BGH, Beschluss vom 2. August 2023 - XII ZB 75/23
BUNDESGERICHTSHOF
vom
2. August 2023
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
FamFG §§ 34 Abs. 3, 68 Abs. 3, 278 Abs. 1
Bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn alle zwanglosen Möglichkeiten, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, vergeblich ausgeschöpft sind und die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 3. November 2021 XII ZB 215/21 FamRZ 2022, 379).
BGH, Beschluss vom 2. August 2023 - XII ZB 75/23 - LG Saarbrücken, AG St. Wendel
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. August 2023 durch den Vorsitzenden Richter Guhling, die Richter Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger und die Richterinnen Dr. Krüger und Dr. Pernice
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 13. Februar 2023 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Eine Festsetzung des Beschwerdewerts (§ 36 Abs. 3 GNotKG) ist nicht veranlasst.
Gründe:
[1] I. Die Betroffene wendet sich gegen die Einrichtung einer Betreuung für sie.
[2] Die Betroffene wird von ihrem geschiedenen Ehemann in einem familiengerichtlichen Verfahren auf Nutzungsentschädigung in Anspruch genommen. Nachdem in diesem Verfahren die Verfahrensfähigkeit der Betroffenen zweifelhaft geworden war, regte die Verfahrensbevollmächtigte des geschiedenen Ehemannes die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung an, um das Verfahren weiterführen zu können. Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und Anhörung der Betroffenen die Beteiligte zu 1 zur Betreuerin mit dem Aufgabenkreis "Rechtsangelegenheiten und Verfahren im Zusammenhang mit dem Scheidungsverfahren mit dem Ex-Ehemann der Betroffenen" bestellt. Nachdem die Betroffene Beschwerde gegen diese Entscheidung eingelegt hatte, hat das Landgericht ein weiteres Sachverständigengutachten eingeholt und die Betroffene mehrfach vergeblich zur Anhörung geladen. Schließlich hat es die Beschwerde ohne Anhörung der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde.
[3] II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
[4] 1. Das Landgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers mit dem vom Amtsgericht festgelegten Aufgabenkreis lägen vor. Die Betroffene leide unter einer wahnhaften Störung sowie einer Zyklothymia. Daraus folge eine Geschäftsunfähigkeit der Betroffenen für alle Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Scheidungsverfahren. Die wahnhafte Störung des Denkens führe zur Verkennung der Realität und zur Minderung der Kritikfähigkeit und erlaube keine freie Willensbildung mehr in den wahnhaft besetzten Themenbereichen. Dass die Betroffene der Betreuung widersprochen habe, sei unschädlich. Nach den Feststellungen der Sachverständigen sei die Betroffene aufgrund der wahnhaften Störung nicht mehr in der Lage, ihren Willen frei und unbeeinflusst von den krankheitsbedingten Beeinträchtigungen zu bilden und nach den gewonnenen Erkenntnissen zu handeln. Daher sei ihr entgegenstehender Wille unbeachtlich.
[5] Von der Bestimmung eines erneuten Anhörungstermins sei abgesehen worden. Die Betroffene habe durch ihr bisheriges Verhalten zu erkennen gegeben, dass sie auch einer erneuten Ladung nicht Folge leisten werde. Eine zwangsweise Vorführung zur Anhörung erscheine unverhältnismäßig.
[6] 2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass das Beschwerdegericht nicht von einer erneuten persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen durfte.
[7] a) Gemäß § 278 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der (erstmaligen) Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Allerdings darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG von der persönlichen Anhörung absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom 6. Juli 2022 XII ZB 551/21 - MDR 2022, 1433 Rn. 4 mwN). Zieht das Beschwerdegericht für seine Entscheidung mit einem neuen oder ergänzenden Sachverständigengutachten eine neue Tatsachengrundlage heran, die nach der amtsgerichtlichen Entscheidung datiert, so sind von einer erneuten Anhörung des Betroffenen regelmäßig neue Erkenntnisse iSd § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG zu erwarten, und es ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats schon deshalb eine erneute Anhörung im Beschwerdeverfahren geboten (vgl. Senatsbeschlüsse vom 6. Juli 2022 XII ZB 551/21 MDR 2022, 1433 Rn. 6 und vom 12. Mai 2021 XII ZB 427/20 FamRZ 2021, 1312 Rn. 11 mwN).
[8] b) Im vorliegenden Fall hat das Beschwerdegericht seine Entscheidung außer auf das vom Amtsgericht eingeholte Sachverständigengutachten auch auf das von ihm selbst eingeholte Gutachten der Sachverständigen Dr. H. gestützt. Deshalb war eine erneute persönliche Anhörung der Betroffenen im Beschwerdeverfahren erforderlich, wie auch das Beschwerdegericht im Ausgangspunkt zutreffend erkannt hat.
[9] c) Das Beschwerdegericht konnte seine Entscheidung, von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen abzusehen, nicht mit Erfolg auf § 34 Abs. 3 FamFG stützen.
[10] aa) Da die Anhörung in Betreuungssachen nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung dient, darf das Betreuungsgericht, wenn der Betroffene zu einem festgesetzten Anhörungstermin nicht erscheint, grundsätzlich nur dann nach § 34 Abs. 3 FamFG verfahren, wenn und soweit die gemäß § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen (Senatsbeschluss vom 3. November 2021 XII ZB 215/21 FamRZ 2022, 379 Rn. 13 mwN).
[11] bb) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht. Das Beschwerdegericht hat nach dem teilweise unentschuldigten Fernbleiben der Betroffenen bereits keinen Versuch unternommen, diese nach § 278 Abs. 1 Satz 3 FamFG in ihrer üblichen Umgebung anzuhören.
[12] Zudem lassen sich dem angefochtenen Beschluss keine ausreichenden Erwägungen dazu entnehmen, dass eine Vorführung der Betroffenen nach § 278 Abs. 5 bis 7 FamFG unverhältnismäßig und mithin unzulässig gewesen wäre.
[13] 3. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist gemäß § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Landgericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist.
[14] Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Guhling Günter Nedden-Boeger
Krüger Pernice