BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2020 - VI ZR 577/19

07.12.2020

BUNDESGERICHTSHOF

vom

20. Oktober 2020

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 9


Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (hier: zu Unrecht unterbliebene Zeugenvernehmung, weil die Zeugen den "eigentlichen Vorgang" nicht wahrgenommen hätten).


BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2020 - VI ZR 577/19 - OLG Hamburg, LG Hamburg


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Roloff und die Richter Dr. Klein und Dr. Allgayer

beschlossen:

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 15. November 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 25.000 €

Gründe:

[1] I. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen einer Presseberichterstattung auf Unterlassung und die Zahlung einer Geldentschädigung in Anspruch.

[2] Die Klägerin ist die Mutter von S. S schlug im November 2014 die Studentin T, die in der Folge an schweren Schädel- und Hirnverletzungen starb. Am 16. Juni 2015 wurde S wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Über den Prozess wurde bundesweit berichtet. Nach der Urteilverkündung ging die Klägerin mit anderen Personen an einer links von dem Gerichtseingang errichteten und aus Kerzen und Fotos bestehenden Gedenkstelle für T vorbei. Streitig ist, ob sie dabei auf ein Foto der Getöteten spuckte.

[3] Im Verlag der Beklagten erscheint die Zeitung Bild. Auf der Titelseite der Ausgabe vom 17. Juni 2015 hieß es: "Mutter des Schlägers spuckt auf [T]-Foto!". Im Innenteil der Regionalausgabe Frankfurt berichtete die Beklagte ganzseitig unter der Überschrift "Drei Jahre Knast für [T]-Schläger" und zeigte ein großformatiges Bild der Klägerin mit der Bildnebenschrift "Unfassbar! Die Mutter des Verurteilten spuckte vor dem Gericht auf ein Foto der toten [T]."

[4] Am 14. Juli 2015 druckte die Beklagte eine von der Klägerin erstrittene Gegendarstellung auf der Titelseite mit dem Zusatz ab: "Wir bleiben bei unserer Darstellung. Mehr auf Seite 6". Im Innenteil veröffentlichte die Beklagte eine Berichterstattung, in der es unter anderem heißt: "Dem Gericht legte [Klägerin] eine eidesstattliche Versicherung vor, nach der sie nicht gespuckt habe. Wir glauben, dass [Klägerin] lügt (...)." Zitiert wurden drei Zeuginnen, die bestätigten, dass die Klägerin gespuckt habe.

[5] Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Unterlassung der Aussage "Mutter des Schlägers spuckt auf [T]-Foto" wie geschehen in der Bild vom 17. Juni 2015 sowie auf Geldentschädigung in Höhe von mindestens 20.000 € und Erstattung vorgerichtlicher Kosten der Rechtsverfolgung in Anspruch. Das Landgericht hat die Beklagte nach Vernehmung von sechs Zeugen zur Unterlassung und zur Zahlung einer Geldentschädigung in Höhe von 10.000 € sowie Zahlung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten verurteilt; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

[6] II. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

[7] 1. Das Berufungsgericht hat - soweit hier erheblich - zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Klägerin stehe der geltend gemachte Unterlassungsanspruch zu. Bei der angegriffenen Aussage handele es sich um eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheit die Beklagte nicht habe beweisen können. Die Beweisaufnahme habe ein non liquet ergeben. Der Senat sehe auch keine Veranlassung, die erstinstanzlich nicht vernommenen Zeugen E, H, V, G, H und R nunmehr zu vernehmen. Nach dem eigenen Vorbringen der jeweils benennenden Partei hätten diese Zeugen den eigentlichen Vorgang selbst nicht wahrgenommen. Selbst wenn man unterstelle, dass die Zeugen das aussagten, was die jeweilige Partei in ihr Wissen gestellt habe, wäre das also nicht geeignet, die Behauptungen der jeweiligen Partei zu beweisen. Daher erscheine es völlig ausgeschlossen, dass deren Vernehmung sachdienliche Erkenntnisse erbringen könne.

[8] 2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht die von der Beklagten benannten Zeugen E, H, V und G nicht vernommen und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG angenommen hat, dass der Wahrheitsbeweis in Bezug auf die von der Klägerin angegriffene Aussage nicht geführt sei.

[9] a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (Senat, Beschlüsse vom 25. September 2018 - VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 7; vom 10. April 2018 - VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 7; jeweils mwN).

[10] b) So liegt es im Streitfall. Mit der Begründung des Berufungsgerichts durfte die Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen nicht unterbleiben.

[11] aa) Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten. Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt (Senat, Beschluss vom 10. April 2018 - VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom 12. Dezember 2018 - XII ZR 99/17, NJW-RR 2019, 380; vom 21. November 2019 - V ZR 101/19, NZM 2020, 376 Rn. 10 jeweils mwN).

[12] bb) Die Erwägungen des Berufungsgerichts tragen nicht dessen Annahme, es erscheine völlig ausgeschlossen, dass die Vernehmung der Zeugen sachdienliche Erkenntnisse erbringen könne. Das Berufungsgericht hat darauf abgestellt, dass die Zeugen nach dem Vortrag der Beklagten "den eigentlichen Vorgang selbst nicht wahrgenommen" hätten und die Zeugen selbst bei Unterstellung der in ihr Wissen gestellten Aussagen also nicht geeignet wären, die Behauptungen zu beweisen. Damit hat das Berufungsgericht die Bedeutung des Vortrags der Beklagten als unter Beweis gestellte Indiztatsachen verkannt und sich so eine entsprechende Würdigung versperrt.

[13] Indiztatsachen sind erhebliche Tatsachen, wenn der Indizienbeweis schlüssig ist, mithin die Gesamtheit aller vorgetragenen Indizien den Richter von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen könnte (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 17. Februar 1970 - III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 261; vom 2. Mai 1990 - IV ZR 310/88, NJW-RR 1990, 1276, juris Rn. 7). Indizien für die Wahrheit der Behauptung, die Klägerin habe gespuckt, sind beispielsweise die behaupteten Wahrnehmungen der Zeugen in Bezug auf die Reaktion der Umstehenden. So ist vorgetragen, dass der Zeuge E unmittelbar nach dem Vorfall Kontakt zu den weiteren Zeuginnen hatte, die ihm gesagt haben sollen, die Klägerin habe gespuckt. Die Zeugen H und V nahmen nach dem Vortrag die Reaktion der Umstehenden wahr, nämlich, dass diese die Klägerin verfolgen wollten und äußerten, die Klägerin habe gespuckt. Der Zeuge G erfuhr nach der Behauptung der Beklagten von dem Zeugen E von dem Vorfall, begab sich zur Gedenkstelle und nahm die Umstehenden wahr, die ihm gezeigt hätten, wo die Klägerin hingespuckt habe. Entsprechendes habe er auch von dem Reporter S erfahren.

[14] Hinzu tritt, dass die Aussagen der Zeugen zu ihren unmittelbaren Wahrnehmungen (beispielsweise mit wem die Klägerin sich der Gedenkstelle genähert hat) außerdem geeignet sein können, das Berufungsgericht von der Unwahrheit der Aussagen bereits vernommener Zeugen zu überzeugen. Soweit das Berufungsgericht schließlich zum Vortrag der Beklagten, der Zeuge E habe eine Spuckbewegung der Klägerin wahrgenommen, ausgeführt hat, es könne sein, dass die Bezeichnung der Bewegung der Klägerin nur eine Bewertung des Zeugen E sei, stellt das eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung dar.

[15] 3. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht nach der gebotenen Vernehmung der Zeugen E, H, G und V zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.

[16] 4. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei erneuter Befassung Gelegenheit haben, auch das weitere Vorbringen der Parteien in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen. Dabei weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht bei seiner neuerlichen Beurteilung den Aussagegehalt des beanstandeten Artikels in Bezug auf die dort aufgestellte Behauptung nach den dafür maßgeblichen Grundsätzen (vgl. nur Senatsurteile vom 13. November 2014 - VI ZR 76/14 BGHZ 203, 239 Rn. 19; vom 12. April 2016 - VI ZR 505/14, VersR 2016, 938 Rn. 11 mwN) zu ermitteln hat. Die Beklagte hat in der Berufung zutreffend darauf hingewiesen, dass die Worte "spuckte auf" nach dem maßgeblichen Verständnis des unbefangenen Durchschnittslesers die Kundgabe von Ver- und Missachtung bedeuten und nicht nur im streng wörtlichen Sinne beinhalten, dass auf dem Foto ein feuchter Auswurf landete. Bei der Beweisaufnahme wird das Berufungsgericht daher in den Blick zu nehmen haben, dass es nicht nur auf den von ihm so

bezeichneten "eigentlichen Vorgang" (Spucken mit Auswurf auf das Foto) ankommen dürfte.

Seiters von Pentz Roloff

Klein Allgayer

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