BGH, Beschluss vom 27. September 2022 - VI ZR 68/21

06.12.2022

BUNDESGERICHTSHOF

vom

27. September 2022

in dem Rechtsstreit


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


ZPO § 110


a) In einer höheren Instanz ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist.

b) Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955.

c) Zur Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit Art. 32, 38 ff. des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007.


BGH, Beschluss vom 27. September 2022 - VI ZR 68/21 - OLG Nürnberg, LG Nürnberg-Fürth


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. September 2022 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen von Pentz und Dr. Oehler und die Richter Dr. Klein und Böhm

beschlossen:

Der Antrag der Beklagten auf Anordnung einer durch den Kläger zu erbringenden Prozesskostensicherheit wird zurückgewiesen.

Gründe:

[1] I. Der Kläger, der jedenfalls bis Ende des Jahres 2020 im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (im Folgenden: Vereinigtes Königreich) lebte, nimmt die Beklagten auf Schadensersatz im Zusammenhang mit der Veröffentlichung eines Zeitungsartikels in Anspruch. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom 3. Februar 2021 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers.

[2] Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde haben die Beklagten vor dem Hintergrund, dass das Vereinigte Königreich seit dem 1. Januar 2021 nicht mehr als Mitglied der Europäischen Union zu behandeln ist, die Anordnung einer Prozesskostensicherheit gemäß § 110 Abs. 1 ZPO für die Kosten aller Instanzen beantragt. Der Kläger rügt den Antrag als verspätet. Er macht darüber hinaus geltend, gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung befreit zu sein, da er seinen Wohnsitz zum 1. Januar 2021 in die Schweiz verlegt habe.

[3] II. Dem Antrag der Beklagten bleibt der Erfolg versagt. Er war durch Beschluss zurückzuweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 2011 - I ZR 57/10, juris; zum Antrag auf Anordnung einer ergänzenden Prozesskostensicherheit gem. § 112 Abs. 3 ZPO: BGH, Beschlüsse vom 23. Juli 2020 - I ZR 9/20, juris Rn. 3 und vom 23. Oktober 2018 - XI ZR 549/17, WM 2018, 2242 Rn. 5).

[4] 1. Das erstmals im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemachte Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit ist verspätet (§ 565 Satz 1, § 532 Satz 2 ZPO).

[5] a) Die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung für die Prozesskosten gehört zu den die Zulässigkeit der Klage betreffenden verzichtbaren Rügen, die grundsätzlich vor der ersten Verhandlung zur Hauptsache, und zwar für alle Rechtszüge, erhoben werden muss (§ 532 Satz 2, § 282 Abs. 3 ZPO; BGH, Beschlüsse vom 23. September 2021 - I ZB 21/21, WM 2021, 2295 Rn. 19; vom 1. März 2021 - X ZR 54/19, juris Rn. 9; vom 19. Juli 2007 - IX ZR 150/05, juris Rn. 9; Urteil vom 15. Mai 2001 - XI ZR 243/00, NJW 2001, 3630, juris Rn. 7). Gemäß § 111 ZPO kann der Beklagte allerdings auch dann wegen der Prozesskosten Sicherheit verlangen, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung erst im Laufe des Rechtsstreits eintreten und nicht ein zur Deckung ausreichender Teil des erhobenen Anspruchs unbestritten ist. Da über die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung nur einmal und nicht in jeder Instanz erneut entschieden werden soll, ist die Einrede der mangelnden Sicherheitsleistung in einer höheren Instanz nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für die Sicherheitsleistung erst in dieser Instanz eingetreten sind oder wenn die Einrede in den Vorinstanzen ohne Verschulden nicht erhoben worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. September 2021 - I ZB 21/21, WM 2021, 2295 Rn. 19; vom 1. März 2021 - X ZR 54/19, juris Rn. 9; vom 19. Juli 2007 - IX ZR 150/05 Rn. 9; Urteil vom 15. Mai 2001 - XI ZR 243/00, NJW 2001, 3630, juris Rn. 7).

[6] b) Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

[7] aa) Wie die Beklagten nicht in Zweifel ziehen, trat der Umstand, auf den sie ihr Verlangen nach einer Prozesskostensicherheit stützen, bereits in der Berufungsinstanz ein. Die Übergangszeit nach Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft vom 24. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29 vom 31. Januar 2020, S. 7 ff. - im Folgenden: Austrittsabkommen), während derer das Vereinigte Königreich nach seinem Austritt aus der Europäischen Union gemäß § 1 BrexitÜG noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist am 31. Dezember 2020 abgelaufen. Das Berufungsverfahren ist aber erst mit Erlass des Beschlusses des Berufungsgerichts vom 3. Februar 2021 abgeschlossen worden. Bis zum Erlass dieses Beschlusses eingehende Schriftsätze hätte das Berufungsgericht zur Kenntnis nehmen und seinen Inhalt angesichts der oben dargestellten Rechtsprechung sowie der Bestimmung in § 111 ZPO berücksichtigen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2016 - V ZR 3/16, ZMR 2017, 74 Rn. 12 f.). Dem steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt des Ablaufs der Übergangszeit keine den Beklagten gesetzte Frist lief und im Berufungsverfahren nicht mündlich verhandelt worden ist. Maßgeblich ist allein, dass der behauptete Zulässigkeitsmangel bereits in der Berufungsinstanz bestand (vgl. Rimmelspacher in MüKo-ZPO, 6. Aufl. 2020, § 532 Rn. 13; Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 532 Rn. 3).

[8] bb) Die Beklagten haben auch keine Entschuldigungsgründe für die Versäumung des Antrags im Berufungsverfahren vorgebracht. Dass der Antrag nur mit einer "geringfügigen" Verzögerung von weniger als vier Monaten gestellt worden ist, ist - anders als die Beklagten meinen - ohne Bedeutung. Entscheidend ist, dass er nicht - wie geboten - in der Berufungsinstanz, sondern erst in der Revisionsinstanz gestellt worden ist.

[9] 2. Abgesehen davon liegen die Voraussetzungen des § 110 ZPO für die Anordnung einer Prozesskostensicherheit nicht vor; dies gilt unabhängig von der Frage, ob der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Vereinigten Königreich (dazu nachstehend a) oder, wie von ihm geltend gemacht, mittlerweile in der Schweiz (dazu nachstehend b) hat.

[10] a) Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Vereinigten Königreich, sind die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO zwar erfüllt. Denn das Vereinigte Königreich ist am 31. Januar 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten; die Übergangszeit nach Art. 126 des Austrittsabkommens, innerhalb derer das Vereinigte Königreich nach § 1 BrexitÜG noch zur Anwendung nationaler Rechtsvorschriften als Mitgliedstaat fingiert wurde, ist abgelaufen.

[11] Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit Art. 9 Abs.1 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (BGBl. II 1959 S. 998), das für das Vereinigte Königreich am 14. Oktober 1969 in Kraft getreten ist (BGBl. II 1970 S. 843), von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit (vgl. Schütze in Wieczorek/Schütze, ZPO, § 110 Rn. 48, 54; OLG Koblenz RIW 1990, 753 zu § 110 ZPO in der bis zum 30. September 1998 geltenden Fassung vom 1. Januar 1964). Das Abkommen gilt für alle natürlichen Personen, die die Staatsangehörigkeit eines der Vertragsstaaten besitzen (Art. 30 Abs.1 iVm Art. 9 Abs. 1 des Europäischen Niederlassungsabkommens). Da die Befreiung von der Pflicht zur Sicherheitsleistung in § 110 Abs. 2 Nr. 1 ZPO - anders als in der bis zum 30. September 1998 geltenden Fassung - nicht von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 13. Dezember 2000 - VIII ZR 260/99, NJW 2001, 1219, juris Rn. 7), wirkt sich der von der Regierung des Vereinigten Königreichs zu Art. 9 des Abkommens erklärte Vorbehalt, die Absätze 1 und 2 so anzuwenden, als seien die Worte "oder keinen Wohnsitz oder Aufenthalt im Inland" im Absatz 1 nicht enthalten (vgl. BGBl. II 1970 S. 843), nicht aus (vgl. Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, S. 1437, 1442 [(Anhang: Hinweise zur Befreiung von der Verpflichtung zur Sicherheitsleistung für die Prozesskosten (§ 110 II Nr. 1 und 2 ZPO) und zur Verbürgung der Gegenseitigkeit (§ 328 I Nr. 5 ZPO bzw. § 109 IV FamFG)]).

[12] b) Hat der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz, gilt im Ergebnis nichts Anderes. Dann sind zwar die Voraussetzungen des § 110 Abs. 1 ZPO ebenfalls erfüllt, da es sich bei der Schweiz weder um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union noch um einen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum handelt.

[13] Der Kläger ist in diesem Fall aber gemäß § 110 Abs. 2 Nr. 2 ZPO von der Verpflichtung zur Leistung einer Prozesskostensicherheit befreit. Die Entscheidung über die Erstattung der Prozesskosten der Beklagten würde, wie in dieser Bestimmung vorausgesetzt, auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrags - des Luganer Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 30. Oktober 2007 (LugÜ II, Abl. L 147 vom 10. Juni 2009 S. 5, ABl. L 138 vom 26. Mai 2011 S. 1) - in der Schweiz vollstreckt. Dieses Übereinkommen sichert auch die Wirkungserstreckung von Kostentiteln; gemäß Artikel 32 LugÜ II ist unter "Entscheidung" im Sinne des Übereinkommens, die nach dessen Art. 38 ff. zu vollstrecken ist, auch der Kostenfestsetzungsbeschluss eines Gerichtsbediensteten zu verstehen (vgl. Gottwald in Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, Ausländer als Verfahrensbeteiligte, Rn. 5.97, 5.115 sowie BGH, Urteil vom 13. Dezember 2000 - VIII ZR 260/99, NJW 2001, 1219, juris Rn. 13; Schütze, RIW 1999, 10, 14; jeweils zum Luganer Übereinkommen vom 16. September 1988).

Seiters von Pentz Oehler

Klein Böhm

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