BGH, Beschluss vom 12. Februar 2025 - XII ZB 128/24

24.04.2025

BUNDESGERICHTSHOF

vom

12. Februar 2025

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ErwSÜ Art. 5; EGBGB Art. 24; BGB § 1814; FamFG §§ 26, 34, 104, 278


a) Wechselt der gewöhnliche Aufenthalt des die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Betroffenen während des Betreuungsverfahrens von Deutschland in einen Nichtvertragsstaat des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens, ergibt sich die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte jedenfalls aus § 104 FamFG.

b) Auch nach dem Aufenthaltswechsel findet in diesem Fall auf die Anordnung der Betreuung deutsches Recht als lex fori Anwendung.

c) Das Betreuungsgericht darf das Verfahren nicht allein deswegen einstellen, weil der Betroffene eine Anhörung im Wege der Rechtshilfe verweigert und im Ausland keine Möglichkeit von dessen notfalls zwangsweiser Vorführung besteht. Vielmehr hat es zur Wahrung eines effektiven Erwachsenenschutzes auf Grundlage der im Übrigen umfassenden Aufklärung zu entscheiden, ob und ggf. in welchem Umfang es einer rechtlichen Betreuung für den Betroffenen bedarf.


BGH, Beschluss vom 12. Februar 2025 - XII ZB 128/24 - LG Dresden, AG Fulda


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Februar 2025 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Prof. Dr. Klinkhammer und Dr. Botur und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Recknagel

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 7 wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 1. März 2024 aufgehoben, soweit der Beschluss des Amtsgerichts Fulda vom 22. Juni 2021 aufgehoben und das Betreuungsverfahren eingestellt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei. Die im Rechtsbeschwerdeverfahren angefallenen außergerichtlichen Kosten des weiteren Beteiligten zu 7 werden der Staatskasse auferlegt.

Eine Wertfestsetzung (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.

Gründe:

[1] I. Der 1956 geborene Betroffene leidet an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Er erteilte mehrere Vollmachten, unter anderem am 2. September 2004 eine Generalvollmacht zugunsten seiner Ehefrau (Beteiligte zu 4). Weitere Vorsorgevollmachten erteilte er in den Jahren 2018 und 2019, u.a. dem Beteiligten zu 8 und wiederum seiner Ehefrau. Der Betroffene verfügt nach den Feststellungen der Vorinstanzen über ein Vermögen von "geschätzt 2.600.000 €".

[2] Mit Beschluss vom 22. Juni 2021 hat das Amtsgericht Fulda nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, Bestellung eines Verfahrenspflegers (Beteiligter zu 7) und Anhörung des Betroffenen eine Betreuung mit umfassendem Aufgabenkreis sowie einen Einwilligungsvorbehalt hinsichtlich der Vermögenssorge angeordnet und Rechtsanwältin M. (Beteiligte zu 6) zur Berufsbetreuerin bestellt. Die Vollmacht vom 2. September 2004 hat es wegen seinerzeitiger Geschäftsunfähigkeit des Betroffenen als unwirksam angesehen. Die weiteren Vollmachten stünden der Erforderlichkeit der Betreuung wegen fehlender Eignung der Bevollmächtigten nicht entgegen.

[3] Gegen diesen Beschluss haben der durch einen Verfahrensbevollmächtigten vertretene Betroffene und seine Ehefrau Beschwerden eingelegt. Im November 2022 zog der Betroffene nach Dresden. Mit Beschluss vom 25. November 2022 hat das Amtsgericht Fulda im Wege der einstweiligen Anordnung die bisherige Betreuerin "vorläufig" entlassen und Herrn T. zum vorläufigen Betreuer bestellt. Das Amtsgericht Dresden ist vom Oberlandesgericht Frankfurt zum für das Betreuungsverfahren zuständigen Gericht bestimmt worden.

[4] Mit Schreiben vom 21. März 2023 teilte der Betreuer den Umzug des Betroffenen in eine Seniorenpension in L./Tschechien mit. Nachdem der Betroffene seinen Aufenthalt in diesem Seniorenheim nach weniger als drei Wochen beenden musste, wechselte er Ende März/Anfang April 2023 in ein Heim in

S. W./Polen.

[5] Mit Beschluss vom 24. Mai 2023 hat das Amtsgericht Dresden im Wege der einstweiligen Anordnung die Entlassung des vorläufigen Betreuers ausgesprochen, die "vorläufige Entlassung" der ehemaligen Betreuerin M. bis zum 24. November 2023 "verlängert" und zur vorläufigen Betreuerin die zuständige Betreuungsbehörde bestellt. Die Ehefrau ist zur vorläufigen Betreuerin ­ im Wesentlichen für Fragen der Gesundheitssorge und des Heimaufenthalts in Polen ­ bestellt worden. Die einstweilige Anordnung ist bis zum 24. November 2023 befristet worden.

[6] Auf ein Rechtshilfeersuchen des Beschwerdegerichts hat sich das Ministerium der Justiz der Republik Polen mit Schreiben vom 22. November 2023 mit der Anhörung durch den Einzelrichter für den Fall einverstanden erklärt, dass der Betroffene auf freiwilliger Basis einer Anhörung zustimme. Von Seiten des Betroffenen und seines Verfahrensbevollmächtigten ist eine Einwilligung in die Anhörung verweigert worden.

[7] Mit Beschluss vom 1. März 2024 hat das Landgericht den Beschluss des Amtsgerichts Fulda vom 22. Juni 2021 aufgehoben und das Betreuungsverfahren eingestellt. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Verfahrenspflegers.

[8] II. Die nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG kraft Gesetzes statthafte Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, soweit mit dieser der Beschluss des Amtsgerichts Fulda vom 22. Juni 2021 aufgehoben und das Betreuungsverfahren eingestellt worden ist, und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

[9] 1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts, dessen Entscheidung in BtPrax 2024, 187 veröffentlicht ist, ist das "Betreuungsverfahren aufzuheben", da die "Voraussetzungen für ein Beschwerdeverfahren nicht mehr festgestellt werden" könnten, weil der Betroffene sich im Ausland aufhalte und den Kontakt zu deutschen Gerichten ablehne.

[10] Zwar stehe fest, dass die Voraussetzungen von § 1814 Abs. 1 BGB vorlägen und der Betroffene nicht über einen freien Willen im Sinne des § 1814 Abs. 2 BGB verfüge. Ungeachtet der Frage, ob der Betroffene bei der Errichtung der Vorsorgevollmachten überhaupt geschäftsfähig war, was durch die überzeugenden Gutachten des Sachverständigen K. verneint worden sei, bestünden entsprechend den überzeugenden Ausführungen im amtsgerichtlichen Beschluss auch erhebliche Bedenken, ob die Bevollmächtigten geeignet seien, die Angelegenheiten des Betroffenen nach § 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB gleichermaßen zu besorgen.

[11] Indes sei die Entscheidung des Beschwerdegerichts über die Beschwerden und damit auch die Fortführung des Betreuungsverfahrens nicht möglich. Daher sei "das Beschwerdeverfahren" einzustellen. Da sich der Sachverhalt durch die Umzüge von Dresden nach Tschechien und dann nach Polen erheblich geändert habe, könne nicht mehr auf "den Eindruck der Anhörung" durch das Amtsgericht Dresden von Anfang 2023 Bezug genommen werden, vielmehr habe der Betroffene durch das Beschwerdegericht erneut angehört werden müssen. Die ­ vom Beschwerdegericht versuchte ­ Beweisaufnahme in Polen sei mangels freiwilliger Mitwirkung des Betroffenen nicht möglich.

[12] Eine Anhörung im Wege der Rechtshilfe könne nur dann erfolgen, wenn eine Entscheidung ohne eigenen Eindruck vom Betroffenen getroffen werden könne. Hier gehe es aber vor allem um den persönlichen Eindruck und das persönliche Gespräch, da die Frage des freien Willens überprüft werden müsse. Insbesondere solle ein Gespräch auch dem Ziel dienen, die Unabhängigkeit des Betroffenen von persönlichen Einflüssen herauszuarbeiten. Die rechtliche Unausführbarkeit der Anhörung könne nicht zum Verzicht auf die persönliche Anhörung führen. Denn der Betroffene habe sich, sei es auch aufgrund äußerer Einflüsse, dem Kontakt mit den vom Gericht bestellten Betreuern verweigert, sodass eine Kontaktaufnahme nicht möglich sei.

[13] Auch die Einrichtung einer Kontrollbetreuung sei ­ ungeachtet der Frage, dass die Ungeeignetheit der Bevollmächtigten hier bereits feststünde ­ allein schon deshalb nicht möglich, weil diese nur unter den (allgemeinen) Voraussetzungen für die Anordnung einer Betreuung angeordnet werden könne. Zudem könnte ein Kontrollbetreuer ohne Kontaktaufnahme mit dem Betroffenen ebenfalls nicht wirksam agieren.

[14] 2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

[15] a) Das Beschwerdegericht ist zutreffend von der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte ausgegangen. Dass der Betroffene sich nicht mehr in Deutschland aufhält, hat nicht zum Wegfall der internationalen Zuständigkeit geführt.

[16] aa) Die internationale Zuständigkeit richtet sich vorrangig nach Art. 5 Abs. 1 des Haager Übereinkommens vom 13. Januar 2000 über den internationalen Schutz von Erwachsenen (Erwachsenenschutzübereinkommen - ErwSÜ; BGBl. 2007 II S. 323). Danach sind die Gerichte oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaats, in dem der Erwachsene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Erwachsenen zu treffen. Nach Art. 5 Abs. 2 ErwSÜ sind bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Erwachsenen in einen anderen Vertragsstaat die Behörden des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts zuständig. Das gilt indessen nicht, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Erwachsenen in einen Nichtvertragsstaat wechselt. In diesem Fall entfällt mangels gewöhnlichen Aufenthalts in einem Vertragsstaat die Zuständigkeit nach Art. 5 Abs. 1 ErwSÜ. Einen Fortbestand der einmal eröffneten internationalen Zuständigkeit bei Wegfall ihrer Voraussetzungen nach Anhängigkeit (perpetuatio fori) sieht das Erwachsenenschutzübereinkommen nicht vor (vgl. Staudinger/von Hein BGB [2022] Art. 5 ErwSÜ Rn. 8).

[17] Die Frage, ob bei nicht bestehender Zuständigkeit nach Art. 5 ErwSÜ die Regelung des Art. 7 ErwSÜ Anwendung findet, der die Zuständigkeit der Gerichte des Heimatstaates eröffnet, ist umstritten. Sie wird von der im Schrifttum wohl überwiegenden Ansicht verneint (von Hein BtPrax 2024, 193; NK-BGB/Benicke 4. Aufl. Art. 5 ESÜ Rn. 7, 14; Helms FamRZ 2008, 1995, 1998; aA MünchKommBGB/Lipp 9. Aufl. Vor Art. 5 ErwSÜ Rn. 9 ff. mwN; Hausmann Internationales und Europäisches Familienrecht 3. Aufl. J. Betreuungssachen Rn. 71). Dies kann indessen offenbleiben, wenn das ersatzweise anwendbare nationale Verfahrensrecht eine entsprechende Zuständigkeit vorsieht, wie es in der vorliegenden Fallkonstellation mit § 104 FamFG gegeben ist. Dann ersetzt der nach nationalem Verfahrensrecht gegebene Zuständigkeitsgrund der Staatsangehörigkeit die weggefallene Aufenthaltszuständigkeit nach Art. 5 Abs. 1 ErwSÜ (vgl. Lipp in Budzikiewicz/Heiderhoff/Klinkhammer/Niethammer-Jürgens Vorsorge und Verantwortung im Internationalen Familienrecht [2023] S. 103, 111 f.).

[18] bb) Nach diesen Grundsätzen sind die deutschen Gerichte im vorliegenden Fall weiterhin international zuständig.

[19] Der zunächst erfolgte Wechsel des Betroffenen nach Tschechien hat nicht zu einer Änderung der internationalen Zuständigkeit geführt. Zwar ist die Tschechische Republik Vertragsstaat des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens. Weil der Betroffene sich in dem Heim in Tschechien aber nur wenige Wochen aufhielt und sein Aufenthalt alsdann nach Polen wechselte, war jedenfalls unter den Umständen des vorliegenden Falles kein (zwischenzeitlicher) gewöhnlicher Aufenthalt in Tschechien begründet worden.

[20] Zu einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts kann daher nur der Umzug nach Polen geführt haben, wo der Betroffene sich seit Ende März/Anfang April 2023 befindet. Da die Republik Polen indes nicht Vertragsstaat des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens ist, kann ein ­ hier unterstellter ­ Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts die internationale Zuständigkeit der polnischen Gerichte nach Art. 5 Abs. 2 ErwSÜ nicht begründet haben. Weil das Erwachsenenschutzübereinkommen insoweit keine nach § 97 Abs. 1 Satz 1 FamFG vorrangige Regelung getroffen hat, ist das deutsche Verfahrensrecht anzuwenden. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist hier nach § 104 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FamFG bereits aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit des Betroffenen gegeben (vgl. von Hein BtPrax 2024, 193).

[21] b) Die angefochtene Entscheidung hat keinen Bestand.

[22] aa) Auf den vorliegenden Fall ist in der Sache deutsches Recht anwendbar. Dies gilt wiederum unabhängig von der Frage, ob sich die internationale Zuständigkeit aus Art. 7 ErwSÜ oder aus § 104 FamFG ergibt. Denn im ersten Fall haben die zuständigen Behörden nach Art. 13 Abs. 1 ErwSÜ ihr eigenes Recht (lex fori) anzuwenden. Auch im zweiten Fall ist deutsches Recht anzuwenden. Nach Art. 24 Abs. 2 Satz 1 EGBGB in der seit 1. Januar 2023 geltenden Fassung unterliegen Maßnahmen, die im Inland in Bezug auf ein Fürsorgeverhältnis angeordnet werden, deutschem Recht.

[23] Da sich der Betroffene erst seit Ende März/Anfang April 2023 in

S. W./Polen aufhält und ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts nach Polen also frühestens im Jahr 2023 stattgefunden haben kann, ist mithin in jedem Fall deutsches Recht anwendbar (vgl. von Hein BtPrax 2024, 193, 194 auch zum auf die Vorsorgevollmacht anwendbaren Recht).

[24] bb) Nach § 1814 Abs. 1 BGB bestellt das Betreuungsgericht für einen Volljährigen einen rechtlichen Betreuer, wenn er seine Angelegenheiten ganz oder teilweise rechtlich nicht besorgen kann und dies auf einer Krankheit oder Behinderung beruht. Gemäß § 1814 Abs. 2 BGB darf ein Betreuer nicht gegen den freien Willen des Volljährigen bestellt werden. Nach § 1814 Abs. 3 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur bestellt werden, wenn dies erforderlich ist. Die Bestellung eines Betreuers ist nach § 1814 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BGB insbesondere nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt werden können. Gemäß § 1825 Abs. 1 Satz 1 BGB ordnet das Betreuungsgericht an, dass der Betreute zu einer Willenserklärung, die einen Aufgabenbereich des Betreuers betrifft, dessen Einwilligung bedarf (Einwilligungsvorbehalt), soweit dies zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Betreuten erforderlich ist.

[25] cc) Entsprechend dem mit der rechtlichen Betreuung gewährleisteten Erwachsenenschutz hat das Betreuungsgericht eine Betreuung bei Vorliegen der Voraussetzungen von Amts wegen anzuordnen, und zwar auch gegen den Willen des Betroffenen, wenn dieser ­ etwa krankheitsbedingt ­ nicht zur freien Willensbildung in der Lage ist. Das setzt nach § 26 FamFG eine von Amts wegen durchzuführende Aufklärung des erheblichen Sachverhalts voraus, zu der insbesondere die gemäß § 278 FamFG vorgeschriebene persönliche Anhörung des Betroffenen erforderlich ist. Wird die Einrichtung einer Betreuung ohne die erforderlichen Ermittlungen abgelehnt, so wird dem Betroffenen der ihm durch das Betreuungsrecht gewährleistete Erwachsenenschutz ohne ausreichende Grundlage vorenthalten (vgl. Senatsbeschluss vom 2. August 2023 ­ XII ZB 303/22 ­ FamRZ 2023, 1748 Rn. 13 mwN).

[26] Das Betreuungsgericht kann in bestimmten Fallkonstellationen das Verfahren nach § 34 Abs. 3 FamFG auch ohne persönliche Anhörung des Betroffenen beenden. Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Geltung dieser Vorschrift auch im Anwendungsbereich von § 278 FamFG nicht ausgeschlossen. Da die Anhörung in Betreuungssachen aber nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung dient, darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn und soweit die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Betroffenen anzuhören bzw. sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (Senatsbeschlüsse vom 3. November 2021 ­ XII ZB 215/21 ­ FamRZ 2022, 379 Rn. 13 und vom 24. Februar 2021 ­ XII ZB 503/20 ­ FamRZ 2021, 795 Rn. 12 mwN).

[27] Hat das Betreuungsgericht alle bestehenden Möglichkeiten, den Betroffenen anzuhören bzw. sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, ausgeschöpft, hat es auf Basis der von ihm im Übrigen durchgeführten Sachverhaltsaufklärung über die Anordnung der Betreuung von Amts wegen zu entscheiden. Eine Betreuung kann in diesen Fällen angeordnet werden, wenn das Gericht nach Ausschöpfung aller sonstigen Erkenntnismöglichkeiten (§ 26 FamFG) auch ohne einen persönlichen Eindruck von dem Betroffenen vom Vorliegen der Betreuungsvoraussetzungen überzeugt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Juli 2014 ­ XII ZB 120/14 ­ FamRZ 2014, 1543 Rn. 17). Es hat dann unter Beachtung des gebotenen Erwachsenenschutzes zu entscheiden, ob und ggf. für welchen Aufgabenkreis auf Grundlage der getroffenen Feststellungen eine Betreuung, ggf. verbunden mit einem Einwilligungsvorbehalt, anzuordnen ist.

[28] Die Tatsachenfeststellungen sind vom Rechtsbeschwerdegericht regelmäßig nur darauf zu überprüfen, ob der Tatrichter seiner Entscheidung unzutreffende rechtliche Maßstäbe zugrunde gelegt, Verfahrensregeln verletzt, insbesondere entscheidungserhebliche Umstände unberücksichtigt gelassen, oder gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (Senatsbeschluss vom 15. März 2023 ­ XII ZB 232/21 ­ FamRZ 2023, 1059 Rn. 27 mwN).

[29] dd) Die angefochtene Entscheidung wird diesen Maßstäben nicht gerecht.

[30] Nach den auf das eingeholte Sachverständigengutachten des Psychiaters K., das mit einem zuvor erstatteten weiteren Gutachten übereinstimmt, gestützten Feststellungen des Amtsgerichts leidet der Betroffene an einem chronischen Residualsyndrom einer schizophrenen Psychose und ist infolgedessen nicht zu einer freien Willensbildung in der Lage.

[31] Das Beschwerdegericht ist dem gefolgt, indem es ausgeführt hat, nach den vielfältigen Gutachten, insbesondere dem Gutachten des Sachverständigen K., stehe "zur Überzeugung des Gerichts" fest, dass die Voraussetzungen von § 1814 Abs. 1 BGB vorlägen und der Betroffene nicht über einen freien Willen im Sinne des § 1814 Abs. 2 BGB verfüge, sodass ein "Betreuungsverfahren" anzuordnen "wäre". Dass es zugleich eine Anordnung der Betreuung dennoch als nicht möglich angesehen hat, steht dazu im Widerspruch. Die dem offenbar zugrunde liegende Vorstellung, bei rechtlicher Undurchführbarkeit einer gebotenen Anhörung (hier im Beschwerdeverfahren; vgl. von Hein BtPrax 2024, 193, 194 f. zu den Möglichkeiten der Beweisaufnahme im Ausland) müsse das Betreuungsverfahren stets eingestellt werden, verengt die Entscheidung in unzulässiger Weise und enthält dem Betroffenen letztlich den ihm zustehenden Erwachsenenschutz vor. Dieser gebietet nach § 34 Abs. 3 FamFG eine Entscheidung notfalls auch ohne Anhörung, die auf der Grundlage der im Übrigen umfassenden Amtsaufklärung nach § 26 FamFG zu treffen ist.

[32] Die fehlende Bereitschaft des Betroffenen zur Zusammenarbeit mit dem Betreuer lässt die Erforderlichkeit einer Betreuung nicht entfallen, wenn der Betreuer auch ohne Kommunikation mit dem Betroffenen in dessen Interesse rechtlich tätig werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Mai 2016 ­ XII ZB 363/15 ­ FamRZ 2016, 1350 Rn. 19). Daran hat sich entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts durch das am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021 (BGBl. I S. 882) nichts geändert. Die Erforderlichkeit einer Betreuung besteht insbesondere für die vorliegende Fallkonstellation der Verbringung des Betroffenen in eine im Ausland gelegene Einrichtung. Stellt sich heraus, dass dies nicht auf seinem freien Willen beruhte und die Voraussetzungen des § 1821 Abs. 3 BGB vorliegen, kann dem insbesondere durch die entsprechende Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch einen Betreuer begegnet werden.

[33] Das Beschwerdegericht hat dazu in der angefochtenen Entscheidung im Übrigen ausgeführt, der gesamten Akte sei nicht ansatzweise zu entnehmen, dass es dem Wunsch oder Willen des Betroffenen entspreche, in einem Land, dessen Sprache er nicht beherrsche, weitab von den ihm vertrauten Personen leben zu müssen. Außerdem hat es auf eine Äußerung seines zweitinstanzlichen Verfahrensbevollmächtigten verwiesen, der Umzug des Betroffenen nach Polen sei auch deshalb erfolgt, um die Auswirkungen des deutschen Betreuungsrechts und die mögliche Fürsorge der deutschen Betreuungsgerichte zu beenden.

[34] 3. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, weil die vom Beschwerdegericht gegebene Begründung eine Einstellung des Betreuungsverfahrens nicht trägt. Die Sache ist an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Sie ist nicht gemäß § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG zur Endentscheidung reif, weil weiterer Aufklärungsbedarf besteht.

[35] Zwar ergibt die von den Vorinstanzen erschöpfend durchgeführte Amtsaufklärung eine Notwendigkeit der Betreuung für den Betroffenen, zumal das Amtsgericht, abgesehen von der zweifelhaften Wirksamkeit der erteilten Vollmachten, zutreffend jedenfalls von der mangelnden Eignung der Bevollmächtigten ausgegangen und dies vom Beschwerdegericht nicht in Zweifel gezogen worden ist. Auch dürfte die Betreuung mit dem vom Amtsgericht angeordneten umfassenden Aufgabenkreis einschließlich des Einwilligungsvorbehalts erforderlich und die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht geboten sein. Allerdings fehlt es derzeit an der in tatrichterlicher Verantwortung liegenden Betreuerauswahl. Die alleinige Zurückweisung der Beschwerden durch das Rechtsbeschwerdegericht würde dazu führen, dass die vom Amtsgericht zugunsten von Rechtsanwältin M. (Beteiligte zu 6) getroffene Betreuerauswahl Bestand

hätte. Rechtsanwältin M. ist indessen noch vom Amtsgericht Fulda "vorläufig entlassen" worden und hat eine weitere Tätigkeit abgelehnt. Da eine vorläufige Entlassung eines Betreuers vom Gesetz nicht vorgesehen ist, muss diese, wenn sie gleichwohl ausgesprochen worden ist, schon aus Gründen der Rechtssicherheit als endgültige Entlassung angesehen werden. Über die Auswahl des zu bestellenden Betreuers wird demnach das Beschwerdegericht in tatrichterlicher Verantwortung zu entscheiden haben.

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