BGH, Beschluss vom 3. Februar 2021 - XII ZB 415/20

06.04.2021

BUNDESGERICHTSHOF

vom

3. Februar 2021

in der Betreuungssache


Nachschlagewerk: ja


BGHZ: nein

BGHR: ja


FamFG § 278 Abs. 1


Ist dem Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 21. November 2018 ­ XII ZB 57/18 ­ FamRZ 2019, 387).


BGH, Beschluss vom 3. Februar 2021 - XII ZB 415/20 - LG Potsdam, AG Potsdam


Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. Februar 2021 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Nedden-Boeger, Dr. Botur und Guhling

beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 26. August 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe:

[1] I. Der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt P. hat durch Schreiben vom 12. März 2020 eine rechtliche Betreuung für die Betroffene angeregt. Das Amtsgericht hat nach Einholung eines Berichts der Betreuungsbehörde und Verwertung eines nervenärztlichen Attestes mit Beschluss vom 30. März 2020 für die Betroffene eine Betreuung für den Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung und Wohnungsangelegenheiten eingerichtet, die Überprüfungsfrist auf den 30. März 2021 festgesetzt und den Beteiligten zu 1 zum Betreuer sowie die Beteiligte zu 2 zur Verfahrenspflegerin bestellt. Gegen die Einrichtung der Betreuung haben sich die Betroffene und die Verfahrenspflegerin mit ihren Beschwerden gewendet. Das Amtsgericht, dessen erste Nichtabhilfeentscheidung vom 29. April 2020 durch das Landgericht aufgehoben worden war, hat im folgenden Abhilfeverfahren ein am 15. Juni 2020 erstattetes Sachverständigengutachten eingeholt und die Betroffene in Gegenwart des Betreuers und der Verfahrenspflegerin am 17. August 2020 angehört. Es hat durch Beschluss vom gleichen Tage die Abhilfe erneut abgelehnt, die "Betreuung verlängert" und eine neue Überprüfungsfrist auf den 17. August 2023 festgesetzt. Das Landgericht hat die Beschwerden durch Beschluss vom 26. August 2020 zurückgewiesen.

[2] Mit ihrer dagegen gerichteten Rechtsbeschwerde erstrebt die Betroffene weiterhin die vollständige Aufhebung ihrer Betreuung.

[3] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde, dass die Beschwerdeentscheidung verfahrensfehlerhaft ergangen ist. Das Beschwerdegericht hätte die Betroffene erneut anhören müssen.

[4] 1. Nach § 278 Abs. 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Die Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Betreuungsverfahren die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits durch das Gericht des ersten Rechtszugs ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und von einer erneuten Anhörung im Beschwerdeverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl. Senatsbeschluss vom 4. November 2020 ­ XII ZB 220/20 ­ NJW-RR 2021, 1 Rn. 7 mwN).

[5] 2. Gemessen daran durfte das Beschwerdegericht nicht von der persönlichen Anhörung der Betroffenen absehen.

[6] a) Das Amtsgericht hat die Betroffene vor Erlass seines Betreuungsbeschlusses nicht persönlich angehört. Die Voraussetzungen des § 278 Abs. 4 FamFG iVm § 34 Abs. 2 FamFG, unter denen im Hinblick auf die Corona-Pandemie aus Gründen des Infektionsschutzes ganz ausnahmsweise von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nach Maßgabe des § 278 Abs. 1 FamFG abgesehen werden kann (vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 4. November 2020 ­ XII ZB 220/20 ­ NJW-RR 2021, 1 Rn. 11 ff. und vom 14. Oktober 2020 ­ XII ZB 235/20 ­ FamRZ 2021, 138 Rn. 26 ff.), lagen offensichtlich nicht vor. Das Unterbleiben der Anhörung war daher verfahrensfehlerhaft.

[7] b) Es kann dahinstehen, ob dieser Verfahrensmangel durch die von dem Amtsgericht im Abhilfeverfahren am 17. August 2020 durchgeführte Anhörung geheilt werden konnte (vgl. Senatsbeschluss vom 30. September 2020 ­ XII ZB 327/20 ­ FamRZ 2021, 144 Rn. 7 ff.). Denn eine solche Heilung würde jedenfalls voraussetzen, dass die Anhörung im Abhilfeverfahren ihrerseits ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften durchgeführt worden wäre. Auch insoweit war das Verfahren des Amtsgerichts aber fehlerhaft, weil es ­ wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt ­ die Betroffene angehört hat, ohne ihr vorher das Sachverständigengutachten vom 15. Juni 2020 überlassen zu haben.

[8] aa) Einer der Zwecke der persönlichen Anhörung gemäß § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG besteht darin, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG zu sichern. Diesen Zweck kann die Anhörung regelmäßig nur dann erfüllen, wenn das Sachverständigengutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen wurde, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern. Von der Bekanntgabe des Gutachtens kann entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG nur dann abgesehen werden, wenn nach ärztlichem Zeugnis zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde, und zusätzlich die Erwartung gerechtfertigt ist, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht. Liegen die Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG dagegen nicht vor und wird die Anhörung durchgeführt, ohne dass das Gutachten dem Betroffenen zuvor rechtzeitig ausgehändigt worden ist, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel (vgl. Senatsbeschlüsse vom 21. November 2018 ­ XII ZB 57/18 ­ FamRZ 2019, 387 Rn. 6 ff. und vom 15. August 2018 ­ XII ZB 10/18 ­ FamRZ 2018, 1770 Rn. 15 f.).

[9] bb) Der Sachverständige hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass keine Einwände dagegen bestünden, der Betroffenen die Entscheidung und ihre Gründe mitzuteilen. Obwohl die Voraussetzungen des § 288 Abs. 1 FamFG hiernach nicht vorgelegen haben, hat das Amtsgericht nach Aktenlage verfügt, dass das Gutachten nur dem Betreuer und der Verfahrenspflegerin mit der Ladung zum Anhörungstermin zu übermitteln sei. Die bei den Akten befindliche Abschrift der an die Betroffene gerichteten Terminsladung vom 18. Juni 2020 enthält ­ anders als beim Betreuer und bei der Verfahrenspflegerin ­ keinen Hinweis darauf, dass das Gutachten der Terminsladung beigefügt gewesen sein könnte. Auch das Protokoll der Anhörung vom 17. August 2020 lässt nicht erkennen, dass der Inhalt des Gutachtens der Betroffenen bekannt gewesen und mit ihr erörtert worden war.

[10] 3. Die angefochtene Entscheidung kann daher keinen Bestand haben. Sie ist gemäß § 74 Abs. 5 FamFG aufzuheben und die Sache ist nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass es der ­ noch bei dem Beschwerdegericht anhängigen ­ Beschwerde der Verfahrenspflegerin vom 14. September 2020 gegen den (Nichtabhilfe-)Beschluss des Amtsgerichts vom 17. August 2020 an der Statthaftigkeit fehlen dürfte (vgl. Senatsbeschluss vom 26. August 2020 ­ XII ZB 243/19 ­ FamRZ 2020, 1941 Rn. 12).

[11] 4. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen.

Dose Schilling Nedden-Boeger

Botur Guhling

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