwer, zu einem Präsenzformat „zurückzukehren“, das viele Schwächen aufweist und seit Langem als reformbedürftig gilt.  

RWS: Welche Einflussmöglichkeiten haben Aktivisten (auch: Störer) auf den kommenden HVen? Haben in bestimmten Bereichen Berater etc. mehr zu tun?

Dr. Hendrik Schäfer: Bei virtuellen Hauptversammlungen werden wir wohl bekannte Phänomene aus den Präsenzversammlungen nun im Rahmen der Video-Generaldebatte erleben. Gleichzeitig stellen sich aber auch besondere technische und rechtliche Herausforderungen etwa beim sog. virtuellen Wortmeldetisch. Dies gilt besonders, sofern auf Formfehler „hinarbeitende“ Aktionäre auftreten. Aber auch bei den Präsenzversammlungen bleibt das ein Thema. Zwar ist in der Vor-Corona-Zeit die Zahl erfolgreicher Anfechtungsklagen zurückgegangen. Dies lag aber vor allem daran, dass sich die Unternehmen mit ihren Beratern intensiv auf die Hauptversammlung vorbereiten und diese mit großer Sorgfalt durchführen. Zugleich ist dies eine der Ursachen der als sehr formal kritisierten Hauptversammlungen. Auch wenn die Unternehmen hier ein ausgewogenes Vorgehen anstreben sollten, kann wirkliche Abhilfe nur der Gesetzgeber schaffen - Stichwort: Anfechtungsrecht.

RWS: Wie stark werden ESG-Aspekte die HV-Saison prägen? Etwa bei der Vorstandsvergütung oder als Element der Unternehmenssteuerung?

Dr. Hendrik Schäfer: Gerade hinsichtlich der Vorstandsvergütung wird ESG sicher (erneut) ein Fokusthema sein. Die verlässliche und wirkungsvolle Integration von Nachhaltigkeitsaspekten in die Vorstandsvergütung stellt eine Herausforderung für die Unternehmen dar. Über die umfassenden Anforderungen an die Vergütungsberichte bekommen die Aktionäre hier Einblick. Und durch die mittlerweile verpflichtend vorgesehene Beschlussfassung über den Vergütungsbericht haben sie die Möglichkeit, ihre Bewertung zum Ausdruck zu bringen.

Aber auch darüber hinausgehend wird die Nachhaltigkeit sicher eine große Rolle in den Generaldebatten spielen. Klimawandel, Energiekosten, strategische und technologische Transformationsprozesse etc. sorgen auch und besonders bei deutschen Unternehmen für viele Diskussionspunkte. Zudem entwickeln sich nicht nur die Investorenerwartungen sondern auch der rechtliche Rahmen hinsichtlich ESG fortlaufend weiter. Zu nennen sind hier nur der Deutsche Corporate Governance Kodex oder die gerade verabschiedete Berichterstattungsrichtlinie CSRD.

RWS: „Say on pay“ war ein bislang wichtiges Thema für Aktionär:innen. Nun wird zunehmend ein „say on climate“ gefordert. Wie sehen Sie die Entwicklung hinsichtlich einer Mitsprache bei unternehmerischen Klimastrategien?

Dr. Hendrik Schäfer: Es wird sehr spannend zu beobachten sein, ob solche Initiativen vermehrt aufkommen werden. Und vor allem, ob es ihnen gelingt, tatsächlich eine Beschlussfassung der HV herbeizuführen. Der formale aktiengesetzliche Rahmen hat sich bisher in Deutschland als hohe Hürde erwiesen. Gleichzeitig zeigen die Diskussionen über den Vorschlag, ein freiwilliges say on climate als Empfehlung in den DCGK aufzunehmen, dass die künftige Entwicklung offen ist.

Vertiefende Literatur: Ghassemi-Tabar / Cordes (Hrsg.): Handbuch Vorstand und Aufsichtsrat, 2., neu bearb. Aufl. 2023.