BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21

06.12.2022

BUNDESGERICHTSHOF

vom

19. Oktober 2022

in der Familiensache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO §§ 85 Abs. 2, 233 Fc, Fd; FamFG § 117 Abs. 1 und 5


a) Werden einem Rechtsanwalt die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung vorgelegt, hat er den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen eigenverantwortlich zu prüfen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 19. Februar 2020 ­ XII ZB 458/19 ­ FamRZ 2020, 936).

b) Ein Rechtsanwalt muss allgemeine Vorkehrungen dafür treffen, dass das zur Wahrung von Fristen Erforderliche auch dann unternommen wird, wenn er unvorhergesehen ausfällt (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 31. Juli 2019 ­ XII ZB 36/19 - FamRZ 2019, 1800).


BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2022 - XII ZB 113/21 - OLG München, AG Kaufbeuren


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 19. Oktober 2022 durch die Richter Guhling, Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Dr. Botur

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 4. Zivilsenats - Familiensenat - des Oberlandesgerichts München vom 22. Februar 2021 wird auf Kosten der Antragstellerin verworfen.

Wert: 62.500 € (§§ 40 Abs. 1 und 2, 51 Abs. 1 und 2 FamGKG; vgl. Senatsbeschluss vom 17. Oktober 2007 ­ XII ZB 99/07 ­ juris Rn. 5 f.)

Gründe:

[1] I. Die Antragstellerin wendet sich gegen die Versagung der begehrten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Verwerfung ihrer Beschwerde gegen die vom Amtsgericht ausgesprochene Zurückweisung ihres Antrags auf nachehelichen Unterhalt.

[2] Gegen den ihr am 19. November 2020 zugestellten amtsgerichtlichen Beschluss hat die Antragstellerin durch ihren Verfahrensbevollmächtigten am 1. Dezember 2020 Beschwerde eingelegt. Ihren am 20. Januar 2021 eingegangenen Antrag auf Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist hat das Oberlandesgericht am 21. Januar 2021 abgelehnt und zugleich auf die beabsichtigte Verwerfung der Beschwerde hingewiesen. Die Antragstellerin hat mit einem am 4. Februar 2021 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und mit weiterem Schriftsatz vom selben Tag die Beschwerdebegründung nachgeholt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat sie ausgeführt, aufgrund einer außergewöhnlichen Belastungssituation habe die ansonsten stets zuverlässige Kanzleiangestellte nach Zustellung des Beschlusses die Begründungsfrist im elektronischen Fristenkalender fehlerhaft auf den 21. Januar 2021 eingetragen. Wegen seiner bereits seit November 2020 bestehenden Erkrankung an COVID-19 sei der Verfahrensbevollmächtigte zu Hause geblieben und habe dort die ihm überbrachte Beschwerdeschrift unterzeichnet. Am 15. Januar 2021 sei er telefonisch vom Ablauf der für diesen Tag notierten Vorfrist und der am 21. Januar 2021 eingetragenen Begründungsfrist unterrichtet worden. Aus gesundheitlichen Gründen habe er die Kanzlei jedoch erst am 20. Januar 2021 wieder betreten, um einen Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist zu stellen.

[3] Das Oberlandesgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und zugleich die Beschwerde verworfen. Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Rechtsbeschwerde.

[4] II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

[5] Die nach §§ 112 Nr. 1, 117 Abs. 1 Satz 4 FamFG, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde verletzt die angefochtene Entscheidung weder den Anspruch der Antragstellerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) noch ihr Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG).

[6] 1. Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Beschwerde sei als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht innerhalb der am 19. Januar 2021 abgelaufenen Begründungsfrist begründet worden sei.

[7] Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist könne nicht gewährt werden, weil der Antragstellerin insoweit ein Verschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten zuzurechnen sei. Dieser habe weder in seiner allgemeinen Arbeitsanweisung noch in seiner konkreten Einzelfallanweisung Vorkehrungen getroffen, die bei Eingaben in den elektronischen Fristenkalender eine Kontrolle durch einen Ausdruck der eingegebenen Einzelvorgänge oder eines Fehlerprotokolls vorsähen. Entscheidend sei jedoch, dass sich der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin die Handakte, in der die Beschwerdebegründungsfrist notiert gewesen sei, nicht anlässlich der Unterzeichnung der Beschwerdeschrift habe vorlegen lassen. Hierdurch habe er sich der Möglichkeit beraubt, auf die falsch eingetragene Beschwerdebegründungsfrist aufmerksam zu werden. Der Verfahrensbevollmächtigte sei auch nicht durch seine Erkrankung entschuldigt. Denn diese sei nicht kurzfristig vor Unterzeichnung der Beschwerdeschrift oder vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist aufgetreten. Vielmehr habe der Verfahrensbevollmächtigte schon seit Anfang November 2020 von der Erkrankung gewusst und damit ausreichend Gelegenheit gehabt, für eine Vertretung zu sorgen.

[8] 2. Diese Ausführungen halten sich im Rahmen der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

[9] a) Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde zu Recht gemäß §§ 112 Nr. 1, 117 Abs. 1 Satz 4 FamFG, 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig verworfen, weil die Antragstellerin diese nicht innerhalb der Frist des § 117 Abs. 1 Satz 3 FamFG begründet hat. Hiergegen erinnert auch die Rechtsbeschwerde nichts.

[10] b) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde sind die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfüllt. Denn die Antragstellerin hat die Beschwerdebegründungsfrist nicht unverschuldet im Sinne von §§ 117 Abs. 5 FamFG, 233 Satz 1 ZPO versäumt. Vielmehr beruht das Versäumnis auf einem Verschulden ihres Verfahrensbevollmächtigten, welches sie sich nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss.

[11] aa) Die Sorgfaltspflicht in Fristsachen verlangt von einem Rechtsanwalt alles ihm Zumutbare, um die Wahrung von Rechtsmittelfristen zu gewährleisten. Dabei kann die Berechnung und Notierung von Fristen einer gut ausgebildeten, als zuverlässig erprobten und sorgfältig überwachten Bürokraft übertragen werden. Dann hat der Rechtsanwalt aber durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass die Fristen zuverlässig festgehalten und kontrolliert werden. Zu den zur Ermöglichung einer Gegenkontrolle erforderlichen Vorkehrungen im Rahmen der Fristenkontrolle gehört insbesondere, dass die Rechtsmittelfristen in der Handakte notiert werden und die Handakte durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lässt, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind (Senatsbeschlüsse vom 9. Juli 2014 ­ XII ZB 709/13 ­ FamRZ 2014, 1624 Rn. 12 und vom 19. Februar 2020 ­ XII ZB 458/19 ­ FamRZ 2020, 936 Rn. 12 mwN).

[12] Darüber hinaus hat ein Rechtsanwalt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Ablauf von Rechtsmittelbegründungsfristen immer dann eigenverantwortlich zu prüfen, wenn ihm die Akten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Verfahrenshandlung, insbesondere zu deren Bearbeitung, vorgelegt werden. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde muss der Rechtsanwalt in diesem Fall auch alle weiteren unerledigten Fristen einschließlich ihrer Notierung in den Handakten prüfen (Senatsbeschluss vom 19. Februar 2020 ­ XII ZB 458/19 ­ FamRZ 2020, 936 Rn. 13 mwN; vgl. auch BGH Beschluss vom 23. Juni 2020 ­ VI ZB 63/19 ­ NJW 2020, 2641 Rn. 10 mwN). Für die Beschwerdebegründungsfrist nach § 117 Abs. 1 Satz 3 FamFG ist ihm dies schon ab der Zustellung des Beschlusses möglich und zumutbar, weil die zweimonatige Begründungsfrist mit der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses beginnt. So ist ihm die Fristenüberprüfung insbesondere bei der Fristvorlage zur Wahrung der Beschwerdefrist möglich. Dabei darf der Anwalt sich allerdings grundsätzlich auf die Prüfung der Vermerke in der Handakte beschränken, sofern sich keine Zweifel an deren Richtigkeit aufdrängen (Senatsbeschluss vom 19. Februar 2020 ­ XII ZB 458/19 ­ FamRZ 2020, 936 Rn. 13 mwN). Diese anwaltliche Prüfungspflicht besteht auch dann, wenn die Handakte nicht zugleich zur Bearbeitung mit vorgelegt worden ist, so dass der Rechtsanwalt in diesen Fällen die Vorlage der Handakte zur Fristenkontrolle zu veranlassen hat (BGH Beschluss vom 23. Juni 2020 ­ VI ZB 63/19 - NJW 2020, 2641 Rn. 10 mwN).

[13] Die Einhaltung einer Rechtsmittelbegründungsfrist ist nicht nur durch die Eintragung der Hauptfrist, sondern zusätzlich durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Dezember 2006 ­ XII ZB 99/06 - FamRZ 2007, 275, 276 mwN). Zwar muss der Rechtsanwalt die auf eine Vorfrist vorgelegte Sache nicht stets sofort bearbeiten, weil er grundsätzlich frei darin ist, ob er die Begründungsfrist vollständig ausnutzen möchte. Der Rechtsanwalt kann die Handakte deswegen auch zur Wiedervorlage am Tag des Fristablaufs zurückgeben. Indes muss er sich zuvor sorgfältig davon überzeugen, dass die Rechtsmittelbegründung noch rechtzeitig innerhalb der Frist bei Gericht eingereicht werden kann (Senatsbeschluss vom 15. August 2007 ­ XII ZB 82/07 ­ NJW­RR 2008, 76 Rn. 15 mwN).

[14] bb) Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Annahme des Oberlandesgerichts, der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin habe es pflichtwidrig versäumt, bei Einlegung der Beschwerde die Richtigkeit der Frist zur Beschwerdebegründung unter Beiziehung der Handakte zu prüfen, frei von Rechtsfehlern. In der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat die Antragstellerin hierzu lediglich ausgeführt, ihr Verfahrensbevollmächtigter habe sich die von der Kanzleiangestellten gefertigte Beschwerdeschrift nach Hause bringen lassen und sie dort nach Durchsicht unterzeichnet. Zu einer darüber hinausgehenden Prüfung verhält sich die Begründung nicht. Hätte sich der Verfahrensbevollmächtigte die Handakte vorlegen lassen und anhand des Zustellungsdatums eigenverantwortlich die Berechnung der notierten Beschwerdebegründungsfrist überprüft, hätte er das Versehen bei deren Eintragung bemerkt und korrigiert.

[15] Ohne dass es noch entscheidend darauf ankommt, tritt hinzu, dass der Verfahrensbevollmächtigte nach Kenntnisnahme von dem Ablauf der Vorfrist zur Beschwerdebegründung erneut eine Einsicht in die Handakte unterlassen und sich damit ein zweites Mal der Möglichkeit zur Kontrolle der Begründungsfrist begeben hat.

[16] cc) Der Annahme eines Verschuldens steht auch nicht der Vortrag der Antragstellerin zur Erkrankung ihres Verfahrensbevollmächtigten entgegen.

[17] Ein Rechtsanwalt muss allgemeine Vorkehrungen dafür treffen, dass das zur Wahrung von Fristen Erforderliche auch dann unternommen wird, wenn er unvorhergesehen ausfällt (Senatsbeschluss vom 31. Juli 2019 ­ XII ZB 36/19 - FamRZ 2019, 1800 Rn. 11 mwN). Auf einen krankheitsbedingten Ausfall muss sich der Rechtsanwalt aber nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten, wenn er eine solche Situation vorhersehen kann. Wird er dagegen unvorhergesehen krank, gereicht ihm eine unterbleibende Einschaltung eines Vertreters nicht zum Verschulden, wenn ihm diese weder möglich noch zumutbar war (Senatsbeschluss vom 21. August 2019 ­ XII ZB 93/19 ­ FamRZ 2019, 1880 Rn. 6 mwN).

[18] Daran gemessen hat die Antragstellerin die Voraussetzungen eines fehlenden Verschuldens nicht dargetan. Soweit sie geltend macht, ihr Verfahrensbevollmächtigter habe die Akten wegen seiner Erkrankung im Zeitraum seit Anfang November 2020 bis zum Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist nicht einsehen können, war ihm jedenfalls ab seiner erstmaligen, zunächst bis zum 14. Dezember 2020 reichenden Krankschreibung vom 26. November 2020 ­ also deutlich vor Ablauf der hier zu beachtenden Rechtsmittelfristen ­ die Möglichkeit eines mehrere Wochen andauernden Ausfalls bekannt. Warum dennoch die Bestellung eines Vertreters unterblieb (vgl. § 53 Abs. 1 BRAO), ist dem Wiedereinsetzungsantrag nicht zu entnehmen.

[19] dd) Nach alledem ist nicht mehr erheblich, ob die Fristversäumnis zusätzlich auf ein Organisationsverschulden bei der Verwendung eines elektronischen Fristenkalenders zurückzuführen ist. Gleiches gilt für die von der Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, das Oberlandesgericht habe sich nicht mit dem Vortrag der Antragstellerin auseinandergesetzt, wonach ihr Verfahrensbevollmächtigter der Kanzleiangestellten am 19. November 2020 die telefonische Einzelanweisung erteilt habe, den Ablauf der Einlegungsfrist auf den 19. Dezember 2020 und den Ablauf der Begründungsfrist auf den 19. Januar 2021 zu notieren.

[20] 3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen, § 74 Abs. 7 FamFG.

Guhling Schilling Günter

Nedden-Boeger Botur

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