BGH, Beschluss vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20

31.05.2022

BUNDESGERICHTSHOF

vom

22. Februar 2022

in der Abschiebungshaftsache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; FamFG § 427 Abs. 1


Hat das Amtsgericht unter Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens eine Haftanordnung im Hauptsacheverfahren erlassen anstatt wie geboten vorläufig über die Freiheitsentziehung zu entscheiden, muss es - wenn sich in der Folge ein Rechtsanwalt für den Betroffenen meldet - im Abhilfeverfahren eine erneute Anhörung unter Beiziehung des Rechtsanwalts durchführen, um den Verstoß zu heilen.


BGH, Beschluss vom 22. Februar 2022 - XIII ZB 74/20 - LG Osnabrück, AG Meppen


Der XIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Februar 2022 durch den Richter Prof. Dr. Kirchhoff, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt sowie die Richterinnen Dr. Picker und Dr. Vogt-Beheim

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Meppen vom 11. August 2020 und der Beschluss der 11. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück vom 8. September 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Gifhorn auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe:

[1] I. Der Betroffene, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste 2015 nach Deutschland ein. Seinen Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit bestandskräftigem Bescheid als offensichtlich unbegründet ab und drohte ihm die Abschiebung nach Pakistan an. In der Folgezeit wurde die Abschiebung wiederholt, zuletzt bis zum 30. Januar 2020, ausgesetzt. Anschließend war der Betroffene zunächst unbekannten Aufenthalts und wurde am 11. August 2020 vorläufig festgenommen. Von dem auf den gleichen Tag anberaumten Anhörungstermin wurde Rechtsanwalt H., der im Haftantrag der beteiligten Behörde als Verfahrensbevollmächtigter genannt war, telefonisch benachrichtigt. Ferner wurde dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger bestellt.

[2] Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 11. August 2020 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 25. September 2020 angeordnet. Auf den Hinweis in der zuvor erfolgten gerichtlichen Anhörung, er könne jederzeit einen von ihm zu wählenden Rechtsanwalt hinzuziehen, hat der Betroffene erklärt, er wolle nicht erneut von Rechtsanwalt H. vertreten werden. Er wolle "sich einen anderen Anwalt suchen", einen Freund um Rat fragen und die Benennung eines Rechtsanwalts nachholen.

[3] Am 18. August 2020 hat sich Rechtsanwältin B., die mit Rechtsanwalt H. in Bürogemeinschaft tätig ist, für den Betroffenen bestellt, Beschwerde eingelegt, Aussetzung der Haft, Akteneinsicht und die unverzügliche Übersendung des Haftantrags und des Protokolls des Anhörungstermins per Telefax beantragt, und erklärt, nach Eingang der Akten die Beschwerde zu begründen. Die angeforderten Unterlagen hat das Amtsgericht am 21. August 2020 per Telefax und mit dem Hinweis übersandt, dass Einsicht in die Ausländerakte bei der beteiligten Behörde zu beantragen sei. Der Antragsbegründung werde bis zum 31. August 2020 entgegengesehen. Nachdem bis zu diesem Datum die Beschwerde nicht begründet worden war, hat das Amtsgericht der Beschwerde nicht abgeholfen. Das Landgericht hat die Beschwerde am 8. September 2020 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde begehrt der Betroffene die Feststellung, dass ihn die Beschlüsse des Amts- und Landgerichts in seinen Rechten verletzt haben.

[4] II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

[5] 1. Das Beschwerdegericht hat angenommen, die Haftanordnung des Amtsgerichts sei rechtmäßig. Es liege ein zulässiger Haftantrag vor. Zudem sei der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG gegeben.

[6] 2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

[7] a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG über die Beschwerde entschieden hat, weil es die beantragte Akteneinsicht nicht gewährt und die angekündigte Beschwerdebegründung nicht abgewartet hat.

[8] aa) Beantragt der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte und kündigt er an, die Beschwerde anschließend zu begründen, darf das Beschwerdegericht die Beschwerde erst zurückweisen, wenn es die Akteneinsicht gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne zugewartet hat (BGH, Beschlüsse vom 19. Juli 2018 - V ZB 223/17, InfAuslR 2018, 413 Rn. 7 ff.; vom 20. Juli 2021 - XIII ZB 106/19, juris Rn. 7). Dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitenden Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen, welches auch in Abschiebungshaftsachen zu beachten ist, kann dabei durch eine geeignete Verfahrensgestaltung Rechnung getragen werden (BGH, Beschluss vom 19. Juli 2018, aaO Rn. 8).

[9] bb) Das hat das Beschwerdegericht verfahrensfehlerhaft unterlassen. Es hat die Beschwerde zurückgewiesen, ohne zuvor die beantragte Einsicht in die Gerichts- und Ausländerakte gewährt und eine für die Begründung des Rechtsmittels angemessene Zeitspanne abgewartet zu haben.

[10] b) Die Entscheidung des Beschwerdegerichts beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Mit der Rechtsbeschwerde macht der Betroffene geltend, er hätte nach gewährter Akteneinsicht eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gerügt und eingewandt, dass das Amtsgericht wegen der fehlenden anwaltlichen Vertretung nur eine vorläufige Freiheitsentziehung gemäß § 427

FamFG hätte anordnen dürfen. Mit diesem Einwand hätte die Beschwerde Erfolg gehabt.

[11] aa) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8, vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7; vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 21/19, juris Rn. 14). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5; vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 9 f.; vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 28/20, juris Rn. 16). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf diesem Fehler beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7; vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7).

[12] bb) Diesen Maßgaben hat die Verfahrensweise des Amtsgerichts nicht entsprochen.

[13] (1) Zwar hat es den im Haftantrag benannten Bevollmächtigten des Betroffenen von dem Anhörungstermin informiert. Der Bevollmächtigte hat nicht erklärt, an der Anhörung teilnehmen zu wollen. Das Amtsgericht war daher nicht zur Verlegung des Anhörungstermins verpflichtet. Der Verzicht seines Bevollmächtigten auf eine Teilnahme an der Anhörung ist dem Betroffenen gemäß § 11 Satz 5 FamFG, § 85 ZPO zuzurechnen (BGH, Beschluss vom 23. März 2021 - XIII ZB 66/20, juris Rn. 7).

[14] (2) Nachdem der Betroffene aber die Vollmacht seines Verfahrensbevollmächtigten im Termin gemäß § 11 Satz 5 FamFG, § 87 Abs. 1 ZPO widerrufen und nach der Belehrung über sein Recht, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, erklärt hatte, er wolle einen Anwalt hinzuziehen, einen Freund um Rat fragen und die Benennung eines Rechtsanwalts nachholen, lag es nunmehr so, dass der Betroffene keinen Anwalt hatte und nach Belehrung keine eindeutige Erklärung abgab. Die protokollierte Erklärung kann nämlich entweder so zu verstehen sein, dass der Betroffene auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand bei der Anhörung verzichten und lediglich für den späteren Verfahrensverlauf einen Anwalt hinzuziehen wolle. Sie konnte aber auch bedeuten, dass der Betroffene eine Anhörung nur im Beisein eines Rechtsanwalts wünschte. Das hätte das Amtsgericht aufklären müssen. Es durfte nicht aus dem Umstand, dass der Betroffene weiter an der Anhörung mitwirkte, ohne weiteres auf einen Verzicht schließen. Wenn der Betroffene einen solchen nicht erklären wollte, hätte das Amtsgericht ihm Gelegenheit geben müssen, sich anwaltlichen Beistand zu suchen. Hätte der Betroffene danach einen Rechtsanwalt benannt, hätte dieser zum Termin hinzugezogen werden müssen. Wäre dies nicht möglich gewesen, hätte das Amtsgericht die Haft nicht endgültig, sondern nur im Wege einer einstweiligen Anordnung vor-läufig (§ 427 FamFG) anordnen dürfen (BGH, Beschlüsse vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 10; vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 123/19, InfAuslR 2021, 242 Rn. 12). Dabei hätte es - nachdem der Betroffene keinen zu seiner Vertretung im Anhörungstermin bereiten Rechtsanwalt hatte - die Dauer der einstweiligen Haft so bemessen dürfen, dass für die Suche eines zur Vertretung bereiten Rechtsanwalts ausreichend Gelegenheit bestand.

[15] (3) Nachdem das Amtsgericht den Willen des Betroffenen nicht aufgeklärt hat und daher offengeblieben ist, ob der Betroffene einen Anwalt zu seiner Anhörung hinzuziehen wollte, ist zur wirksamen Sicherung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren zu vermuten, dass ihm der Zugang zu einem Anwalt verwehrt wurde. Denn es ist nicht offensichtlich, dass der Betroffene, selbst wenn ihm das Amtsgericht bei der Anhörung hierzu Gelegenheit gegeben hätte, nicht in der Lage gewesen wäre, einen Anwalt zu finden, der bereit gewesen wäre, an einer Anhörung teilzunehmen. Das kann vor dem Hintergrund, dass Rechtsanwältin B. die beantragte Akteneinsicht nicht gewährt worden ist, auch nicht daraus abgeleitet werden, dass sie weder im Abhilfeverfahren noch im Beschwerdeverfahren die Durchführung einer erneuten Anhörung beantragt hat.

[16] (4) Der Einwand der beteiligten Behörde, in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem eine relativ kurze Haftdauer - hier von sechs Wochen und drei Tagen - angeordnet worden sei, sei nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen die Anordnung einer lediglich vorläufigen Freiheitsentziehung der Anordnung einer Haft in der Hauptsache im Hinblick auf die Wahrung der Interessen des Betroffenen vorzuziehen sei, greift nicht durch. Die beteiligte Behörde verkennt, dass eine rechtmäßige Haftanordnung im Hauptsacheverfahren dazu führt, dass eine erneute Anhörung nicht mehr durchzuführen ist, dem Betroffenen also der Beistand eines Rechtsanwalts in diesem Fall (endgültig) versagt würde. Entscheidet der Haftrichter dagegen nur für einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen vorläufig über eine Freiheitsentziehung, muss - sobald sich ein Rechtsanwalt bestellt und die Durchführung einer Anhörung beantragt hat - gemäß § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG erneut eine Anhörung stattfinden (Göbel in Keidel, FamFG, 20. Aufl., § 427 Rn. 4). Nur durch eine solche Verfahrensweise kann daher dem berechtigten Verlangen des Betroffenen nach der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts zur persönlichen Anhörung und damit dem Grundsatz des fairen Verfahrens hinreichend Rechnung getragen werden.

[17] cc) Dass dem Betroffenen ein Verfahrenspfleger (§ 418 Abs. 2, § 419 Abs. 1 FamFG) bestellt worden war, steht der Annahme eines Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens nicht entgegen. Rechtsstellung und Funktion eines Verfahrenspflegers unterscheiden sich grundlegend von derjenigen eines Verfahrensbevollmächtigten. Der Bestellung eines Verfahrenspflegers kommt in Freiheitsentziehungssachen Ausnahmecharakter zu und sie erfolgt unabhängig von den Wünschen des Betroffenen in der Regel nur dann, wenn die Fähigkeit des Betroffenen zur Wahrnehmung seiner Interessen - etwa aus gesundheitlichen Gründen - beeinträchtigt ist. Bloße sprachliche Verständigungsschwierigkeiten rechtfertigen eine Bestellung nicht. Die Aufgabe des Verfahrenspflegers besteht (lediglich) darin, die verfahrensmäßigen Rechte des Betroffenen zur Geltung zu bringen; dazu gehört insbesondere der Anspruch des Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs (BGH, Beschluss vom 26. September 2013 - V ZB 212/12, FGPrax 2014, 37 Rn. 9 ff.). Demgegenüber ist der Verfahrensbevollmächtigte der berufene unabhängige Berater und Vertreter des Betroffenen (§ 3 Abs. 1 BRAO, § 10 Abs. 2 Satz 1 FamFG), der seine (rechtlichen) Interessen vollumfänglich wahrzunehmen hat. Vor diesem Hintergrund kann die Bestellung eines Verfahrenspflegers die von dem Betroffenen gewünschte Hinzuziehung eines Rechtsanwalts von vornherein nicht ersetzen.

[18] c) Eine Heilung des Verfahrensfehlers - die mit Wirkung für die Zukunft möglich gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 25) - ist weder im Abhilfeverfahren noch in der Beschwerdeinstanz erfolgt. Bereits das Amtsgericht hätte den Betroffenen im Abhilfeverfahren - nach Gewährung von Akteneinsicht - unter Beiziehung seiner Rechtsanwältin erneut anhören müssen. Nachdem das nicht erfolgt war, hätte jedenfalls das Beschwerdegericht die Anhörung durchführen müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2017 - V ZB 167/16, juris Rn. 9). Wäre die Verfahrensbevollmächtigte B. zu einem anberaumten Termin nicht erschienen, hätte allerdings die Annahme nahegelegen, dass es dem Betroffenen nicht gelungen wäre, einen zur Teilnahme an einem Termin bereiten Rechtsanwalt zu finden.

[19] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, § 83 Abs. 2 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG. Im Hinblick auf den Kostenerstattungsanspruch des Betroffenen gegen den Landkreis Gifhorn hat sich sein Verfahrenskostenhilfeantrag erledigt (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2020 - XIII ZB 28/19, juris Rn. 13).

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