BGH, Beschluss vom 12. Mai 2016 - V ZB 135/15

02.11.2016

BUNDESGERICHTSHOF

vom

12. Mai 2016

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO § 85 Abs. 1, § 233 Satz 1 B


Hat ein Prozessbevollmächtigter Kenntnis von dem Beginn eines bundesweiten Poststreiks, ist er gehalten, sich vor Absenden eines fristwahrenden Schriftsatzes über die Auswirkungen des Poststreiks am Versand- und Empfangsort zu informieren. Dazu gehört es, die Berichterstattung über den Streik in Zeitung, Fernsehen, Rundfunk oder den Internetportalen der Nachrichtenanbieter

zu verfolgen (Fortführung von Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016

- V ZB 126/15, NJW 2016, 2750).


BGH, Beschluss vom 12. Mai 2016 - V ZB 135/15 - OLG Düsseldorf, LG Mönchengladbach


Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Mai 2016 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland, den Richter Dr. Kazele und die Richterin Haberkamp

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 24. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 25. August 2015 wird auf Kosten des Klägers als unzulässig verworfen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 19.000 €.

Gründe:

[1] I. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und den Kläger auf die Widerklage zur Zahlung eines Geldbetrages verurteilt. Das Urteil ist dem Kläger, der Rechtsanwalt ist und sich selbst vertreten hat, am 15. Mai 2015 zugestellt worden. Nach dem Hinweis, dass die Berufungsschrift vom 11. Juni 2015 am 16. Juni 2015 bei dem Oberlandesgericht eingegangen sei, hat er mit Schriftsatz vom 21. Juli 2015 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, seine Kanzleiangestellte, die die Berufungsschrift am 11. Juni 2015 zunächst per

Telefax übersandt habe, habe versäumt, die Telefaxübermittlung anhand des Telefaxprotokolls auf einen ordnungsgemäßen Zugang zu überprüfen. Er habe darauf vertrauen können, dass die zusätzlich am selben Tag zur Post aufgegebene Berufungsschrift fristgerecht eingehen werde. Eine Ausdehnung des Poststreiks für den Raum Düsseldorf sei zu diesem Zeitpunkt nicht angekündigt gewesen.

[2] Das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Rechtsbeschwerde eingelegt und diese innerhalb der am 1. Dezember 2015 abgelaufenen Begründungsfrist begründet.

[3] Mit einem am 9. Dezember 2015 bei dem Bundesgerichtshof eingegangenen Schreiben hat der Kläger selbst sich an den Senat gewandt und mitgeteilt, seine Berufungsschrift sei bereits am 15. Juni 2015 und damit rechtzeitig bei dem Berufungsgericht eingegangen. Der für die Zuteilung der Neueingangssachen zuständige Geschäftsstellenbeamte des Berufungsgerichts habe ihn am 16. Mai 2015 telefonisch darauf hingewiesen, dass die erste Seite der Berufungsschrift sich auf die Wirksamkeit der Berufung nicht auswirkende peinliche Worte enthalten habe, die, wie er richtig vermutet habe, auf der Verwendung eines Spracherkennungssystems beruhten. Auf seine Anregung hin habe er, der Kläger, am 16. Juni 2015 per E-Mail eine korrigierte erste Seite an das Berufungsgericht übersandt. Der Geschäftsstellenbeamte habe die ursprüngliche erste Seite aus der Gerichtsakte entfernt und durch die korrigierte Seite ersetzt. Dabei habe er darauf versehentlich statt des ursprünglichen Datums des Posteingangs (15. Juni 2015) das Datum des Austauschs (16. Juni 2015) vermerkt. Diesen Vorgang habe der Geschäftsstellenbeamte ihm gegenüber per E-Mail vom 28. November 2015 bestätigt.

[4] Am 16. Februar 2016 hat der Kläger einen Beschluss des Berufungsgerichts vom 19. Januar 2016 vorgelegt. Aus diesem geht hervor, dass seine Berufung tatsächlich fristgerecht eingegangen ist, sich das Berufungsgericht aber außer Stande gesehen hat, den mit der Rechtsbeschwerde angefochtenen Beschluss aufzuheben.

[5] Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2016 hat der Prozessbevollmächtige des Klägers auf den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift hingewiesen. Er ist der Ansicht, der Umstand, dass die Berufungsfrist tatsächlich nicht versäumt sei, sei zumindest in entsprechender Anwendung des § 580 Nr. 7b ZPO zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht hätte bei sorgfältiger Prüfung den Fehler des Geschäftsstellenbeamten bemerken müssen.

[6] II. Das Berufungsgericht meint, die beantragte Wiedereinsetzung könne nicht gewährt werden. Der Kläger trage die Verantwortung für die Versäumung der Berufungsfrist. Er habe nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass er seine Mitarbeiter angewiesen habe, nach einer Übermittelung fristwahrender Schriftsätze per Telefax anhand des Sendeprotokolls zu überprüfen, ob die Übermittlung korrekt erfolgt sei. Er habe auch nicht darauf vertrauen können, dass die in Düsseldorf am 11. Juni 2015 als Brief in den Postkasten eingeworfene Berufungsschrift rechtzeitig bei dem Oberlandesgericht eingehen werde. Das an sich berechtigte Vertrauen in die fristgemäße Briefbeförderung sei aufgrund des Poststreiks nicht gerechtfertigt gewesen.

[7] III. Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

[8] 1. Sie ist zwar statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO). Zulässig ist sie aber nur, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 ZPO; vgl. auch Senat, Beschluss vom 29. Januar 2015

- V ZB 179/14, WuM 2015, 320 Rn. 4; BGH, Beschluss vom 7. Mai 2003

- XII ZB 191/02, BGHZ 155, 21, 22). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

[9] 2. Allerdings ist nach dem Beschluss des Berufungsgerichts vom 19. Januar 2016 davon auszugehen, dass die Berufung des Klägers fristgerecht innerhalb der am 15. Juni 2015 abgelaufenen Berufungsfrist bei dem Berufungsgericht eingegangen ist. Diesen Umstand kann der Senat jedoch aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht berücksichtigen.

[10] a) Der Senat ist an die Feststellung des Berufungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss gebunden, dass die Berufungsschrift des Klägers nach Ablauf der Frist zur Einlegung der Berufung (§ 517 ZPO) eingegangen ist (§ 559 Abs. 1, 577 Abs. 2 Satz 4 ZPO). Die Tatsache, dass die Berufungsschrift fristgerecht eingegangen ist, hat der Kläger erst im Rechtsbeschwerdeverfahren vorgetragen. Damit handelt es sich um einen neuen Tatsachenvortrag in der Rechtsbeschwerdeinstanz, auf den die Rechtsbeschwerde grundsätzlich nicht gestützt werden kann (BGH, Beschluss vom 18. September 2003 - IX ZB 40/03, BGHZ 156, 165, 167). Die Rechtzeitigkeit der Berufung ist hier auch nicht von Amts wegen zu prüfen. Wird eine Verwerfungsentscheidung des Berufungsgerichts mit einem Rechtsmittel angegriffen, ist die Zulässigkeit der Berufung weder eine Sachentscheidungsvoraussetzung noch findet eine Prüfung von Amts wegen statt (BGH, Beschluss vom 18. September 2003 - IX ZB 40/03, aaO, S. 167 f.; vgl. auch Senat, Beschluss vom 11. Februar 2016 - V ZR 164/15, juris Rn. 16).

[11] b) Eine Rechtsbeschwerde gegen eine die Berufung verwerfende Entscheidung kann zwar auch darauf gestützt werden, diese leide an einem Verfahrensmangel. Diese Rüge hat der Kläger jedoch nicht wirksam erhoben.

[12] aa) Allerdings war die von Amts wegen gebotene Prüfung der Zulässigkeit der Berufung durch das Berufungsgericht (§ 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO) fehlerhaft. Die auf der unzutreffenden Annahme einer verspäteten Einreichung der Berufungsschrift beruhende Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt den Kläger in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfG, NJW 1989, 1147; NJW-RR 2002, 1004). Dass dem für die Prüfung der Zulässigkeit der Berufung zuständigen Senat des Berufungsgerichts der rechtzeitige Eingang der Berufungsschrift nicht bekannt war, ist unerheblich. Das Wissen des Geschäftsstellenbeamten, der den Eingang der Berufung erfasst hat, ist ihm zuzurechnen. Das Berufungsgericht ist das Gericht als organisatorische Einheit und nicht nur das erkennende Gericht als Spruchkörper.

[13] bb) Von dem Verfahrensmangel hat der Kläger aufgrund der E-Mail des Geschäftsstellenbeamten vom 28. November 2015 Kenntnis erlangt. Er konnte zwar nicht mehr eine Abänderung des Verwerfungsbeschlusses bei dem Berufungsgericht erreichen. Denn das Berufungsgericht ist grundsätzlich an diesen gebunden und darf ihn, auch wenn er angefochten wird, nicht wieder aufheben (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Januar 1995 - IV ZB 22/94, NJW-RR 1995, 765). Der Kläger hätte den Verfahrensmangel jedoch innerhalb der am 1. Dezember 2015 abgelaufenen Rechtsbeschwerdebegründungsfrist bzw. innerhalb einer zweiwöchigen Frist (entsprechend § 234 ZPO) vor dem Bundesgerichtshof rügen können. Das hat er nicht getan. Sein Vorbringen vom 9. Dezember 2015 ist unbeachtlich, weil der Kläger selbst nicht postulationsfähig ist (§ 78 Abs. 1 Satz 3 ZPO). Sein Prozessbevollmächtigter hat im Rechtsbeschwerdeverfahren erstmals mit Schriftsatz vom 17. Februar 2016 mitgeteilt, dass die Berufung des Klägers fristgerecht eingegangen war. Dieser Vortrag ist so spät gehalten, dass darauf die Verfahrensrüge nicht mehr gestützt werden kann. Es kann deshalb offenbleiben, ob eine Ergänzung der Rechtsbeschwerdebegründung im Sinne einer teilweise "Nachholung" derselben, der Sache nach verbunden mit dem Begehren auf (teilweise) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen (teilweiser) Versäumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist (§ 233 ZPO), hätte Beachtung finden müssen (ablehnend BGH, Urteil vom 13. Februar 1997

- III ZR 285/95, NJW 1997, 1309, 1310; MüKo/Krüger, ZPO, 5. Aufl., § 551 Rn. 20), was allerdings dann naheliegt, wenn - wie hier - die inhaltliche Unvollständigkeit einer an sich fristgerecht eingereichten Rechtsmittelbegründung auf einem Fehler im gerichtsinternen Bereich beruht.

[14] c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde kann der Umstand, dass die Berufungsfrist nicht versäumt ist, nicht in entsprechender Anwendung des § 580 Nr. 7b ZPO in der Rechtsbeschwerdeinstanz berücksichtigt werden.

[15] aa) Allerdings kann das Vorbringen eines Restitutionsgrundes trotz der sich aus § 559 ZPO ergebenden Beschränkungen in der Rechtsbeschwerdeinstanz bzw. Revisionsinstanz zulässig sein, auch wenn es sich dabei um Tatsachen handelt, die noch nicht Gegenstand des Berufungsurteils sein konnten. Diese Ausnahme ist durch die Erwägung gerechtfertigt, dass es im Sinne einer vernünftigen Prozessökonomie liegt, Wiederaufnahmegründe noch in einem anhängigen Rechtsstreit zu erledigen, anstatt die Partei, die sie geltend macht, damit auf ein nach rechtskräftigem Abschluss des anhängigen Rechtsstreits einzuleitendes Wiederaufnahmeverfahren zu verweisen. Das ist anerkannt für die in § 580 Nr. 1 bis 5 ZPO angeführten Restitutionsgründe, wenn deswegen eine rechtskräftige Verurteilung erfolgt ist (§ 581 Abs. 1 Satz 1 ZPO; vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 1951 - IV ZR 3/50, BGHZ 3, 65, 67 f.; Urteil vom 6. März 1952 - IV ZR 80/51, BGHZ 5, 240, 247; Beschluss vom 13. Januar 2000 - IX ZB 3/99, LM ÜberlG Nr. 1), sowie für die Restitutionsgründe nach § 580 Nr. 6 und 7a ZPO (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 1951

- IV ZR 3/50, BGHZ 3, 65, 67; Urteil vom 23. November 2006 - IX ZR 141/04, ZIP 2007, 697 Rn. 14; insgesamt ablehnend MüKo/Braun, ZPO, 5. Aufl., § 582 Rn. 6). Auch ein neues tatsächliches Vorbringen, das den Tatbestand des § 580 Nr. 7b ZPO erfüllt, kann grundsätzlich berücksichtigt werden (vgl. BGH, Urteil vom 6. März 1952 - IV ZR 80/51, BGHZ 5, 240, 248; Urteil vom 29. Juni 1955 - IV ZR 55/55, BGHZ 18, 59, 60; Beschluss vom 13. Januar 2000 - IX ZB 3/99, LM ÜberlG Nr. 1; Beschluss vom 6. Oktober 2011 - IX ZB 148/11, WM 2011, 2158 Rn. 7).

[16] bb) Die Voraussetzungen des § 580 Nr. 7b ZPO liegen jedoch nicht vor.

[17] (1) Der Geschäftsstellenbeamte des Berufungsgerichts hat mit E-Mail vom 28. November 2015 den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift des Klägers bestätigt. Die E-Mail kann nicht als Urkunde im Sinne des § 580 Nr. 7b ZPO angesehen werden. Es handelt sich um eine schriftliche Zeugenaussage des Geschäftsstellenbeamten. Die Restitutionsklage kann nicht auf eine Privaturkunde gestützt werden, mit der durch die schriftliche Erklärung einer als Zeuge in Betracht kommenden Person der Beweis für die Richtigkeit der in der

Erklärung bekundeten Tatsachen geführt werden soll (vgl. BGH, Urteil vom 27. Mai 1981 - IVb ZR 589/80, BGHZ 80, 389, 395; Beschluss vom 29. Februar 1984 - IVb ZB 28/83, NJW 1984, 1543, 1544 mwN; Beschluss vom 24. April 2013 - XII ZB 242/09, NJW-RR 2013, 833 Rn. 17).

[18] (2) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde erfüllt auch der Beschluss des Berufungsgerichts vom 19. Januar 2016, der auf der Erklärung des Geschäftsstellenbeamten vom 28. November 2015 beruht, nicht den Tatbestand des § 580 Nr. 7b ZPO. Es handelt sich nicht um eine Urkunde, die der Kläger im Sinne dieser Vorschrift aufgefunden hat.

[19] (a) Aufgefunden im Sinne des § 580 Nr. 7b ZPO wird eine Urkunde, wenn ihre Existenz oder ihr Verbleib der Partei bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung des Vorprozesses bzw. bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist in diesem Verfahren unbekannt war (BGH, Beschluss vom 24. April 2013

- XII ZB 242/09, NJW-RR 2013, 833 Rn. 19 mwN). Die Urkunde muss deshalb grundsätzlich bereits zu einem Zeitpunkt errichtet worden sein, zu dem sie die Partei im Vorprozess noch hätte benutzen können (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 1959 - IV ZR 311/58, BGHZ 30, 60, 64; siehe auch RGZ 123, 304, 305; Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl., § 580 Rn. 16a). Das ist bei dem erst am 19. Januar 2016 erlassenen Beschluss des Berufungsgerichts nicht der Fall.

[20] (b) Von diesem Grundsatz werden Ausnahmen nur zugelassen für Urkunden wie beispielsweise Geburtsurkunden oder einen die Schwerbehinderung feststellenden Verwaltungsakt, die ihrer Natur nach nicht im zeitlichen Zusammenhang mit den durch sie bezeugten Tatsachen errichtet werden und deshalb zwangsläufig zurückliegende Tatsachen beweisen (vgl. BAGE 122, 190 Rn. 18 mwN auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). Diese Voraussetzungen erfüllt der Beschluss des Berufungsgerichts vom 19. Januar 2016 offensichtlich nicht.

[21] 3. Auf der Grundlage der Annahme, dass die Berufungsschrift verspätet eingegangen ist, hat das Berufungsgericht dem Kläger durch die Zurückweisung der form- und fristgerecht beantragten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist (§ 233 ZPO) nicht den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert. Das Berufungsgericht nimmt ohne Rechtsfehler an, dass der Kläger die Fristversäumung verschuldet hat.

[22] a) Der Kläger hat die ihn als Rechtsanwalt bei der Versendung fristgebundener Schriftsätze auf dem Postweg in Zeiten eines Poststreiks treffenden Sorgfaltspflichten verletzt.

[23] aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und der anderen Obersten Gerichtshöfe dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder der Briefzustellung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden angerechnet werden (BVerfG, NJW 1995, 1210, 1211; 2001, 1566; 2003, 1516; Senat, Beschluss vom 13. Mai 2004 - V ZB 62/03, NJW-RR 2004, 1217, 1218; jeweils mwN). Er darf vielmehr grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden (Senat, Beschluss vom 19. Juni 2013 - V ZB 226/12, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 12. September 2013 - V ZB 187/12, juris Rn. 9, jeweils mwN).

[24] bb) Anders liegt es, wenn dem Postkunden besondere Umstände bekannt sind, die zu einer Verlängerung der normalen Postlaufzeiten führen können. Eine solche Ausnahmesituation, in der das Vertrauen in die Einhaltung der normalen Postlaufzeiten erschüttert sein kann, ist der Poststreik. Hat ein Prozessbevollmächtigter Kenntnis davon, dass sein fristgebundener Schriftsatz von dem Poststreik betroffen sein kann, und wählt er für die Beförderung gleichwohl den Postweg, obwohl sichere Übermittlungswege (Einwurf in den Gerichtsbriefkasten am Ort; Benutzung eines Telefaxgeräts) zumutbar sind, treffen ihn gesteigerte Sorgfaltsanforderungen (BGH, Beschluss vom 9. Dezember 1992

- VIII ZR 30/92, NJW 1993, 1332, 1333; Beschluss vom 25. Januar 1993

- II ZB 18/92, NJW 1993, 1333, 1334; Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016

- V ZB 126/15, NJW 2016, 2750 Rn. 9 ff.; vgl. auch BVerfG, NJW 1995, 1210, 1211). Von einem Rechtsanwalt, der Kenntnis von dem Beginn eines bundesweiten Poststreiks erlangt hat, ist deshalb zu verlangen, dass er sich über den Streikverlauf so weit wie möglich informiert. Dazu gehört es, die Berichterstattung über den Streik in der Presse, im Rundfunk, im Fernsehen oder auf den Internetportalen der Nachrichtenanbieter zu beobachten sowie die Informationsangebote der Gewerkschaft Verdi oder der Deutschen Post AG zu nutzen. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass die Öffentlichkeit unverzüglich und regelmäßig über Streikaktionen der Gewerkschaft informiert wird.

[25] cc) Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger die ihm obliegenden gesteigerten Sorgfaltspflichten nicht erfüllt. Das Berufungsgericht stellt rechtsfehlerfrei fest, dass er zum Zeitpunkt des Einwurfs der Berufungsschrift in den Briefkasten am 11. Juni 2015 bei Anstellen der gebotenen Nachforschungen Kenntnis davon erlangt hätte, dass sie von dem Poststreik betroffen sein kann.

[26] Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Gewerkschaft Verdi in einer Pressemitteilung vom 9. Juni 2015 über den schrittweisen Beginn des unbefristeten Poststreiks in den bundesweit 83 Briefverteilzentren informiert; hierüber wurde seinerzeit in den Medien ausführlich berichtet. Die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass ein Rechtsanwalt unter diesen Umständen von einer Ausdehnung des Poststreiks auf das Stadtgebiet hätte Kenntnis erlangen müssen, ist nicht zu beanstanden. Soweit der Kläger geltend macht, ein Anwalt könne nicht gehalten sein, die Online-Mitteilungen eines jeden Nachrichtenanbieters zu verfolgen, ergibt sich daraus nichts anderes. Der Hinweis des Berufungsgerichts auf die Internetseite des WDR ist nur beispielhaft gemeint und in rückschauender Betrachtung als Beleg dafür gedacht, dass der Poststreik (auch) in Düsseldorf schon vor dem 11. Juni 2015 Gegenstand öffentlicher Berichterstattung war. Entscheidend ist, dass in den Medien ausführlich über den Streik berichtet wurde.

[27] b) Der Kläger ist auch bei der Übersendung der Berufungsschrift am 11. Juni 2015 per Telefax seinen Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen. Das Berufungsgericht nimmt rechtsfehlerfrei an, dass sich seinen Darlegungen in dem Wiedereinsetzungsantrag nicht entnehmen lässt, dass in seiner Kanzlei eine hinreichende Ausgangskontrolle per Telefax versandter fristgebundener Schriftsätze gewährleistet war.

[28] aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs genügt der Rechtsanwalt seiner Pflicht zur wirksamen Ausgangskontrolle fristwahrender Schriftsätze nur dann, wenn er seine Angestellten anweist, nach einer Übermittlung per Telefax anhand des Sendeprotokolls zu überprüfen, ob der Schriftsatz vollständig und an das richtige Gericht übermittelt worden ist (Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 86/15, NJW-RR 2016, 636 Rn. 7; BGH, Beschluss vom 31. Oktober 2012 - III ZB 51/12, juris Rn. 6; Beschluss vom 29. Juni 2010 - VI ZA 3/09, NJW 2010, 3101 Rn. 8; Beschluss vom 14. Mai 2008 - XII ZB 34/07, NJW 2008, 2508 Rn. 11; Beschluss vom 13. Juni 1996

- VII ZB 13/96, NJW 1996, 2513). Diese zwingend notwendige Ausgangskontrolle muss sich entweder - für alle Fälle - aus einer allgemeinen Kanzleianweisung oder - in einem Einzelfall - aus einer konkreten Einzelanweisung ergeben (BGH, Beschluss vom 14. Mai 2008 - XII ZB 34/07, NJW 2008, 2508 Rn. 12).

[29] bb) Gemessen daran hat der Kläger nicht gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO dargelegt und glaubhaft gemacht, dass er seine Kanzleiangestellte angewiesen hat, die erforderliche Ausgangskontrolle vorzunehmen.

[30] (1) Das Berufungsgericht hat die eidesstattlichen Versicherungen rechtsfehlerfrei gewürdigt. Es vermisst zu Recht eine Darstellung des Klägers zur Organisation der Ausgangskontrolle gesendeter Faxe in seiner Kanzlei. Dass es eine solche Anweisung gegeben hat, lässt sich auch nicht den eidesstattlichen Versicherungen entnehmen. Der Kläger beruft sich ohne Erfolg auf die eidesstattliche Versicherung seiner Kanzleiangestellten, in der diese erklärt, sie habe es "wohl versäumt, das Faxprotokoll daraufhin zu überprüfen, ob das Fax durchgegangen ist." Diese Formulierung impliziert entgegen der Ansicht des Klägers nicht, dass sie zur Überprüfung angewiesen gewesen sei. Aus dem allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes "versäumt" lässt sich ein Verstoß gegen eine Anweisung nicht ableiten. Ein Versäumnis kann sich z.B. auch auf eine unausgesprochene Übung beziehen. Eine solche Übung steht einer Anweisung nicht gleich.

[31] (2) Entgegen der Ansicht des Klägers war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, auf die nicht ausreichenden Gründe des Wiedereinsetzungsgesuchs hinzuweisen (§ 139 ZPO). Eine Hinweispflicht besteht nur bezogen auf erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben (Senat, Beschluss vom 30. September 2010 - V ZB 173/10, juris Rn. 7 mwN). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Ausgangskontrolle und an die organisatorischen Maßnahmen bei der Übermittlung fristwahrender Schriftsätze stellt, sind bekannt und müssen einem Rechtsanwalt auch ohne richterliche Hinweise geläufig sein. Wenn der Vortrag in dem Wiedereinsetzungsgesuch dem nicht Rechnung trägt, gibt dies keinen Hinweis auf Unklarheiten oder Lücken, die aufzuklären bzw. zu füllen wären, sondern erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (Senat, Beschluss vom 23. Oktober 2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 369 mwN).

[32] IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über den Beschwerdewert folgt aus § 48 Abs. 1 Satz 1 GKG, § 3 ZPO.

Stresemann Brückner Weinland

Kazele Haberkamp

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