BGH, Beschluss vom 14. Januar 2020 - VI ZR 97/19

05.03.2020

BUNDESGERICHTSHOF

vom

14. Januar 2020

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 286 Abs. 1 (E), § 403; LuftVG § 45 Abs. 2


Beruft sich der Gegner eines Anspruchs aus § 45 Abs. 1 LuftVG auf das Eingreifen der Haftungsbeschränkung aus § 45 Abs. 2 LuftVG, kann ihm nicht verwehrt werden, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die er kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann. Der Anspruchsgegner ist deshalb grundsätzlich nicht gehindert, den von ihm nur vermuteten technischen Defekt zu behaupten und unter Sachverständigenbeweis zu stellen. Darin liegt weder eine Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht noch ein unzulässiger Ausforschungsbeweis.


BGH, Beschluss vom 14. Januar 2020 - VI ZR 97/19 - OLG Hamm, LG Arnsberg


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Januar 2020 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler sowie die Richter Dr. Klein und Böhm

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird das Urteil des 27. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 22. Januar 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 410.000 €

Gründe:

[1] I. Die Klägerin begehrt den Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach einem Flugzeugabsturz, bei dem sie schwer verletzt wurde. Der Beklagte ist der Sohn und Alleinerbe des bei dem Absturz tödlich verunglückten Piloten (im Folgenden: Pilot).

[2] Der Vater der Klägerin vereinbarte im August 2013 mit dem Piloten, dass dieser die Familie der Klägerin von einem Urlaubsaufenthalt auf der Insel Langeoog zurück auf das Festland nach A. fliegen sollte. Als Gegenleistung war die Zahlung von 600 EUR bei minutengenauer Abrechnung vereinbart. Am 27. August 2013 flog der Pilot nach Langeoog, nahm dort die damals ein Jahr und vier Monate alte Klägerin sowie sechs weitere Mitglieder ihrer Familie an Bord und flog zurück. Kurz vor A. stürzte das Flugzeug aus streitiger Ursache ab. Bei dem Absturz verstarben neben dem Piloten die Mutter, die Großmutter, ein Bruder und ein Vetter der Klägerin; die Klägerin und zwei weitere Kinder überlebten. Die Klägerin erlitt schwere Verletzungen. Sie musste in der Folgezeit wiederholt stationär behandelt werden; die Spätfolgen sind noch nicht vollständig absehbar.

[3] Das Landgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, der Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 EUR zugesprochen und die Einstandspflicht des Beklagten für zukünftige immaterielle und materielle Schäden aus dem Unfall festgestellt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht - unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung - das Urteil insoweit abgeändert, als es dem Beklagten die Beschränkung der Haftung auf den Nachlass des Erblassers vorbehalten hat. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

[4] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.

[5] 1. Nach Auffassung des Berufungsgerichts haftet der Beklagte als Erbe seines Vaters (§§ 1922, 1967 BGB) unbegrenzt aus § 45 Abs. 1 LuftVG. Der Pilot habe nicht allein aus Gefälligkeit gehandelt, sondern als Luftfrachtführer eine rechtsgeschäftliche Beförderung im Sinne dieser Vorschrift vorgenommen. Zugunsten der Klägerin gälten die Grundsätze über den Vertrag zugunsten Dritter. Die erforderliche verkehrstypische Gefahr habe sich unstreitig verwirklicht. Der Beklagte habe den möglichen Entlastungsbeweis nach § 45 Abs. 2 LuftVG (Haftungsbeschränkung auf 113.100 Rechnungseinheiten pro Fluggast, soweit der Schaden nicht durch rechtswidriges und schuldhaftes Handeln oder Unterlassen des Luftfrachtführers oder seiner Leute verursacht wurde) nicht geführt. Eine Beweisaufnahme hierzu sei nicht veranlasst. Für die vom Beklagten begehrte Einholung eines Sachverständigengutachtens fehle es an hinreichenden Anknüpfungstatsachen. Dies gelte auch für die Behauptung, es habe ein Defekt der Main-Fuel-Pumpe oder des Triebwerks vorgelegen. Da der Beklagte diese Behauptung "ins Blaue hinein" aufgestellt habe, komme es auch nicht darauf an, ob es sich bei dem nach Angaben des Beklagten überraschend aufgefundenen Motor um den Motor der verunglückten Maschine handele.

[6] 2. Mit diesen Ausführungen hat das Berufungsgericht den Beklagten in entscheidungserheblicher Weise in seinem aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das Berufungsgericht hat die an eine hinreichende Substantiierung des dem Beklagten obliegenden Entlastungsbeweises nach § 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 LuftVG zu stellenden Anforderungen überspannt und den vom Beklagten angebotenen Sachverständigenbeweis zu Unrecht nicht erhoben.

[7] a) Nach den Feststellungen des Landgerichts war die Unfallursache unklar und konnte in Folge der Entsorgung des Flugzeugwracks nicht mehr aufgeklärt werden. Der Beklagte zeigt mit der Beschwerdebegründung Berufungsvortrag auf, wonach er erst während des Berufungsverfahrens aus der Einstellungsnachricht der Staatsanwaltschaft vom 4. November 2018 erfahren habe, dass der Flugzeugmotor nicht entsorgt worden sei, sondern sich bei einem Abschleppunternehmen befände. Zugleich hatte er vorgetragen, allein ein technischer Defekt am Motor und/oder an der Benzinzufuhr habe den Absturz verursacht, allein wegen eines technischen Mangels habe der Motor ausgesetzt, in der unmittelbaren Folge habe der Pilot keine Chance zur Vermeidung des Absturzes mehr gehabt. Zum Beweis dieser Behauptung hatte der Beklagte die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt, die wegen des Auffindens des Motors jetzt möglich sei.

[8] b) Gemäß § 403 ZPO hat die Partei, die die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen will, die zu begutachtenden Punkte zu bezeichnen. Dagegen verlangt das Gesetz nicht, dass der Beweisführer sich auch darüber äußert, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in die Sachkenntnis des Sachverständigen gestellten Behauptung habe. Wie weit eine Partei ihren Sachvortrag substantiieren muss, hängt von ihrem Kenntnisstand ab (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 1988 - IVa ZR 67/87, NJW-RR 1988, 1529, juris Rn. 8). Zur Ermittlung von Umständen, die ihr nicht bekannt sind, ist eine Partei im Zivilprozess grundsätzlich nicht verpflichtet (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - IV ZR 319/16, VersR 2018, 890 Rn. 17 mwN). Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats genügt eine Partei vielmehr grundsätzlich ihrer Darlegungslast, wenn sie Tatsachen anführt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen (vgl. Senatsbeschlüsse vom 28. Mai 2019 - VI ZR 328/18, NJW 2019, 3236 Rn. 10; vom 18. März 2014 - VI ZR 128/13, juris Rn. 6). Darin kann weder eine Verletzung der prozessualen Wahrheitspflicht noch ein unzulässiger Ausforschungsbeweis gesehen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 15. Oktober 2019 - VI ZR 377/18, juris Rn. 9; Urteil vom 10. Januar 1995 - VI ZR 31/94, NJW 1995, 1160, juris Rn. 17; BGH, Urteil vom 13. Juli 1988 - IVa ZR 67/87, NJW-RR 1988, 1529, juris Rn. 7; jeweils mwN). Unzulässig wird ein solches prozessuales Vorgehen erst dort, wo die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt. Anerkanntermaßen ist jedoch bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte rechtfertigen können (vgl. Senat, Beschluss vom 15. Oktober 2019 - VI ZR 377/18, juris Rn. 10; Urteil vom 25. April 1999 - VI ZR 178/94, NJW 1995, 2111, juris Rn. 13; BGH, Urteile vom 7. Februar 2019 - III ZR 498/16, NJW 2019, 1137 Rn. 37; vom 8. Mai 2012 - XI ZR 262/10, BGHZ 193, 159, 173 Rn. 40; jeweils mwN).

[9] Das Risiko der Nichterweislichkeit der Entlastungsvoraussetzungen des § 45 Abs. 2 LuftVG verbleibt freilich beim Beklagten.

[10] c) Bei dieser Sachlage durfte dem Beklagten nicht verwehrt werden, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Punkte zu verlangen, über die er kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann. Der Beklagte war daher nicht gehindert, den von ihm nur vermuteten unverschuldeten Motorschaden zu behaupten und unter Sachverständigenbeweis zu stellen. Von einem Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte für den vom Beklagten behaupteten technischen Defekt kann schon nach den im Berufungsurteil referierten Passagen aus dem vom Beklagten vorgelegten luftfahrtsachverständigen Privatgutachten nicht ausgegangen werden.

[11] d) Der Gehörsverstoß ist erheblich. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich das Berufungsgericht nach Erhebung des angebotenen Sachverständigenbeweises eine Überzeugung (§ 286 ZPO) davon gebildet hätte, dass der Absturz nicht durch ein rechtswidriges und schuldhaftes Handeln oder Unterlassen des Piloten oder seiner Leute (§ 45 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 LuftVG), sondern allein durch einen technischen Defekt verursacht wurde.

[12] Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts steht dieser Möglichkeit auch nicht entgegen, dass der Ablauf des Fluges sowie die Zeitpunkte und die Umstände des Auftretens von Problemen, des Erkennens derselben durch den Piloten und dessen sich hieran anschließende Maßnahmen und Handlungen nicht bekannt seien. Denn es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die sachverständige Untersuchung des Motors ergibt, dass eine den Absturz vermeidende Handlungsoption für den Piloten nicht mehr bestand, als die technischen Probleme auftraten.

Seiters von Pentz Oehler

Klein Böhm

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