BGH, Beschluss vom 22. September 2022 - V ZB 22/21

06.12.2022

BUNDESGERICHTSHOF

vom

22. September 2022

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO § 148 Abs. 1; BGB § 883


Die in dem Rechtsstreit zwischen dem Gläubiger und dem ehemaligen Grundstückseigentümer als persönlichem Schuldner zu treffende Entscheidung, ob ein durch Vormerkung gesicherter Anspruch besteht, ist nicht vorgreiflich für den Prozess, in dem der Erwerber des Grundstücks den Gläubiger auf Löschung der Vormerkung in Anspruch nimmt.


BGH, Beschluss vom 22. September 2022 - V ZB 22/21 - LG Gießen, AG Alsfeld


Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. September 2022 durch die Richterin Dr. Brückner als Vorsitzende, die Richterin Haberkamp, die Richter Dr. Hamdorf und Dr. Malik und die Richterin Laube

beschlossen:

Auf die Rechtsmittel der Klägerin werden die Beschlüsse des Amtsgerichts Alsfeld vom 16. Dezember 2020 und des Landgerichts Gießen - 7. Zivilkammer - vom 30. März 2021 aufgehoben, soweit sie im Prozessrechtsverhältnis zu dem Beklagten zu 1 ergangen sind.

Die Sache wird insoweit zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Gründe:

[1] I. Die Klägerin erwarb 2018 ein Grundstück. Noch vor ihrer Eintragung als Eigentümerin wurde zugunsten des Beklagten zu 1 und des während des Rechtsbeschwerdeverfahrens verstorbenen Beklagten zu 2 als Gesamtberechtigte aufgrund einer einstweiligen Verfügung eine Vormerkung zur Sicherung eines Anspruchs auf Eintragung eines Nießbrauchs in das Grundbuch eingetragen. Die Klägerin nimmt die Beklagten vor dem Amtsgericht auf Zustimmung zur Löschung der Vormerkung mit der Begründung in Anspruch, sie habe das Grundeigentum gutgläubig lastenfrei erworben und zudem bestehe der gesicherte Anspruch nicht. Die Beklagten führen ihrerseits als Kläger einen Prozess gegen die Verkäuferin des Grundstücks vor dem Landgericht, in welchem sie deren Zustimmung zur Eintragung des Nießbrauchsrechts in das Grundbuch verlangen.

[2] Mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 hat das Amtsgericht das Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens vor dem Landgericht zur Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen ausgesetzt. Die sofortige Beschwerde der Klägerin gegen die Aussetzung hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.

[3] Der Beklagte zu 2, der Prozessbevollmächtigter des Beklagten zu 1 war und sich in dem Rechtsstreit zugleich selbst vertreten hat, ist am 23. Januar 2022 verstorben. Mit Beschluss vom 18. Juli 2022 hat der Senat deklaratorisch festgestellt, dass das gegen die Erben des Beklagten zu 2 geführte Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 239 Abs. 1 ZPO unterbrochen ist, während das gegen den Beklagten zu 1 geführte Rechtsbeschwerdeverfahren fortgeführt wird.

[4] II. Das Beschwerdegericht meint, eine Entscheidung im Verfahren vor dem Landgericht entfalte zwar keine Rechtskraftwirkung im Verhältnis zwischen den Parteien dieses Rechtsstreits. Eine Aussetzung komme auch nicht deshalb in Betracht, weil beide Prozesse auf demselben Rechtsverhältnis beruhten, das zwingend gegen alle Beteiligten einheitlich festgestellt werden müsste. Der Rechtsstreit vor dem Landgericht habe aber deshalb Auswirkungen auf den hiesigen Rechtsstreit, weil die Frage, ob ein Anspruch auf Eintragung des Nießbrauchs besteht, in beiden Verfahren unterschiedlich beurteilt werden könnte. Dies entspreche letztlich dem Ergebnis, das durch eine Aussetzung gemäß § 148 Abs. 1 ZPO vermieden werden solle, dass nämlich widerstreitende Entscheidungen zu unterschiedlichen praktischen Ergebnissen führten. Das Nießbrauchsrecht könne gegenüber allen an beiden Rechtsstreiten beteiligten Parteien nur einheitlich festgestellt werden. Da die Parteien des landgerichtlichen Verfahrens Gläubiger und Schuldner des gesicherten Anspruchs seien, sei es gemäß § 148 Abs. 1 ZPO wegen Vorgreiflichkeit des landgerichtlichen Verfahrens zulässig, das hiesige Verfahren auszusetzen. Ein Ermessensfehlgebrauch des Amtsgerichts sei nicht ersichtlich.

[5] III. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

[6] 1. Der Senat kann derzeit lediglich in dem von der Klägerin gegen den Beklagten zu 1 geführten Rechtsbeschwerdeverfahren eine Entscheidung treffen, da das gegen die Erben des verstorbenen Beklagten zu 2 geführte Rechtsbeschwerdeverfahren aus den Gründen des Senatsbeschlusses vom 14. Juli 2022 unterbrochen ist. Soweit das Verfahren nicht unterbrochen ist, ist die Rechtsbeschwerde der Klägerin aufgrund der Zulassung durch das Beschwerdegericht statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässig (§ 575 ZPO).

[7] 2. Das Rechtsmittel hat insoweit in der Sache Erfolg.

[8] a) Gemäß § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Vorgreiflichkeit ist insbesondere gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- bzw. Interventionswirkung erzeugt (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 - IX ZB 5/19, NJW-RR 2019, 1212 Rn. 7; Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/04, BGHZ 162, 373, 375). Der Umstand, dass in dem anderen Verfahren über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfertigt die Aussetzung der Verhandlung hingegen nicht. Andernfalls würde das aus dem Justizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigt. Eine Aussetzung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 - IX ZB 5/19, NJW-RR 2019, 1212 Rn. 7 mwN).

[9] b) Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Rechtsstreits nach § 148 Abs. 1 ZPO nicht vor.

[10] aa) Richtig ist zwar, dass eine Aussetzung nicht schon daran scheitert, dass es in beiden Prozessen nur um gemeinsame Vorfragen geht. Zwar wäre das Gericht des Zweitprozesses unter dieser Voraussetzung an die im ersten Prozess rechtskräftig ausgesprochene Rechtsfolge nicht gebunden (vgl. Senat, Urteil vom 9. Februar 2018 - V ZR 299/14, NJW 2019, 71 Rn. 20). Das ist hier aber nicht der Fall. Denn das Bestehen des vor dem Landgericht streitgegenständlichen, mit der Vormerkung gesicherten schuldrechtlichen Anspruchs ist zugleich Vorfrage in dem Prozess vor dem Amtsgericht. Gegenstand des von der Klägerin dort geltend gemachten Berichtigungsanspruchs ist die durch die i.S.v. § 894 Abs. 1 BGB unrichtige Eintragung in das Grundbuch entstandene Buchposition, deren Herausgabe oder Beseitigung der wahre Berechtigte von dem Buchberechtigten soll verlangen können (vgl. Senat, Urteil vom 9. Februar 2018 - V ZR 299/14, NJW 2019, 71 Rn. 21). Die Vormerkung wäre erloschen und das Grundbuch damit unrichtig, wenn der gesicherte Anspruch nicht bestünde (vgl. Senat, Urteil vom 14. Januar 2022 - V ZR 245/20, NJW 2022, 1167 Rn. 5 mwN). Infolgedessen hätte eine rechtskräftige Entscheidung über den gesicherten Anspruch präjudizielle Bedeutung für die Entscheidung über den Berichtigungsanspruch.

[11] bb) Das rechtfertigt aber nicht die Aussetzung, weil die Prozesse zwischen verschiedenen Parteien geführt werden. Die Klägerin ist als Erwerberin des Grundstücks nicht Partei des vor dem Landgericht geführten Prozesses. Ein Urteil entfaltet grundsätzlich nur im Verhältnis zwischen den Parteien des Rechtsstreits materielle Rechtskraft, so dass Dritte an den Inhalt des Urteils nicht gebunden sind (vgl. Senat, Urteil vom 11. März 1983 - V ZR 287/81, NJW 1984, 126, 127). Die in dem Rechtsstreit zwischen dem Gläubiger und dem ehemaligen Grundstückseigentümer als persönlichem Schuldner zu treffende Entscheidung, ob ein durch Vormerkung gesicherter Anspruch besteht, ist daher nicht vorgreiflich für den Prozess, in dem der Erwerber des Grundstücks den Gläubiger auf Löschung der Vormerkung in Anspruch nimmt (vgl. auch Senat, Urteil vom 2. Juli 2010 - V ZR 240/09, BGHZ 186, 130 Rn. 8). Einer der Ausnahmefälle, in denen das Gesetz die Rechtskraft auf Dritte erstreckt (vgl. hierzu BeckOK ZPO/Gruber, [1.7.2022], § 322 Rn. 30), liegt hier nicht vor.

[12] cc) Eine Aussetzung der Entscheidung des Rechtsstreits allein wegen der Gefahr widersprechender Entscheidungen bei der Beurteilung der Rechtsfrage, ob den Beklagten der mit der Vormerkung gesicherte Anspruch zusteht, ist entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht zulässig, da angesichts des Justizgewährleistungsanspruchs der Parteien reine Zweckmäßigkeitserwägungen hierfür nicht genügen. Der Gefahr widersprechender Entscheidungen kann mangels Rechtskrafterstreckung durch eine Aussetzung ohnehin nicht zuverlässig begegnet werden. Beide Gerichte sind verpflichtet, den jeweils anhängigen Rechtsstreit selbstständig und nach eigener Überzeugung zu entscheiden (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2019 - IX ZB 5/19, NJW-RR 2019, 1212 Rn. 11). Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass die jeweiligen Parteien in beiden Verfahren voneinander abweichenden Sachvortrag halten, so dass auch deshalb nicht hinreichend sicher eine übereinstimmende Beurteilung der Rechtsfrage zu erwarten ist, ob den Beklagten ein Anspruch auf Eintragung eines Nießbrauchsrechts zusteht.

[13] dd) Dass das Bestehen des gesicherten Anspruchs auch im Verfahren vor dem Landgericht geklärt werden muss, rechtfertigt schließlich keine Aussetzung der Entscheidung des Rechtsstreits aus Gründen der Prozessökonomie. § 148 ZPO enthält keine allgemeine Ermächtigung, die Verhandlung eines Rechtsstreits zur Abwendung einer vermeidbaren Mehrbelastung des Gerichts auszusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2006 - IV ZB 36/03, BeckRS 2006, 2593 Rn. 2; Beschluss vom 30. März 2005 - X ZB 26/07, BGHZ 162, 373, 376).

[14] IV. 1. Die Entscheidung ist nach alledem aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO), wobei die Zurückverweisung an das Gericht erster Instanz erfolgt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 22. Juli 2004 - IX ZB 161/03, BGHZ 160, 176, 185).

[15] 2. Eine Kostenentscheidung ergeht nicht. Die Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfahrens bilden einen Teil der Kosten des Rechtsstreits, die unabhängig vom Ausgang des Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahrens die nach §§ 91 ff. ZPO in der Sache unterliegende Partei zu tragen

hat (vgl. BGH, Beschluss vom 9. März 2021 - II ZB 16/20, NJW-RR 2021, 638 Rn. 23; Beschluss vom 25. Juli 2019 - I ZB 82/18, NJW-RR 2020, 98 Rn. 46; Beschluss vom 30. November 2010 - XI ZB 23/10, NJW-RR 2011, 327 Rn. 18).

Brückner Haberkamp Hamdorf

Malik Laube

Verlagsadresse

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG

Aachener Straße 222

50931 Köln

Postanschrift

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG

Postfach 27 01 25

50508 Köln

Kontakt

T (0221) 400 88-99

F (0221) 400 88-77

info@rws-verlag.de

© 2024 RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG

Erweiterte Suche

Seminare

Rubriken

Veranstaltungsarten

Zeitraum

Bücher

Rechtsgebiete

Reihen



Zeitschriften

Aktuell