BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - EnVR 6/20

07.06.2021

BUNDESGERICHTSHOF

Verkündet am:

23. Februar 2021

AndererJustizangestellteals Urkundsbeamtinder Geschäftsstelle

in der energiewirtschaftsrechtlichen Verwaltungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


StromNEV 2009 § 19 Abs. 2 Satz 2 und 3


a) Bei der Ermittlung individueller Netzentgelte nach der Methode des physikalischen Pfads kann eine Erzeugungsanlage im Ausland nicht berücksichtigt werden.

b) Die Frage, ob eine Grenzkuppelstelle geeigneter Endpunkt eines physikalischen Pfads sein kann, betrifft die Methodik zur Ermittlung des Beitrags des Letztverbrauchers zur Netzstabilität; sie wird von dem Ermessens- und Beurteilungsspielraum umfasst, über den die Bundesnetzagentur bei der Festlegung einer bestimmten Berechnungsmethode verfügt.

c) Es ist nicht zu beanstanden, wenn bei einem über ein ausländisches Netz versorgten Bandlastverbraucher für die Berechnung des physikalischen Pfads nicht die Strecke bis zur nächstgelegenen Grenzkuppelstelle, sondern die Strecke bis zum nächstgelegenen Netzknotenpunkt zuzüglich der allgemeinen Netzentgelte der vorgelagerten Netzebene angesetzt wird.


BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - EnVR 6/20 - OLG Düsseldorf


Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2021 durch den Richter Prof. Dr. Kirchhoff als Vorsitzenden, den Richter Dr. Schoppmeyer, die Richterin Dr. Roloff, den Richter Dr. Tolkmitt und die Richterin Dr. Rombach

beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 3. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27. November 2019 wird auf Kosten der Antragstellerin, die auch die notwendigen Auslagen der Bundesnetzagentur zu tragen hat, zurückgewiesen.

Gründe:

[1] A. Die Antragstellerin und die Bundesnetzagentur streiten darüber, in welchem Umfang die Antragstellerin für die Jahre 2012 und 2013 von Netzentgelten zu befreien ist.

[2] Die Antragstellerin betreibt an ihrer Abnahmestelle in Bad Reichenhall im unmittelbaren Grenzgebiet zu Österreich eine Saline. Die Saline ist auf der Netzebene Mittelspannung an das Umspannwerk Bad Reichenhall der Beteiligten angeschlossen, das über die Netzebene Hochspannung an das Umspannwerk Hirschloh angebunden ist. Hier betreibt die Beteiligte ein kleines Hochspannungsnetz, das vom Hochspannungsnetz des österreichischen Netzbetreibers abzweigt und über die deutsch-österreichische Grenze in unmittelbarer Nähe zum Umspannwerk Hirschloh auf deutscher Seite verläuft. Zum Hochspannungsnetz der Beteiligten südlich und östlich des Chiemsees besteht keine physikalische Verbindung.

[3] Die Rechtsvorgängerin der Antragstellerin wies an ihrer Abnahmestelle einen Stromverbrauch von mehr als zehn Gigawattstunden und eine jährliche Benutzungsstundenzahl von mindestens 7.000 Stunden auf. Sie wurde daher ab dem Jahr 2011 gemäß § 19 Abs. 2 StromNEV in der Fassung vom 4. August 2011 (im Folgenden: StromNEV 2011) von der Zahlung von Netzentgelten befreit.

[4] Mit Beschluss (EU) 2019/56 vom 28. Mai 2018 über

die staatliche Beihilfe SA.34045 Deutschlands für Bandlastverbraucher nach § 19 StromNEV (im Folgenden: Kommissionsbeschluss) stellte die Europäische Kommission (im Folgenden: Kommission) fest, dass die auf Grundlage des § 19 Abs. 2 StromNEV 2011 für die Jahre 2012 und 2013 gewährten vollständigen Entgeltbefreiungen als rechtswidrige staatliche Beihilfen anzusehen und zurückzufordern seien. Daraufhin nahm die Bundesnetzagentur mit Bescheid vom 25. September 2018 die Befreiung von den Netzentgelten in dem Umfang zurück, in dem die Antragstellerin ohne die vollständige Befreiung in den Jahren 2012 und 2013 individuelle Netzentgelte hätte zahlen müssen (Ausspruch 1). Den der Rücknahme unterliegenden Betrag setzte sie auf 1.086.132,45 € nebst Zinsen fest (Ausspruch 2). Er setzt sich aus den Kosten des physikalischen Pfads bis zum Umspannwerk Bad Reichenhall als nahegelegenem Netzknotenpunkt, Kosten für Verlustenergie und den allgemeinen Netzentgelten für das vorgelagerte Hochspannungsnetz der Beteiligten zusammen.

[5] Mit der dagegen gerichteten Beschwerde hat die Antragstellerin beantragt, Ausspruch 2 hinsichtlich der Festsetzung des der Rücknahme unterliegenden Betrags aufzuheben und die Bundesnetzagentur zu verpflichten, diesen Betrag auf 350.297,48 € nebst Zinsen (entsprechend 20 % der in den Jahren 2012 und 2013 veröffentlichten allgemeinen Netzentgelte) festzusetzen, hilfsweise den der Rücknahme unterliegenden Betrag neu zu bestimmen. Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Begehren weiter. Die Bundesnetzagentur tritt dem Rechtsmittel entgegen.

[6] B. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

[7] I. Das Beschwerdegericht (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. November 2019 - VI-3 Kart 868/18, juris) hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:

[8] Die Rückforderungsbeträge seien auf der Basis des vor der Einführung der unionsrechtswidrigen Netzentgeltbefreiung in Deutschland geltenden Privilegierungsregimes zu ermitteln. Maßgeblich für die Bestimmung des Rückforderungsbetrages sei das individuelle Netzentgelt, das die Antragstellerin gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 und 3 StromNEV in der Fassung vom 21. August 2009 (im Folgenden: StromNEV 2009) hätte zahlen müssen. Grundsätzlich solle der Betrag des individuellen Netzentgelts den Beitrag des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten widerspiegeln, wobei § 19 Abs. 2 StromNEV in jeder Fassung offenlasse, mit welcher Methode dies zu ermitteln sei. Im Streitfall habe die Bundesnetzagentur den Rückforderungsbetrag unter Wahrung des ihr insoweit zukommenden Beurteilungsspielraums zu Recht anhand der Methode des physikalischen Pfads berechnet. Dabei werde für die Berechnung eines individuellen Netzentgelts ausgehend vom betreffenden Netzanschlusspunkt des Letztverbrauchers eine fiktive Leitungsnutzung bis zu einer geeigneten Stromerzeugungsanlage auf bereits bestehenden Trassen berechnet. Die Differenz zwischen den Kosten dieser fiktiven Leitungsnutzung und den allgemeinen Netzentgelten stelle den Beitrag des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten der jeweiligen Netzebene dar. Diesem Konzept liege die Annahme zugrunde, dass stromintensive Unternehmen aus Gründen der Kostenersparnis erwägen könnten, aus der Netznutzergemeinschaft auszuscheiden und eine Direktleitung zum nächstgelegenen Grundlastkraftwerk zu errichten. Der Opportunitätskostenansatz quantifiziere somit die individuelle Bereitschaft, weiterhin einen Beitrag zur Netzstabilität zu leisten.

[9] Rechtsfehlerfrei habe die Bundesnetzagentur den physikalischen Pfad von der Saline bis zum Umspannwerk Bad Reichenhall als Netzknotenpunkt gebildet und den Rückforderungsbetrag unter Ansatz der Kosten des vorgelagerten Hochspannungsnetzes der Beteiligten festgesetzt. Weder auf deutscher noch auf österreichischer Seite befinde sich eine als Schlusspunkt des physikalischen Pfads geeignete Erzeugungsanlage. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin komme auch die Bildung eines physikalischen Pfads bis zur nächstgelegenen deutsch-österreichischen Grenzkuppelstelle nicht in Betracht. Dabei würde die Antragstellerin im Vergleich zu anderen Letztverbrauchern, bei denen ebenfalls eine geeignete Erzeugungsanlage für eine fiktive Direktleitungsnutzung auf bestehenden Trassen nicht existiere, ohne Grund bessergestellt. Zwar entnehme die Antragstellerin Strom aus einem Mittelspannungsnetz, das nur mit einem kleinen Hochspannungsteilnetz der Beteiligten, nicht aber mit deren übrigen Hochspannungsnetz verbunden sei. Allerdings habe dieser Umstand auf die Berechnung des für die vorgelagerte Netzebene zu erhebenden und in Ansatz zu bringenden Netzentgelts außer Betracht zu bleiben. Im nationalen Netzentgeltsystem werde nicht zwischen Teilnetzen auf gleicher Spannungsebene unterschieden, sondern es werde ein einheitliches Netzentgelt für die gesamte Netzebene erhoben.

[10] Es sei auch nicht zu beanstanden, dass die Bundesnetzagentur für die Ermittlung des Rückforderungsbetrags nicht auf die Übergangsregelung des § 32 Abs. 7 i.V.m. § 19 Abs. 2 Satz 2 und 3 StromNEV in der Fassung vom 14. August 2013 (im Folgenden: StromNEV 2013) zurückgegriffen habe. Danach zahlten Letztverbraucher, die für das Jahr 2011 noch keine Entgeltbefreiung erhalten hätten, für die Jahre 2012 und 2013 auf höchstens 20 % der allgemeinen Netzentgelte gedeckelte Entgelte. Die Kommission habe aber ausdrücklich auf die Methode des physikalischen Pfads abgestellt. Diese Vorgabe erfülle ein Rückgriff auf die Übergangsregelung nicht. Durch die von der Kommission angeordnete Rückforderungspraxis ergebe sich auch keine ungerechtfertigte Schlechterstellung der ursprünglich vollständig befreiten und nunmehr einer Rückforderung für die Jahre 2012 und 2013 ausgesetzten Letztverbraucher.

[11] II. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.

[12] Die Antragstellerin wendet sich nicht dagegen, dass die Bundesnetzagentur gemäß Art. 3 Abs. 1 des Kommissionsbeschlusses die zu ihren Gunsten mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 genehmigte Befreiung von den Netzentgelten gemäß § 48 VwVfG in dem Umfang zurückgenommen hat, in dem sie in den Jahren 2012 und 2013 ohne die vollständige Befreiung individuelle Netzentgelte hätte zahlen müssen (Ausspruch 1 des angegriffenen Beschlusses). Die von der Rechtsbeschwerde im Hinblick auf den Umfang der Rückforderung (Ausspruch 2 des Beschlusses) erhobenen Rügen greifen nicht durch.

[13] 1. Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, die Rückforderung habe auf der Grundlage von § 32 Abs. 7 i.V.m. § 19 Abs. 2 Satz 2 und 3 StromNEV 2013 zu erfolgen und sei nach dieser Regelung auf ein (pauschales) individuelles Netzentgelt von 20 % des allgemeinen Netzentgelts zu beschränken. Zu Recht geht das Beschwerdegericht davon aus, dass für die Rückforderung die Rechtslage maßgeblich ist, die vor der Einführung der von der Kommission als rechtswidrig erklärten Beihilfe gegolten hat.

[14] a) Der Mitgliedstaat, an den ein Rückforderungsbeschluss der Kommission wegen rechtswidriger und mit dem Binnenmarkt unvereinbarer Beihilfen gerichtet ist, hat alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung der Entscheidung sicherzustellen, Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Beihilfeverfahrens-VO. An einen Mitgliedstaat gerichtete Entscheidungen sind für alle Organe des jeweiligen Staates, einschließlich seiner Gerichte, verbindlich (st. Rspr., EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2002 - C-209/00, ZIP 2003, 18 Rn. 31 - Kommission/Deutschland; Urteil vom 26. Juni 2003 - C-404/00, Slg. 2003, I-06695 Rn. 21 - Kommission/Spanien; Urteil vom 13. Februar 2014 - C-69/13, RIW 2014, 298 Rn. 23 - Mediaset SpA/Ministero dello Sviluppo Economico). Dabei dient die Verpflichtung des Mitgliedstaats, eine von der Kommission als unvereinbar mit dem Binnenmarkt angesehene Beihilfe aufzuheben, der Wiederherstellung der früheren Lage (st. Rspr., EuGH, Urteil vom 4. April 1995 - C-348/93, Slg. 1995, I-673 Rn. 26 mwN - Kommission/Italien; EuGH, Urteil vom 20. März 1997 - C-24/95, NJW 1998, 47, 48 Rn. 23 - Rheinland-Pfalz/Alcan Deutschland; Urteil vom 12. Oktober 2000 - C-480/98, ZIP 2000, 1938 Rn. 35 - Spanien/Kommission).

[15] b) Nach diesen Grundsätzen bestimmt sich der Umfang der Rückforderung nach § 19 Abs. 2 StromNEV 2009 und der von der Bundesnetzagentur angewandten Methode des physikalischen Pfads gemäß dem "Leitfaden zur Genehmigung individueller Netzentgeltvereinbarungen nach § 19 Abs. 2 Satz 1 und 2 StromNEV ab 2011" vom 26. Oktober 2010 (abrufbar unter: www.bundesnetzagentur.de; im Folgenden: Leitfaden 2010). Die Anwendung von § 32 Abs. 7 i.V.m. § 19 Abs. 2 Satz 2 und 3 StromNEV 2013 reicht dagegen nicht aus, um die Verpflichtung zur Rückforderung durch Wiederherstellung der früheren Lage zu erfüllen.

[16] aa) Gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 des Kommissionsbeschlusses i.V.m. den Erwägungsgründen 217 und 225 bis 227 ist die von Deutschland in den Jahren 2012 und 2013 rechtswidrig gewährte staatliche Beihilfe zurückzufordern, soweit Bandlastverbraucher von Netzentgelten befreit worden sind, die den von ihnen verursachten Netzkosten entsprachen, oder, wenn die Netzkosten unter dem Mindestentgelt von 20 % des veröffentlichten Netzentgelts lagen, soweit sie von diesem Mindestentgelt befreit wurden.

[17] Als Bandlastverbraucher bezeichnet der Kommissionsbeschluss dabei die nach § 19 Abs. 2 StromNEV (in jeder Fassung) durch die Möglichkeit der Vereinbarung eines individuellen Netzentgelts privilegierten Netznutzer mit einer jährlichen Stromabnahme von mindestens 7.000 Benutzungsstunden und mehr als 10 Gigawattstunden (Kommissionsbeschluss, Erwägungsgrund 17). Grund für ihre Privilegierung ist der Umstand, dass sie durch ihr Nutzungsverhalten zur Netzstabilität beitragen. Sie sollen daher einerseits durch die Ermäßigung belohnt und andererseits veranlasst werden, am Netz der allgemeinen Versorgung angeschlossen zu bleiben (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016 - EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 21 - Festlegung individueller Netzentgelte; Beschluss vom 13. Dezember 2016 - EnVR 38/15, RdE 2017, 185 Rn. 17 - Individuelles Netzentgelt II; Beschluss vom 17. Juli 2018 - EnVR 12/17, RdE 2018, 531 Rn. 29 - Bemessungsspielraum bei Berechnungen zur Höhe des individuellen Netzentgelts).

[18] bb) Nach § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV 2009 wie auch erneut in der ab dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung von § 19 Abs. 2 Satz 4 StromNEV hat das Bandlastverbrauchern anzubietende individuelle Netzentgelt ihren Beitrag zu einer Senkung oder Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten widerzuspiegeln. Um diesen Beitrag zu ermitteln, verwendet die Bundesnetzagentur die Methode des physikalischen Pfads (vgl. Leitfaden 2010, S. 16-19 unter 1.3.2.2., sowie später auch die "Festlegung hinsichtlich der sachgerechten Ermittlung individueller Netzentgelte nach § 29 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EnWG i.V.m. § 19 Abs. 2 StromNEV und § 30 Abs. 2 Nr. 7 StromNEV" vom 11. Dezember 2013 abrufbar unter: www.bundesnetzagentur.de; im Folgenden: Festlegung 2013). Ausgehend vom betreffenden Netzanschlusspunkt des Letztverbrauchers wird eine fiktive Leitungsnutzung bis zu einer geeigneten Stromerzeugungsanlage auf bereits bestehenden Trassen berechnet. Diese von der Bundesnetzagentur gewählte Berechnungsmethode ist eine geeignete, transparente, auf einer nachprüfbaren und gesicherten Tatsachengrundlage stehende und nachvollziehbare Methode, um den nachhaltigen Beitrag des einzelnen Großverbrauchers zu den Netzentgelten verursachungsgerecht abzubilden und sachgerecht zu monetarisieren (vgl. BGH, RdE 2017, 187 Rn. 13 ff., 34 - Festlegung individueller Netzentgelte; vgl. auch BGH, RdE 2018, 531 Rn. 26 ff. - Bemessungsspielraum bei Berechnungen zur Höhe des individuellen Netzentgelts).

[19] cc) Demgegenüber enthält die erst nach dem Einleitungsbeschluss der Kommission im Beihilfeverfahren vom 6. März 2013 (Kommissionsbeschluss, Erwägungsgrund 2) erlassene und lediglich im Zeitraum vom 22. August bis zum 31. Dezember 2013 übergangsweise geltende Vorschrift des § 19 Abs. 2

StromNEV 2013, deren Anwendung die Rechtsbeschwerde gemäß § 32 Abs. 7 StromNEV 2013 für geboten hält, keine Regelung dahin, dass das Bandlastverbrauchern anzubietende individuelle Netzentgelt ihren Beitrag zu einer Senkung oder Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten widerzuspiegeln habe. Das individuelle Netzentgelt beträgt danach gestaffelt nach Benutzungsstunden 10 %, 15 % oder 20 % des allgemeinen Netzentgelts. Da es nach § 19 Abs. 2 StromNEV 2013 folglich nicht darauf ankommt, welche Netzkosten unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten des einzelnen Bandlastverbrauchers angefallen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016 - EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 25 - Festlegung individueller Netzentgelte; Festlegung 2013, S. 39, 2. Absatz aE), reicht die Rückforderung auf der Grundlage dieser Vorschrift schon nicht aus, um den Kommissionsbeschluss umzusetzen. Auch der wiederherzustellenden, vor Einführung der rechtswidrigen staatlichen Beihilfe geltenden Rechtslage entspricht die Vorschrift wie gezeigt nicht.

c) Unbehelflich ist vor diesem Hintergrund die Rüge der Rechtsbeschwerde, die Rückforderung in Anwendung von § 19 Abs. 2 StromNEV 2009 verstoße gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), weil die Antragstellerin schlechter gestellt werde als diejenigen Bandlastverbraucher, die auf der Grundlage von § 32 Abs. 7 Satz 1 StromNEV i.V.m. § 19 Abs. 2 StromNEV 2013 in den Jahren 2012 bis 2013 lediglich ein pauschales individuelles Netzentgelt hätten zahlen müssen. Die Rechtsbeschwerde zeigt schon nicht auf, dass die Bundesnetzagentur bei der Rückforderung der Beihilfen auf der Grundlage des Kommissionsbeschlusses gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen und gleiche Sachverhalte ungleich behandelt hätte. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von dem Anwendungsfall des § 32 Abs. 7 Satz 1 StromNEV i.V.m. § 19 Abs. 2 StromNEV 2013 dadurch, dass der Antragstellerin eine (vollständige) Befreiung gewährt wurde, die als rechtswidrige staatliche Beihilfe nach Art. 108 Abs. 3 AEUV zurückzufordern ist. Wegen der Bindungswirkung des Kommissionsbeschlusses für die nationalen Gerichte könnte eine etwaige Ungleichbehandlung allenfalls in einem gegen den Kommissionsbeschluss gerichteten Verfahren vor den Unionsgerichten gerügt werden, wie es vorliegend auch beim Gericht der Europäischen Union anhängig ist (Rechtssache T-229/19). Einen entsprechenden Änderungsvorbehalt im Hinblick auf die unionsrechtliche Klage hat die Bundesnetzagentur in Ausspruch 3 des angegriffenen Bescheids aufgenommen.

[20] 21

2. Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde auch dagegen, dass das Beschwerdegericht die Ermittlung der Höhe der Rückforderung durch die Bundesnetzagentur für zutreffend gehalten hat.

[22] a) Der vorliegende Sachverhalt ist dadurch gekennzeichnet, dass es der Antragstellerin - anders als es in aller Regel auch bei grenznah angesiedelten Bandlastverbrauchern der Fall sein wird - nicht möglich ist, einen physikalischen Pfad zu einer geeigneten inländischen Erzeugungsanlage zu bilden, weil sie über ein nur mit einem ausländischen Netz verbundenes kleines Hochspannungsnetz der Beteiligten versorgt wird.

[23] b) Ein grenzüberschreitender physikalischer Pfad zu einer Erzeugungsanlage im Ausland kann jedoch bei der im Rahmen von § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV 2009 vorzunehmenden Ermittlung individueller Netzentgelte schon aus Rechtsgründen nicht gebildet werden. Das Regulierungsregime für die Netzentgelte ist und war in dem hier maßgeblichen Zeitraum auf Unionsebene nicht vereinheitlicht (vgl. Erwägungsgründe 8 ff. der Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU, ABL. L 158 S. 125). Insbesondere entscheiden die Mitgliedstaaten autonom darüber, ob und in welcher Weise sie Großverbrauchern Netzentgeltermäßigungen gewähren wollen. Ist eine solche Ermäßigung - wie in Deutschland - vorgesehen und wird sie mit einer netzstabilisierenden Wirkung begründet, kann dabei nur das inländische Netz in Betracht genommen werden. Aus der Ermäßigung folgende Mindereinnahmen können allein durch die inländischen Netznutzer ausgeglichen werden (vgl. für den hier maßgeblichen Zeitraum § 19 Abs. 2, §§ 4 bis 14 StromNEV 2009, § 21 Abs. 2, §§ 21a, 24 Satz 1 EnWG 2011). Das schließt es aus, bei der Abschätzung des Beitrags der Antragstellerin zu einer Senkung oder Vermeidung der Erhöhung der (inländischen) Netzkosten (§ 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV 2009) die Kosten eines ausländischen Netzes einzubeziehen. Im Übrigen scheitert die Einbeziehung ausländischer Erzeugungsanlagen in den physikalischen Pfad jedenfalls im vorliegenden Fall auch bereits an der von Beschwerdegericht und Bundesnetzagentur festgestellten fehlenden Verfügbarkeit der dafür erforderlichen Daten; eine Ermäßigung für Bandlastverbraucher kennt das österreichische Regulierungsregime nicht.

c) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, dass das Beschwerdegericht der Ansicht der Bundesnetzagentur gefolgt ist, für die Berechnung im Rahmen der Methode des physikalischen Pfads sei nicht nur die Strecke bis zur nächstgelegenen deutsch-österreichischen Grenzkuppelstelle, sondern die Strecke bis zum nächstgelegenen Netzknotenpunkt (Umspannwerk Bad Reichenhall) unter zusätzlichem Ansatz der allgemeinen Netzentgelte der vorgelagerten Netzebene maßgeblich.

[24] 25

aa) Die Frage, ob eine Grenzkuppelstelle geeigneter Endpunkt eines physikalischen Pfads sein kann, betrifft die Methodik bei der Ermittlung des Beitrags des Letztverbrauchers zur Senkung oder Vermeidung der Netzkosten. Sie wird deshalb von dem Ermessens- und Beurteilungsspielraum umfasst, über den die Bundesnetzagentur bei der Festlegung einer bestimmten Berechnungsmethode verfügt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016, EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 12 - Festlegung individueller Netzentgelte; Beschluss vom 17. Juli 2018 - EnVR 12/17, RdE 2018, 531 Rn. 24 - Bemessungsspielraum bei Berechnungen zur Höhe des individuellen Netzentgelts). Die Abschätzung des individuellen Beitrags der Antragstellerin zur Netzstabilität ist daher als rechtmäßig anzusehen, wenn die Bundesnetzagentur von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist und darauf eine in fehlerfreier Ausfüllung ihres Beurteilungsspielraums gewählte Berechnungsmethode korrekt angewandt hat. Davon ist das Beschwerdegericht ausgegangen und hat einen Rechtsfehler der Bundesnetzagentur verneint. Diese Beurteilung des Beschwerdegerichts kann in der Rechtsbeschwerdeinstanz nur eingeschränkt überprüft werden. Lediglich wenn die ihr zugrundeliegende Würdigung unvollständig oder widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt, darf das Rechtsbeschwerdegericht diese Wertung beanstanden (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 17. Juli 2018 - EnVR 12/17, RdE 2018, 531 Rn. 28). Ein solcher Fehler wird von der Rechtsbeschwerde nicht aufgezeigt und ist auch im Übrigen nicht erkennbar.

[26] bb) Die Bundesnetzagentur hat ausweislich des angegriffenen Bescheids die besondere Anschlusssituation der Antragstellerin erkannt und ist daher - was die Rechtsbeschwerde nicht in Frage stellt - von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen.

[27] cc) Soweit die Rechtsbeschwerde rügt, es werde der Antragstellerin entgegen den Vorgaben von § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV 2009 und der Festlegung 2013 verwehrt, selbst festzulegen, bis zu welchem Netzknotenpunkt sie den physikalischen Pfad bilden wolle, zeigt sie keinen nach den obigen Maßgaben erheblichen Fehler auf.

[28] (1) Die Bundesnetzagentur berücksichtigt bei der von ihr vorgenommenen Abschätzung den Beitrag des Bandlastverbrauchers zur Kostensenkung und Kostenvermeidung auch in den vorgelagerten Netz- und Umspannebenen (vgl. Festlegung 2013, S. 42). Sie gesteht den in einer nachgelagerten Netzebene angeschlossenen Bandlastverbrauchern abweichend von der üblichen Berechnungsmethode (Bildung eines physikalischen Pfads bis zur nächstgelegenen geeigneten Erzeugungsanlage) die Möglichkeit zu, für die Berechnung des physikalischen Pfads lediglich die Strecke vom Netzanschlusspunkt des Letztverbrauchers zu einem vom Letztverbraucher zu bestimmenden Netzknotenpunkt zugrunde zu legen und im Übrigen die allgemeinen Netzentgelte der vorgelagerten Netz- und Umspannebene (sogenannte Netzbriefmarke) anzusetzen, sofern das Ergebnis im Vergleich zu dem physikalischen Pfad bis zu einem Grundlastkraftwerk günstiger sein sollte (Leitfaden 2010 S. 26; vgl. auch Festlegung 2013 S. 6, 7). Diese Art der Berechnung setzt mithin voraus, dass ein physikalischer Pfad zu einer geeigneten Erzeugungsanlage gebildet werden könnte, dies für den Bandlastverbraucher aber ungünstiger ist als der Ansatz der allgemeinen Netzentgelte der vorgelagerten Netzebene.

[29] (2) So liegt es hier aufgrund der besonderen Anschlusssituation der Antragstellerin aber nicht, weil es - wie o. Rn. 22 ausgeführt - keine inländische Erzeugungsanlage gibt, zu der ein physikalischer Pfad gebildet werden könnte. Die Ansicht der Bundesnetzagentur und die ihr folgende Würdigung des Beschwerdegerichts, dass die von der Antragstellerin gewünschte Berechnung bis zur Grenzkuppelstelle angesichts dieser besonderen Situation zu einem mit dem Sinn und Zweck der Berechnungsmethode des physikalischen Pfads nicht zu vereinbarenden und die Antragstellerin insoweit sachwidrig bevorzugenden Ergebnis führen würde, ist nicht zu beanstanden. Durch die Bildung eines physikalischen Pfads bis zur Grenze ohne Ansatz der Kosten der vorgelagerten Netzebene würde zugunsten der Antragstellerin entgegen den tatsächlichen Verhältnissen eine geeignete Erzeugungsanlage direkt an der Grenzkuppelstelle fingiert. Die Antragstellerin würde (wirtschaftlich) besser behandelt, als es angesichts ihrer Anschlusssituation gerechtfertigt wäre. Die Bundesnetzagentur war aber nicht verpflichtet, bei ihrer Schätzung eine tatsächlich nicht vorhandene Erzeugungsanlage zugrunde zu legen.

[30] dd) Soweit die Rechtsbeschwerde in diesem Zusammenhang geltend macht, die Antragstellerin leiste im Hinblick darauf, dass ihr Gesamtstromverbrauch (wohl) über dem Gesamtstromverbrauch aller Einwohner von Bad Reichenhall liege, einen ganz erheblichen Beitrag zur Stabilität des Netzes der allgemeinen Versorgung bis zur Grenzkuppelstelle, stellt sie die Würdigung des Beschwerdegerichts nicht in Frage. Sie beschreibt lediglich die Anschlusssituation eines Bandlastverbrauchers im ländlichen Raum, die aber tendenziell zu einem geringeren Beitrag zur Netzstabilität führt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2016 - EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 25, 34 - Festlegung individueller Netzentgelte sowie Festlegung 2013, S. 39).

[31] d) Unbehelflich ist der Einwand der Rechtsbeschwerde, die Bundesnetzagentur habe bei der Ermittlung des individuellen Netzentgelts gegen Art. 28, 30 AEUV verstoßen und eine Abgabe mit zollgleicher Wirkung erhoben.

[32] aa) Zwar kann ein Tarifaufschlag oder eine andere finanzielle Belastung, die auf Elektrizität aufgrund ihres Grenzübertritts erhoben wird, eine Abgabe im Sinne von Art. 28 AEUV (vormals Art. 25 EGV) darstellen, wenn sie die Ware selbst trifft (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Juli 2008 - C-206/06, Slg. 2008,

I-5497 Rn. 43 f., 49 - Essent Netwerk Noord u.a.; Urteil vom 6. Dezember 2018 - C-305/17, juris Rn. 29 ff. - FENS; vgl. auch EuGH, Urteil vom 28. März 2019 - C-405/16, EWeRK 2019, 92 Rn. 68, 71 - Deutschland/Kommission). So liegt es hier aber nicht. Die Bundesnetzagentur erhebt keine Abgabe, die die von der Antragstellerin bezogene Elektrizität aufgrund ihres Grenzübertritts belastet. Eingeführte Elektrizität und im Inland produzierte Elektrizität werden bei der Schätzung aufgrund der Methode des physikalischen Pfads unmittelbar und mittelbar gleichbehandelt; eingeführter Strom wird durch sie also nicht verteuert.

[33] bb) Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst. Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung von Art. 28, 30 AEUV, die nicht bereits durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs geklärt oder nicht zweifelsfrei zu beantworten ist (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81, NJW 1983, 1257, 1258 - C.I.L.F.I.T.; Urteil vom 1. Oktober 2015 - C-452/14, GRUR Int. 2015, 1152 Rn. 43 - Doc Generici, mwN).

[34] III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 90 EnWG.

Kirchhoff Schoppmeyer Roloff

Tolkmitt Rombach

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