BGH, Beschluss vom 13. April 2022 - XII ZB 267/21

31.05.2022

BUNDESGERICHTSHOF

vom

13. April 2022

in der Unterbringungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG §§ 37 Abs. 2, 62 Abs. 1, 68 Abs. 3 Satz 2, 278 Abs. 1 Satz 1, 280, 319 Abs. 1 Satz 1, 325 Abs. 1; BGB § 1896; GG Art. 103 Abs. 1


a) Eine Anhörung des Betroffenen im Unterbringungsverfahren, die stattgefunden hat, ohne dass der Verfahrenspfleger Gelegenheit hatte, an ihr teilzunehmen, ist verfahrensfehlerhaft (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 30. September 2020 ­ XII ZB 327/20 ­ FamRZ 2021, 144).

b) Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht vor der Anhörung bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462).


BGH, Beschluss vom 13. April 2022 - XII ZB 267/21 - LG Ansbach, AG Weißenburg i. Bay.


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. April 2022 durch die Richter Guhling, Prof. Dr. Klinkhammer, Schilling, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Weißenburg i. Bay. vom 8. April 2021 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Ansbach vom 17. Mai 2021 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

[1] I. Die Betroffene wendet sich gegen die Verlängerung der Genehmigung ihrer Unterbringung bis zum 8. April 2022.

[2] Nach den im Verfahren getroffenen Feststellungen leidet sie an einer chronischen Alkoholabhängigkeit und einem daraus resultierenden dementiellen Syndrom mit entsprechenden kognitiven und mnestischen Defiziten sowie einer Epilepsie nach Schädel-Hirn-Trauma und Kleinhirnatrophie mit deutlicher Ataxie. In dem Verlängerungsbeschluss vom 8. April 2021 ist der Betroffenen ein Verfahrenspfleger bestellt worden, der an der Anhörung vom selben Tag nicht teilgenommen hatte. Der Betroffenen ist das Sachverständigengutachten vom 17. Februar 2021 erst im Abhilfeverfahren Mitte April 2021 übersandt worden. Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen, ohne sie erneut angehört zu haben. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt die Betroffene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der durch Zeitablauf erledigten Beschlüsse von Amtsgericht und Landgericht.

[3] II. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, weil diese die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 5 f. mwN) festzustellen ist.

[4] Die Entscheidung des Landgerichts ist - wie die Rechtsbeschwerde zutreffend rügt - verfahrensfehlerhaft ergangen. Das Landgericht hätte die Betroffene selbst anhören müssen, nachdem der Verfahrenspfleger an der erstinstanzlichen Anhörung nicht teilgenommen hatte, weil er ersichtlich nicht geladen worden ist und der Betroffenen das Sachverständigengutachten erst im Abhilfeverfahren, also nach der Anhörung, übersandt worden war.

[5] 1. Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 15 mwN).

[6] 2. Das war vorliegend indes nicht der Fall.

[7] a) Mit Recht beanstandet die Rechtsbeschwerde als verfahrensfehlerhaft, dass das Amtsgericht die Betroffene nicht in Anwesenheit ihres Verfahrenspflegers angehört hat.

[8] aa) Die Bestellung eines Verfahrenspflegers in einer Unterbringungssache gemäß § 317 Abs. 1 Satz 1 FamFG soll die Wahrung der Belange des Betroffenen in dem Verfahren gewährleisten. Er soll bei den besonders schwerwiegenden Eingriffen in das Grundrecht der Freiheit der Person nicht allein stehen, sondern fachkundig beraten und begleitet werden. Der Verfahrenspfleger ist daher vom Gericht im selben Umfang wie der Betroffene an den Verfahrenshandlungen zu beteiligen. Dies gebietet es zumindest dann, wenn das Betreuungsgericht bereits vor der Anhörung des Betroffenen die Erforderlichkeit einer Verfahrenspflegerbestellung erkennen kann, in Unterbringungssachen also regelmäßig, den Verfahrenspfleger schon vor der abschließenden Anhörung des Betroffenen zu bestellen. Das Betreuungsgericht muss durch die rechtzeitige Bestellung eines Verfahrenspflegers und dessen Benachrichtigung vom Anhörungstermin sicherstellen, dass dieser an der Anhörung des Betroffenen teilnehmen kann. Außerdem steht dem Verfahrenspfleger ein eigenes Anhörungsrecht zu. Erfolgt die Anhörung dennoch ohne die Möglichkeit einer Beteiligung des Verfahrenspflegers, ist sie verfahrensfehlerhaft und verletzt den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschluss vom 30. September 2020 ­ XII ZB 327/20 - FamRZ 2021, 144 Rn. 8 mwN).

[9] bb) Das Amtsgericht, das ersichtlich die Bestellung eines Verfahrenspflegers für erforderlich gehalten hat, wie dem Verlängerungsbeschluss zu entnehmen ist, hat ihn nicht zu dem Anhörungstermin geladen. Im Termin anwesend war neben dem Richter nur die Betroffene.

[10] b) Hinzu kommt, dass - wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt - die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen am 8. April 2021 auch deshalb verfahrensfehlerhaft gewesen ist, weil ihr vor der Anhörung das Sachverständigengutachten nicht überlassen worden ist.

[11] aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden. Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 8 mwN).

[12] bb) Auch diesen Anforderungen wird das Verfahren des Amtsgerichts nicht gerecht.

[13] Ausweislich der Gerichtsakten hat das Amtsgericht das von dem Sachverständigen erstattete schriftliche Gutachten erst nach der Anhörung vom 8. April 2021 Mitte April 2021 der Betroffenen übersandt. Auch sonst lässt sich der Gerichtsakte nicht entnehmen, dass vor dem Anhörungstermin eine Bekanntgabe des Gutachtens an die Betroffene erfolgt wäre. Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG hat der Sachverständige in seinem Gutachten ausdrücklich verneint.

[14] Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht - wie geschehen - von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung der Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihr das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin am 8. April 2021 überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte diesen Mangel durch die erneute Anhörung der Betroffenen beheben müssen.

[15] 3. Die Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

[16] Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 18 mwN).

[17] Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung der Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt ein solcher Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung in Anwesenheit des Verfahrenspflegers gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 30. September 2020 ­ XII ZB 327/20 ­ FamRZ 2021, 144 Rn. 8 mwN).

[18] Wurde in einer - wie hier - erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht vor der Anhörung bekannt gegeben, ist von einer Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör auszugehen. Dieser Verfahrensfehler ist ebenfalls so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil er einer Verwertung des gemäß § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 19 mwN).

[19] 4. Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten - Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (st. Rspr. des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 2. Dezember 2020 ­ XII ZB 291/20 ­ FamRZ 2021, 462 Rn. 21 mwN).

[20] Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Guhling Klinkhammer Schilling

Günter Nedden-Boeger

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